Margaret Weis Tracy Hickman Drachenwinter

Der Streitkolben

»Der Streitkolben von Kharas!«

Die triumphierende Ankündigung hallte in dem großen Empfangssaal des Königs der Bergzwerge wider. Stürmischer Applaus folgte. Die tiefen, dröhnenden Stimmen der Zwerge vermischten sich mit den etwas höheren der Menschen, als die riesigen Türen im hinteren Teil der Halle aufflogen und Elistan, Kleriker von Paladin, eintrat.

Die schalenförmige Halle, nach Zwergenmaßstäben riesig, war überfüllt. Fast alle achthundert Flüchtlinge aus Pax Tarkas standen an den Wänden aufgereiht, während die Zwerge dichtgedrängt auf Steinbänken saßen. Elistan erschien am Fuße eines langen, in der Mitte verlaufenden Durchgangs, den riesigen Kriegskolben hielt er ehrfürchtig in beiden Händen. Beim Anblick des weißgekleideten Klerikers wurden die Rufe noch lauter, der Lärm dröhnte gegen die gewölbte Decke und hallte durch den Saal, bis der Boden von den Schwingungen zu erbeben schien.

Tanis zuckte zusammen, sein Kopf dröhnte. Er erstickte fast in der Menge. Ihm war unter der Erde sowieso nicht wohl. Und trotz der hohen Decke, deren Spitze sich über das flackernde Fackellicht erhob und im Schatten verschwand, fühlte sich der Halb-Elf eingesperrt und gefangen.

»Ich bin froh, wenn das vorbei ist«, murmelte er Sturm zu, der neben ihm stand.

Sturm wirkte noch melancholischer und trübsinniger als er ohnehin war. »Mir gefällt das nicht, Tanis«, murrte er und kreuzte seine Arme über dem glänzenden Metall seines alten Brustpanzers.

»Ich weiß«, entgegnete Tanis wütend. »Das habe ich jetzt schon einige Male von dir gehört. Jetzt ist es zu spät. Es ist nicht mehr zu ändern, also mach das Beste daraus.«

Das Ende des Satzes verlor sich in erneutem schmetterndem Jubel, als Elistan den Streitkolben über seinen Kopf hob und der Menge zeigte, bevor er den Mittelgang entlangschritt. Tanis legte eine Hand an seine Stirn. Ihm wurde schwindelig, als sich die kühle unterirdische Höhle vom Brodem der Menschenmenge langsam erwärmte. Nun ging Elistan den Mittelgang entlang. Auf einem Podest mitten in der Halle erhob sich Hornfell, Lehnsmann der Hylar-Zwerge, um ihn zu begrüßen. Hinter dem Zwerg befanden sich sieben verzierte Steinthrone, alle unbesetzt. Hornfell stand vor dem siebten Thron, es war der schönste von allen – der Thron für den König von Thorbardin. Er war lange leer gewesen, aber sobald Hornfell den Streitkolben von Kharas annehmen würde, würde er wieder besetzt sein. Die Rückkehr des uralten Relikts war ein großer Triumph für Hornfell. Der Besitz des begehrten Streitkolbens würde es ihm ermöglichen, die rivalisierenden Zwergen-Lehnsmänner unter seiner Führerschaft zu vereinen.

»Wir haben den Streitkolben erkämpft«, sagte Sturm leise, seine Augen waren auf die glänzende Waffe gerichtet. »Der legendäre Streitkolben von Kharas. Zum Schmieden der Drachenlanzen verwendet. Jahrhundertelang verloren geglaubt, wiedergefunden und wieder verloren. Und jetzt den Zwergen übergeben!« sagte er voller Abscheu.

»Er war schon einmal den Zwergen gegeben worden«, erinnerte Tanis ihn müde, der Schweiß lief an seiner Stirn herunter.

