8

Ich ging langsam zum Tarnstall.

Jede Minute zählte. Ich trug nun das Blau von Cos, Uniform und Helm eines Angehörigen von Artemidorus’ Kompanie. Ich hatte die Sachen von dem Haken im Bad entwendet.

Ich klopfte gegen das Tor des Tarnstalls.

Das Bündel befand sich auf meinem Rücken.

In dem Stall war nur ein Tarn, offensichtlich der Vogel eines Kriegers.

Aus einer Hütte neben dem Stall kam ein Stallbursche.

Von links fuhr ein Wagen vorbei. In dieser Richtung lagen die Tharlarionställe. Es waren schon viele Leute auf den Beinen. Ich blickte in die Höhe, hinauf zu dem Turm, der das Tarnfeuer beherbergte. Es war natürlich nicht entzündet. Das Tor, vor dem ich stand, befand sich auf der rechten Seite des Herbergsgeländes. Näherte man sich der Herberge aus der Luft, auf dem Rücken eines Tarns, stand das Tor auf der linken Seite.

»Mach den Vogel bereit!« befahl ich.

Der Stallbursche schien kurz zu zögern; er betrachtete meine Aufmachung, das cosische Blau, die Feldzeichen von Artemidorus’ Söldnerkompanie, den Helm, vor allem die Waffen. Denn ich trug zwei Schwerter.

«Sofort!« sagte ich.

Er eilte zurück in die Hütte, wo zweifellos die Ausrüstung des Kriegers verstaut war, der Sattel, das Tarngeschirr und was man sonst noch brauchte. Ich glaube, der Stallbursche wollte vermeiden, einen Angehörigen von Artemidorus’ Kompanie länger als nötig aufzuhalten. Vielleicht hatte er es zu seinem Schaden schon einmal getan.

Ich blickte zum Haupthaus zurück. Alles schien seinen normalen Gang zu gehen.

Das große Schild, das an dem waagerechten Balken von seinen Ketten hing, schwankte nicht. Einige Wagen fuhren ab. Nach dem Regen roch die Welt frisch und sauber. Auf dem Steinboden des Hofes standen Pfützen.

Der Stallbursche kam aus der Hütte. Er hatte sich Sattel, Satteltuch und den Rest der Ausrüstung auf die Schulter geladen.

»Das Tarntor steht offen, nehme ich an?« sagte ich.

»Ja.«

»Gut.«

Offensichtlich hatte ich es eilig. Er war ohne Zweifel an ungeduldige Gäste gewöhnt. Es hätte ihn jedoch überrascht, wie eilig ich es tatsächlich hatte.

Er betrat den Stall, um den Vogel bereitzumachen.

Ich ging um Stall und Anbau herum, denn ich wollte mich überzeugen, daß das Tarntor tatsächlich offenstand. Es stand offen. Es war natürlich nicht wegen meiner Abreise geöffnet worden, sondern blieb den Tag über für Neuankömmlinge offenstehen. Die beiden Flügel schwangen nach innen auf und wurden an den Seiten der Landeplattform festgemacht, die die Palisade etwa einen halben Meter überragte. Die Plattform wies eine Verlängerung auf, die bei Toresschluß eingezogen werden konnte; mit Scharnieren befestigte senkrechte Stützpfeiler sorgten für Stabilität. Im Innern des Tarnstalls führte auf der rechten Seite eine Rampe zur Plattform. Die Torflügel waren sehr groß, jeder von ihnen wies eine Höhe von neun sowie eine Breite von siebeneinhalb Metern auf. Für ihre Größe sind sie allerdings recht leicht, da sie hauptsächlich aus mit Draht bespannten Rahmen bestehen. Obwohl diese Abmessungen gewöhnlichen Sattel- und Kriegstarns einen ungehinderten Einflug erlauben, werden meistens die Landeplattformen benutzt. Mit Tarnkörben ausgestattete Lasttarns landen natürlich immer darauf. Der Lasttarn vollführt eine flatternde Landung. Sobald er spürt, daß der Korb Bodenberührung bekommt, setzt er sich. Die schräge Rampe erleichtert es, den Tarnkorb auf seinen Lederkufen in den Hof zu transportieren. Passagiere genießen den gleichen Vorzug.

Nicht alle Tarntore sind derart beschaffen. Bei einer weitverbreiteten Bauweise hängen die Torflügel vor der Toröffnung. In Schienen eingepaßt schiebt man sie beiseite. Jedes Öffnen erweckt den Eindruck, als würde man ein Tor zum Himmel öffnen. Der dazugehörige Bau mit seinen Plattformen, Laufgängen und schiffs-mastähnlichen Balken ist sehr stabil. Die Laufgänge und Plattformen sind mit schmalen Leitern erreichbar. Diese Bauart verlangt von den Vögeln, daß sie für die Landung erst auf der Stelle schweben müssen, was sehr zeitaufwendig ist. Dafür ist die Landeplattform unnötig. Der Tarnstall im Krummen Tarn ähnelte insofern einem militärischen Stall, als er das schnelle Aufsteigen und die ebenso schnelle Rückkehr des Tarnsmanns zuließ – verbunden mit der Möglichkeit, das Tor innerhalb weniger Ihn zu öffnen und wieder zu schließen. Die Bauweise des Tarntors war ein deutlicher Hinweis, daß der Krumme Tarn möglicherweise nicht immer als Herberge gedient hatte. Vermutlich hatte das Areal vor der Gründung von Ar-Station als Garnison gedient, um den nördlicheren Teil der Vosk-Straße zu überwachen. Die Nähe zum Vosk war ein weiteres Indiz für diese Theorie, da der Fluß höchstens einhundert Pasang entfernt lag. Die normale Marschleistung eines goreanischen Fußsoldaten beträgt auf einer Militärstraße fünfunddreißig Pasang. Die Herberge Zum Krummen Tarn befand sich also genau drei Tagesmärsche vom Fluß entfernt.

Ich lockerte die Klinge in ihrer Scheide und kehrte zum Tarnstall zurück.

Der Tarn war bereit.

Er zerrte an einem Stück Tarskfleisch, das an einem Strick hing. Der Strick war fast sechs Zentimeter dick. Wie das Fleisch in der Luft schwebte, erinnerte mich an die Art und Weise, in der Bauersfrauen ihre Braten zubereiteten; sie banden sie an einem Bindfaden fest und ließen sie über dem Feuer baumeln, um ihnen dann gelegentlich einen Stoß zu versetzen. Durch das Umherbaumeln wird das Fleisch gleichmäßig gar, und zwar ohne ständige Aufsicht oder Umdrehen. Der Strick, der wie eine Bogensehne gespannt war, riß plötzlich eine Handbreit über dem Fleisch. Der Tarn packte es mit einer Klaue und schälte es vom Knochen. Ich wartete ab, bis der Vogel fertig war. Der Knochen lag zusammen mit den Resten des Stricks im Stroh. Er wies tiefe Furchen auf. Der Vogel stieß den Schnabel in einen hohen schmalen Behälter. Als nächstes würde er Wasser in den schrecklichen Rachen saugen und den Kopf in den Nacken legen. Dann würde er den Kopf schütteln, damit das Wasser schneller die Kehle hinunterlief.

Ich wartete geduldig ab. Schließlich führte der Stallbursche den Vogel die Rampe zur Landeplattform hinauf. Ich schloß mich den beiden an. Von hier oben konnte man Pasang weit in die umgebende Landschaft blicken. Die Luft war berauschend. Der Tarn war aufgeregt. Er öffnete die Flügel. Die Balken der Plattform waren ausgesprochen stabil. Der Stallbursche löste die fünfsprossige Strickleiter, mit deren Hilfe man in den Sattel steigt. Ich benutzte sie. Als ich im Sattel saß, legte ich den Sicherheitsgurt um und schnallte ihn fest.