»Laß dir von Flint die Geschichte erzählen, falls du sie vergessen hast. Auf jeden Fall gehört ihnen der Streitkolben jetzt rechtmäßig.«

Elistan war am Fuß des Steinpodests angelangt, wo der Lehnsmann, in schwere Roben gekleidet und mit den bei den Zwergen beliebten massiven Goldketten geschmückt, ihn erwartete. Elistan kniete vor dem Podest nieder, eine höfliche Geste, da sonst der große, kräftige Kleriker dem Zwerg von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hätte, obwohl das Podest ungefähr zwei Meter hoch war. Die Zwerge jubelten stürmisch über diese Geste. Die Menschen wirkten, wie Tanis bemerkte, eher gedämpft, einige murrten, da es ihnen nicht behagte, ihren Führer in dieser unwürdigen Haltung zu sehen.

»Nimm dieses Geschenk unseres Volkes an...« Elistans Worte gingen in erneutem Jubelgeschrei der Zwerge unter.

»Geschenk!« schnaubte Sturm verächtlich. »Lösegeld wäre besser ausgedrückt.«

»Als Dank dafür, daß das Volk der Zwerge uns erlaubt, in seinem Königreich zu leben«, fuhr Elistan fort, als sich der Applaus gelegt hatte.

»Für das Recht, in einem Grab eingeschlossen zu sein...«, murrte Sturm.

»Und wir verpflichten uns, den Zwergen beizustehen, wenn der Krieg über uns kommen sollte!« rief Elistan.

Wieder rauschte der Jubel auf und wurde noch lauter, als Lehnsmann Hornfell sich vorbeugte, um den Streitkolben entgegenzunehmen. Die Zwerge stampften auf den Boden, pfiffen, kletterten auf die Steinbänke.

Tanis wurde übel. Er blickte sich um. Man würde sie nicht vermissen. Hornfell würde sprechen; dann kämen die anderen sechs Lehnsmänner an die Reihe, ganz zu schweigen von den Mitgliedern der Versammlung der Suchenden. Der Halb-Elf berührte Sturm am Arm und deutete dem Ritter an, ihm zu folgen. Die beiden verließen schweigend die Halle. Obwohl sie sich noch immer in der Zwergenstadt befanden, waren sie zumindest dem Lärm entronnen und draußen in der kühlen Abendluft.

»Geht es dir besser?« fragte Sturm, der Tanis' Blässe bemerkt hatte. Der Halb-Elf sog hastig die kühle Luft ein.

»Jetzt ja«, sagte Tanis und errötete wegen seiner Schwäche.

»Es lag an der Hitze... und dem Krach.«

»Nun, wir werden hier bald verschwinden«, sagte Sturm.

»Natürlich hängt es von der Entscheidung der Versammlung der Suchenden ab, ob sie uns nach Tarsis gehen lassen.«

»Oh, es besteht kein Zweifel, wie sie sich entscheiden werden«, antwortete Tanis schulterzuckend. »Elistan hat eindeutig das Sagen, schon deshalb, weil er die Leute in Sicherheit gebracht hat. Keiner der Sucherfürsten würde es wagen, sich ihm zu widersetzen. Nein, mein Freund, in vier Wochen vielleicht werden wir die Segel in einem der weißgeflügelten Boote von Tarsis, der Schönen, setzen.«

»Ohne den Streitkolben von Kharas«, fügte Sturm bitter hinzu. Leise begann er zu zitieren: »Und so wurde berichtet, daß die Ritter den goldenen Streitkolben nahmen, den vom großen Gott Paladin gesegneten Streitkolben, der Demjenigen mit dem Silberarm übergeben wurde, damit er die Drachenlanze von Huma, dem Drachenbändiger, schmieden konnte; und der Streitkolben wurde gegeben dem Zwerg, genannt Kharas, oder der Ritter, für seinen großen Mut und seine Tapferkeit in der Schlacht. Und so erhielt er seinen Namen. Und der Streitkolben von Kharas ging in das Zwergenkönigreich mit dem Versprechen der Zwerge, daß er wieder ans Tageslicht gebracht würde, wenn es notwendig...«

»Er wurde ans Tageslicht gebracht«, unterbrach Tanis ihn und versuchte, seinen aufsteigenden Zorn zu bekämpfen. Zu oft hatte er sich diese Worte schon anhören müssen.