Vor langer Zeit war ich in der Nähe von Ar sträflich nachlässig mit dem Gurt umgegangen. Nur ein glücklicher Zufall ließ mich überleben. Seitdem hatte ich diese Vorsichtsmaßnahme nur selten vernachlässigt. Ich mußte an Talena denken, die geschmeidige, sinnliche Tochter des Marlenus aus Ar mit der olivfarbenen Haut, die er verstoßen hatte, nachdem sie zu erkennen gab, daß sie eine Sklavin war. Nachdem Samos aus Port Kar sie als ihr neuer Besitzer in Ketten nach Ar zurückgebracht hatte, hatte Marlenus sie beschämt vor der Welt im Zentralzylinder verborgen und ihr die Freiheit zurückgegeben, ihr aber jeden Status verweigert. Nachdem er auf einer Strafexpedition gegen die Tarnsmänner von Treve in den Bergen der Voltai verschwunden war, hatte sich ihr Schicksal anscheinend gewandelt. Sie war bei öffentlichen Feiern aufgetreten. Man sah ihre Sänfte wieder auf der Straße. Zweifellos war sie wieder stolz und hochmütig geworden. Ich hatte in ihr keine Sklavin gesehen. Rask aus Treve und andere schon. Heute wäre ich vermutlich scharfsichtiger. Obwohl sie die Tochter eines Ubars gewesen und in Ar wieder zu hohem Ansehen gelangt war, war sie trotz allem nur eine Frau. Ich fragte mich, wie sie wohl aussähe, nackt und in Ketten, sich zu meinen Füßen windend, während sie versuchte, meine Aufmerksamkeit zu erwecken. Es war eine erfreuliche Vorstellung. Ich mußte daran denken, welche Verachtung sie mir in Port Kar entgegengebracht hatte, wie hochmütig und bösartig sie gewesen war; sie hatte sogar die Erinnerung an unsere Liebe in den Schmutz gezogen, während ich gelähmt im Stuhl gesessen hatte, unfähig zur geringsten Bewegung, ein Opfer von Sullius Maximus’ Gift. Vor der Herrschaft des Kapitänrates war er einst einer der fünf Ubars von Port Kar gewesen. Ich fragte mich, ob sie annahm, ich befände mich noch immer in Port Kar, ein Krüppel, der zusammengesunken in demselben Stuhl vor dem Kaminfeuer hockte. Aber ich war wieder vollständig gesundet, hatte in Torvaldsland sogar das Gegenmittel für das Gift gefunden. Allerdings war es möglich, daß Talena mich von ihrer Sänfte aus in Ar gesehen hatte. Am darauffolgenden Abend hatte man im Tunnel, einem von Ludmillas Freudenhäusern, einen Anschlag auf mein Leben verübt. In der Nähe von Brundisium hatte ich Beweise gefunden, daß sie sich des Verrats an Ar schuldig gemacht hatte.

Talena. Ja, wenn ich es mir richtig überlegte, so im nachhinein, hatte in ihr eine Sklavin gesteckt. Ja, sie hätte eine bemerkenswerte Sklavin abgegeben. Ich verdrängte sie aus meinen Gedanken.

Der Stallbursche sah auf. Auf dem Hof erscholl Lärm.

»Hier, mein Junge«, sagte ich.

»Vielen Dank, Tarnsmann!« rief er, da er nicht mit derartiger Dankbarkeit gerechnet hatte.

Ich konnte mir denken, was den Aufruhr ausgelöst hatte; es war Zeit, den Krummen Tarn zu verlassen.

»Du bist sehr freigiebig, Tarnsmann«, sagte der Stallbursche, der vor dem Vogel zurückwich. Es wäre nicht angenehm gewesen, von der Plattform fünfundzwanzig Meter in die Tiefe geschleudert zu werden, besonders dann, wenn man gerade einen ganzen Silbertarsk bekommen hatte. Eine solche Münze zu verteilen, war natürlich eine gewisse Prahlerei meinerseits. Andererseits würde ich sie nicht vermissen, da sie zu den Münzen aus dem Geldbeutel des Kriegers gehörte, dem Soldaten aus der Kompanie des Artemidorus.

Ich zog die Leiter hoch und machte sie am Sattel fest.

Die wütenden Rufe – beinahe schon ein Tumult – waren lauter geworden. Es mußten vier oder fünf Männer beteiligt sein. Falls ich mich nicht irrte, ertönten nun auch noch die Geräusche von Schlägen, gefolgt von Stöhnen und Schmerzlauten.

Ich rückte das Geschirr zurecht, zog an den Zügeln, und der Vogel schritt erwartungsvoll durch das Tarntor hindurch zum Vorderrand der Plattform. Von einer solchen Plattform schwingt sich der Vogel mit einem einzigen Flügelschlag in die Luft.

»Da unten ist ein Kerl«, sagte der Stallbursche. »Er ist nackt! Er kämpft!«

»Bemerkenswert«, sagte ich.

»Vermutlich hat er seine Rechnung nicht bezahlt und versucht zu fliehen«, vermutete der Stallbursche. Er schien es nicht eilig zu haben, nach unten zu eilen und in die Rauferei einzugreifen.

»Widerwärtig«, sagte ich.

Ich hatte meine Rechnung vor Verlassen der Herberge bezahlt, wie es sich gehörte. Wie sollte sie weiterhin bestehen, wenn keiner die Rechnung bezahlt? Man konnte nicht jeden Gast festhalten und die Zahlung eines Lösegeldes verlangen oder jede Lady auslösen lassen. Auch wenn sich nicht leugnen läßt, daß einige abgelegene goreanische Herbergen nichts anderes als Sklavenfallen sind, die gewöhnlich mit dem örtlichen Sklavenhändler zusammenarbeiten.

»Er scheint in diese Richtung zu kommen«, sagte der Stallbursche.

»Tatsächlich?«

Falls dieser Bursche tatsächlich versuchte, die Flucht zu ergreifen, ohne vorher die Rechnung zu bezahlen – und falls es sich tatsächlich so verhielt, hatte er eine seltsame Richtung eingeschlagen –, konnte ich es ihm kaum verübeln. Die Preise im Krummen Tarn waren in der Tat unverschämt. Zum Beispiel hatte sich meine Rechnung am Ende auf neunzehn Kupfertarsk belaufen, zusätzlich ein Tarskstück für die Dienste der Lady Temione.

Die, wenn man es recht bedachte, furchtbar hohe Rechnung hatte sich wie folgt zusammengesetzt: zehn Kupfertarsk für die Übernachtung, zwei für die Benutzung des Bades, zwei für Decken, fünf für Brot, Paga und Haferbrei sowie ein Tarskstück für Lady Temione, der einzige Posten auf der Rechnung, den man mit ein bißchen guten Willen als gerechtfertigt hätte bezeichnen können. Ich hatte am Morgen auf das Frühstück verzichtet, um Zeit zu sparen, aber es ist auch möglich, daß ich es aus gerechtem Protest über die Preise getan hatte. Glücklicherweise hatte ich ein paar Stücke getrocknetes Tarskfleisch in meinem Bündel.

»Und was tut unser Freund jetzt?« fragte ich.

»Er liegt am Boden! Sie haben ihn. Nein. Er ist wieder auf den Beinen!« berichtete der Stallbursche. »Ha! letzt haben sie ihn in Ketten gelegt!«

»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte ich zu dem Stallburschen. Ich hatte darüber nachgedacht, gegebenenfalls zu warten, für den Fall, daß es der Bursche bis zur Plattform schaffte, und dann abzufliegen, aber es schien nicht so, als sollte ihm dies gelingen. Zumindest nicht an diesem Morgen.

»Ich wünsche dir alles Gute!« rief der Stallbursche und hielt sich an einer Strebe des Tarntores fest.

Ich zog entschieden den einen Zügel zurück, und der Tarn kreischte auf, schlug die Luft mit seinen Schwingen und flog!

Jeder Reiter kennt das Hochgefühl, das von dem Ritt an sich, dem prächtigen Tier, seiner Kraft, seiner Geschwindigkeit und seiner Empfänglichkeit ausgeht; wie man sich an der Macht des Pferdes berauscht, seinen Atem, die Bewegungen seines Körpers und sogar das Auftreffen der Hufe auf dem Boden spürt. Es ist kein Wunder, daß die primitiven Stammesgesellschaften, denen das Pferd unbekannt war, vor Entsetzen flohen, als sie zum ersten Mal Reitern begegneten; sie hielten Reiter und Pferd für ein Wesen, je zur Hälfte Tier und zur Hälfte Mensch, eine ehrfurchtgebietende, unglaublich schnelle, riesige, bewaffnete Schimäre, vor der man nicht weglaufen konnte, die nur so über den Boden zu fliegen schien, ein unermüdliches, unwiderstehliches, gnadenloses und unbarmherziges Wesen, dem die Welt rechtmäßig zu gehören schien.