»Er würde ans Tageslicht gebracht, und er wird verborgen bleiben! Wir hätten den Streitkolben nach Solamnia bringen können, um unsere eigenen Drachenlanzen zu schmieden...«

»Und du würdest dann ein zweiter Huma werden, in den Ruhm reitend, mit der Drachenlanze in der Hand!« Tanis konnte nicht mehr an sich halten. »In der Zwischenzeit läßt du achthundert Menschen sterben...«

»Nein, ich würde sie nicht sterben lassen!« schrie Sturm in rasender Wut. »Der erste Anhaltspunkt, den wir zu den Drachenlanzen haben, und du verkaufst ihn für...«

Beide Männer hörten abrupt zu streiten auf, als sie eine Gestalt bemerkten, die aus den dunklen Schatten kroch.

»Shirak«, flüsterte eine Stimme, und ein helles Licht erstrahlte, das von einer Kristallkugel ausging, die sich in der goldenen Drachenklaue auf der Spitze eines einfachen Holzstabes befand. Das Licht beleuchtete die rote Robe eines Magiers, sein skelettartiges Gesicht mit der glänzend goldmetallischen Haut. Der junge Magier ging auf die beiden zu. Seine Augen funkelten golden.

»Raistlin«, sagte Tanis mit angespannter Stimme. »Ist etwas?«

Raistlin schienen die wütenden Blicke der Männer nicht zu stören; er war es gewöhnt, daß sich nur wenige in seiner Gegenwart wohl fühlten oder ihn brauchten. Er streckte seine dünne Hand aus und sprach: »Akular-alan suh Tagolann Jistrathar.« Tanis und Sturm beobachteten erstaunt, wie das blasse Bild einer Waffe an Deutlichkeit gewann.

Es handelte sich um eine fast neun Meter lange Lanze. Die Spitze war aus purem Silber und mit einem Widerhaken versehen, der Schaft war aus poliertem Holz. Das untere Ende besaß eine Stahlkappe, um es in den Boden stoßen zu können.

»Sie ist wunderschön!« keuchte Tanis. »Was ist das?«

»Eine Drachenlanze«, antwortete Raistlin.

Der Magier hielt die Lanze in seiner Hand und trat zwischen die beiden, die zur Seite wichen, als ob sie nicht von ihm berührt werden wollten. Ihre Augen hingen an der Lanze. Dann drehte sich Raistlin zu Sturm und reichte ihm die Waffe.

»Es ist deine Drachenlanze, Ritter«, zischte Raistlin, »ohne Streitkolben und ohne Silberarm. Wenn du mit ihr in den Ruhm reiten willst, wirst du dann daran denken, daß für Huma mit dem Ruhm der Tod kam?«

Sturms Augen blitzten auf. Er hielt vor Ehrfurcht den Atem an, als er die Drachenlanze nehmen wollte. Zu seiner Verwunderung griff seine Hand durch die Waffe hindurch! Die Drachenlanze verschwand, noch während er sie zu berühren versuchte.

»Wieder einer deiner Tricks!« knurrte er. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging vor Wut keuchend von dannen.

»Wenn das ein Scherz sein sollte, Raistlin«, sagte Tanis ruhig, »dann war es ein sehr schlechter.«

»Ein Scherz?« wisperte der Magier. Seine seltsamen goldenen Augen folgten dem Ritter, als Sturm in die dichte Schwärze der Zwergenstadt am Fuße des Gebirges schritt. »Du solltest mich besser kennen, Tanis.«

Der Magier lachte – ein unheimliches Lachen, das Tanis zuvor nur einmal gehört hatte. Dann verbeugte Raistlin sich sardonisch vor dem Halb-Elf und folgte dem Ritter in die Schatten.

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