Diesen ersten, von Furcht geprägten Blicken sind möglicherweise auch die Geschichten über den Zentauren entsprungen, jene Kreatur, die halb Mann und halb Pferd ist. Zieht man die unberechenbare Weise in Betracht, in der halbvergessene historische Tatsachen die Phantasien zivilisierterer Zeiten beeinflussen, so ist es nicht unvorstellbar, daß die legendäre Natur dieses Wesens – seine Begierden, seine Gier und seine Macht – ihren Ursprung in jenem ersten Eindruck hatte, den der Reiter und sein Wesen in den Menschen hervorriefen, die sich zu Fuß bewegten. Und selbst in späteren Zeiten, als der Unterschied zwischen Pferd und Reiter deutlich wurde, nahm die Furcht vor dem Reiter und seinem Wesen keinesfalls ab. Glücklicherweise blieben die Reitervölker auf die Grenzen der Zivilisation beschränkt. Und dennoch, wie oft ritten sie einem Sturm gleich aus der Wüste heran – beispielsweise die Hyksos aus Ägypten – und führten ihre Pferde in die Getreidefelder. Das dem Reiter innewohnende Geheimnis wurde jahrhundertelang nicht in Frage gestellt. Erst Alexander sollte die Kavallerie zu einer entscheidenden Waffe schmieden. Jahrhunderte später zerstörten der Steigbügel und barbarische Lanzenträger die erfolgreichsten Kulturen der Welt. Das Wort Ritter bedeutet übrigens nichts anderes als Reiter.

Die Vorherrschaft der Kavallerie sollte bis zu den Revolutionen in der Infanterietaktik und der Geschoßtechnik ungebrochen bleiben, auf Dutzenden von Schlachtfeldern erprobte Dinge wie Lanzenwälle und befiederte Pfeile. Etwas Ähnliches wie das mit dem Reiten verbundene Glück und Geheimnis findet sich auch auf Gor, nur daß es hier mit dem Tarn und nicht mit dem Pferd verbunden ist. Wenn man beispielsweise die Begeisterung kennt, die mit den Bewegungen und der Kraft eines edlen Pferdes einhergeht, hat man eine gewisse Vorstellung davon, wie der Flug auf einem Tarnrücken ist. Da sind der Wind, das Tier zwischen den Schenkeln, die Geschwindigkeit, die nun in allen Dimensionen stattfindende Beweglichkeit: Aufsteigen, Sturzflug, Schweben, Wenden – alles in der Freiheit des Himmels! Die Verschmelzung von Mensch und Tier existiert auch hier. Es gibt sogar die Legende vom Tarntauros, eine Kreatur halb Mann, halb Tarn, die in der goreanischen Mythologie eine ähnliche oder beinahe entsprechende Rolle wie der Zentaur in den irdischen Sagen einnimmt. Den Tarnsmann umgibt auch etwas von dem Glanz, der mit dem irdischen Reiter verbunden ist, nicht zuletzt deshalb, weil die Technologiegesetze der Priesterkönige, der geheimnisvollen, im verborgenen handelnden Beherrscher von Gor, die Mechanisierung des Transportwesens ausschließen. Die Zusammengehörigkeit organischen Lebens, die in der Beziehung zwischen Mann und Reittier ihren Ausdruck findet, eine symbiotische Harmonie, bleibt auf Gor bestehen.

Ich flog!

Eine Zeitlang ließ ich dem Vogel seinen Willen; nachdem wir einige Pasang zurückgelegt hatten, ließ ich ihn einen großen Kreis beschreiben, dessen Mittelpunkt die sich tief unter uns befindliche Herberge war.

Wenn man das erste Mal ein neues Reittier besteigt oder – ein ähnlicher Fall – sich eine neue Frau gefügig macht, ist es angebracht, ihre Fähigkeiten und ihr Wesen auszuloten. Im Falle des Tarns kann das eigene Leben davon abhängen, daß man seine Schnelligkeit kennt, sein Steigvermögen, die Enge seiner Kurven und dergleichen mehr.

Der Vogel hielt sich prächtig in der Luft.

Er gewann an Höhe. Der Aufstieg verlief steil und schnell. Die Luft wurde kalt. Ein derartiges Manöver ist oft sehr nützlich. Es hatte mich mehr als einmal über meine Gegner getragen, deren Angriffsgeschwindigkeit eine schnelle Angleichung der Flugbahn verhinderte. Es dauerte ein paar Ehn, dann hatte ich die annähernde Flughöhe des Vogels in Erfahrung gebracht. Ich war weit vom Boden entfernt. Zu meiner Rechten schimmerte die Oberfläche eines Sees wie eine Pfütze. Ich hatte nicht einmal gewußt, daß es ihn gab. Tief unter mir, zur linken Hand, schlängelte sich die Vosk-Straße in der Sonne wie ein heller Strich über das Land. Ich zog am vierten Zügel, und der Tarn stieß jäh in die Tiefe. Das machte er sehr gut. Die Geschwindigkeit eines solchen Sturzfluges ist unglaublich. Selbst wenn er im letzten Augenblick aufgefangen wird, reicht die Wucht aus, das Rückgrat eines ausgewachsenen Tabuks zu brechen. Als wir noch etwa vierzig Meter vom Boden entfernt waren, zog ich an den Zügeln, und der Vogel ging in waagerechten Flug über und schwebte niedrig über dem Gras. Bei einem solchen Flug kann man die Deckung eines Waldes, niedriger Hügel oder sogar die von Gebäuden ausnutzen, um sich einem Ziel anzunähern. Natürlich vermindert der niedrige Flug im allgemeinen die Gefahr, gesehen zu werden.

Ich ließ den Tarn in die Nähe der Herberge zurückfliegen.

Dann flog ich dreimal über den Krummen Tarn hinweg, zweimal über die Palisade und den Tarndraht und einmal über Brücke und Tor.

Beim ersten Mal ließ ich den Tarn etwa vierzig Meter über dem Hofboden auf der Stelle schweben, ein Stück links hinter dem Hauptgebäude. Dort hockte ein großer, nackter, muskulöser, bärtiger Mann; er war mit starken Ketten an einen Sleenring gekettet, dessen Platte in den Felsen eingelassen worden war. Hand- und Fußgelenke waren ziemlich dicht an den Ring gefesselt. Es war der Krieger aus der Kompanie des Artemidorus. Er hatte wohl nicht die Mittel gehabt, um die Rechnung zu bezahlen. Als er mich sah, wurde er plötzlich ganz aufgeregt. Allerdings konnte er kaum mehr tun als in die Hocke zu gehen, sich gegen den Ring zu stemmen und den Kopf in den Nacken zu legen. Er kreischte etwas, das ich allerdings nicht verstehen konnte. Vielleicht war es auch besser so. Ich winkte ihm fröhlich mit der Kuriertasche zu, bevor ich weiterflog. Er schien nicht besonders darüber erfreut zu sein, wie sich die Ereignisse entwickelt hatten. Und wenn ich ehrlich war, konnte ich es ihm nicht einmal verübeln.

Beim zweiten Überflug machte ich vor dem linken Gebäude halt. Dort hatten die Ketten die erfreuliche Bekanntschaft der hübschen Gefangenen gemacht, deren Namen, wie ich von Lady Temione im Pagaraum erfahren hatte, Rimice, Klio und Liomache lauteten; sie stammten aus Cos, Elene und Tyros. Dann war da noch Amina gewesen, die Bürgerin aus Venna. Die Ketten waren nun leer. Ich hatte mir am frühen Morgen die Freiheit genommen, sie durch meinen Beauftragten, einen prächtigen, wenn auch etwas zu duldsamen und kleinmütigen Burschen namens Ephialtes, einen Marketender, auslösen zu lassen. Die fünf Frauen hatten mich einhundertzweiundachtzig K.T. gekostet, was eine gewaltige Lücke in meinem Anteil an der Beute von Androns Bande gerissen hatte.

Zweifellos waren sie zuerst begeistert gewesen, daß ihre Schulden bezahlt worden waren. Sie hatten bestimmt gelacht und vor Freude in die Hände geklatscht. Aber ihre Begeisterung hatte dann ein jähes Ende gefunden, als sie erlebten, wie man ihnen Eisenkragen anlegte. Ich hatte durch Ephialtes auch die Lady Temione ausgelöst, was mich einen Silbertarsk fünf kostete. Das war viel Geld, aber sie würde gut auf den Knien aussehen, nur mit einem Kragen bekleidet. Alles in allem hatten mich die Frauen zwei Silbertarsk und siebenundachtzig Kupfertarsk gekostet, wenn man den gängigen Kurs zugrunde legte, nach dem man für einen Silbertarsk einhundert Kupfertarsk bekam. Wenn alles nach Plan verlaufen war, befanden sich die Frauen auf dem Weg nach Ar-Station, vermutlich an Ephialtes Wagen gekettet. Es kam mir weniger darauf an, mit ihnen einen Gewinn zu machen. Das war nicht ihre wesentliche Rolle in meinem Plan.

Beim dritten Flug über die Herberge blieb ich kurz in der Nähe der Brücke schweben. Dort standen noch ein paar Wagen. Besonders einer davon erregte meine Aufmerksamkeit. An seiner Seite kniete eine stämmige blonde Frau. Sie war nackt. Um ihren Hals hing eine schwere Kette, die unter den Wagen führte, wo sie befestigt war. Ein Mann mit einer Peitsche in der Hand stand vor ihr. Ich sah, wie die Frau den Kopf senkte. Es handelte sich nicht um die dunkelhaarige schlanke Schönheit die sich am vergangenen Abend schaudernd in die Plane gehüllt hatte.

Die hatte Ephialtes, wenn alles gut vonstatten gegangen war, am Morgen gekauft. Sie wäre das erste Mädchen in dem Sklavinnenzug ›freier Frauen‹ und würde die anderen in den nötigen Disziplinen unterweisen, wie man einem Mann Freude bereitete; die Lektionen würden ihr Leben bald entscheidend verändern und bereichern.

Die Wagenplane war zurückgeschlagen, vermutlich um seine vom Sturm feucht gewordene Ladung zu durchlüften. Bis auf das Pärchen an seiner Seite schien sich niemand in seiner Nähe aufzuhalten. Ich hegte nicht den geringsten Zweifel daran, daß die blonde Frau die ehemalige freie Gefährtin des Mannes war. Das Mädchen, das die Nacht unter dem Wagen verbracht hatte, war von dem Wagenbesitzer hauptsächlich aus dem eher lächerlichen und fehlgeleiteten Grund gekauft worden, seine Gefährtin zu ermuntern, ihre Beziehung ernster zu nehmen. Offenbar hatte sie das dann auch getan, zumindest in dem Sinn, daß sie die Sklavin mit ausgesuchter Bösartigkeit behandelte. Aber jetzt war die Sklavin weg, und die Kette lag um ihren Hals. Anscheinend war er zum Herzen der Angelegenheit vorgedrungen. Es bestand kein Zweifel, daß sie ihre Beziehung von nun an ernst nehmen würde.

Ich ließ den Tarn wenden und auf vernünftige Reisehöhe steigen. Unter mir erstreckte sich die Vosk-Straße, wir flogen nach Norden. Ein reguläres Regiment goreanischer Infanterie hätte bei normaler Marschgeschwindigkeit und einschließlich der Zeit, die es brauchte, um am Nachmittag ein befestigtes Lager aufzuschlagen, vom Krummen Tarn bis nach Ar-Station drei Tage gebraucht. Ephialtes und sein Wagen würden vermutlich die gleiche Zeit brauchen, vorausgesetzt, er ließ die Mädchen fahren. Goreanische Fußsoldaten werden in der Regel von den Wagen der Nachschubkolonne begleitet; Marketender und Sklavenhändler benutzen die gleichen Fahrzeuge.

Ich kannte nicht einmal den Namen der Sklavin, die mir am vergangenen Abend unter dem Wagen solches Vergnügen bereitet hatte. Eigentlich hatte das auch keine Rolle gespielt, da sie eine Sklavin war, also hatte ich mir auch nicht die Mühe gemacht, sie nach ihrem Namen zu fragen. Nun, da sie in meinen Besitz übergegangen war, sollte ich ihr einen Namen geben. Es machte die Dinge einfacher. Die Zeit unter dem Wagen war wirklich schön gewesen. Das Mädchen hatte ausgesehen wie eine ›Liadne‹. Das war ein schöner Name. Ja, so würde ich sie nennen. Auch wenn sie es noch nicht wußte, sie war ab jetzt Liadne.

Auf der Vosk-Straße befanden sich weniger Flüchtlinge als am Vortag. Vermutlich hatten viele die Gegend in der Nacht hinter sich gelassen. Vielleicht war die Route jetzt auch gesperrt.

Ich flog nach Norden.

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