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»Du bist keine Frau«, sagte die Stimme hinter der Tür, einer niedrigen, schmalen Tür im linken Torflügel. Augen starrten hinter einer kleinen Luke hervor. »Zeig dein Geld!«

Ich hob einen Kupfertarsk. Der Kerl hinter der Tür hob eine kleine Tharlarionöl-Lampe an die Öffnung. Ich hielt die Münze so, daß er sie sehen konnte, reichte sie jedoch nicht durch die Öffnung.

»Das ist nicht genug!«

Ich hielt einen Silbertarsk hoch. Die Tür öffnete sich.

Ich trat ein.

Er verschloß die Tür hinter mir.

Dann folgte ich ihm durch einen hohen, gut dreißig Meter langen Holztunnel zum Innentor. Dort drehte er sich um. »Etwas für den Türsteher«, verlangte er.

»Du wirst vom Hausherrn bezahlt.«

»Die Zeiten sind schwer«, sagte er. »Und es ist spät. Ich habe die Tür zu später Stunde geöffnet.«

»Das stimmt«, erwiderte ich und legte ihm ein Tarskstück in die Hand.

»Die Zeiten sind schwer«, wiederholte er.

Ich setzte mein Bündel ab, holte ein Messer heraus, drückte ihm die Spitze gegen den Bauch und drängte ihn gegen das Innentor. Er wurde kreidebleich. Ich hob seinen an den Schnüren baumelnden Geldbeutel an und öffnete ihn mit der Messerspitze. Er enthielt mehrere Münzen. Das war im Licht der kleinen Lampe deutlich zu erkennen, »Die Zeiten sind gar nicht so schwer, wie du glaubst«, sagte ich. »Wieviel verlangst du?«

»Ein Tarskstück ist mehr als ausreichend«, sagte er.

»Das hast du bekommen.«

»Ja, Herr«, sagte er. »Vielen Dank, Herr.« Er steckte das Tarskstück in den Geldbeutel, nahm ihn mir ganz sachte aus der Hand und ließ ihn fallen, als er den Eindruck hatte, daß es gestattet war, so daß er wieder an seiner linken Seite vom Gürtel baumelte. Ein Rechtshänder hebt den Geldbeutel normalerweise mit der linken Hand an und greift mit der rechten hinein. Das Gewicht des Beutels sorgt dafür, daß die Schnüre ihn wieder verschließen.

»Es ist eine stürmische Nacht«, sagte ich.

»So ist es, Herr«, erwiderte er. »Was gibt es Neues aus dem Norden?«

»Ich komme aus dem Süden.«

»Nur wenige reisen jetzt nach Norden.«

»Die meisten Reisenden hier kommen bestimmt aus dem Norden.«

»Ja«, sagte er. »Wir sind völlig überfüllt.«

»Mit Leuten aus Ar-Station?«

»Davon haben wir nicht viele«, sagte er. »Die wenigsten konnten fliehen.«

»Die meisten sind in der Stadt eingeschlossen?«

»Anscheinend.«

»Wie ist der neueste Stand der Dinge?« fragte ich.

»Es gibt nur wenig Neues.«

»Und was ist das Alte?«

»Woher kommst du?« fragte er.

»Aus dem Süden.« Es ging den Burschen nichts an, daß ich aus Ar kam.

»Ich habe bloß gehört, daß die Cosianer Ar-Station eingeschlossen haben, an drei Seiten von Land. Sie haben den Hafen versperrt, und zwar mit einem Wall aus zusammengeketteten Flößen.«

»Sind die Mauern gestürmt worden?«

»Mehrere Male sogar, aber die Verteidiger haben es stets geschafft, die geschlagenen Breschen zu halten und die Mauer zu reparieren.«

Ich nickte. Bei solchen Gelegenheiten kommt es zu erbitterten Kämpfen. Das gilt auch für den Straßenkampf. »Soweit dir also bekannt ist, halten die Cosianer keinen Teil der Stadt besetzt.«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Wie viele Männer sind in den Kampf verwickelt, und wer wird deiner Meinung nach gewinnen?«

»Du bist derjenige, der das Scharlachrot trägt«, sagte er. »Ich bin bloß ein Türsteher.«

»Du hast doch sicherlich einiges gehört«, sagte ich. Ich steckte das Messer wieder ein. Ich spürte, daß ich den Burschen damit unruhig machte.

»Ich habe gehört, daß vor Ar-Station Tausende von Cosianern, ihren Hilfstruppen und ihren Söldnern stehen«, sagte er. »Wenn das stimmt, müssen sie den Männern von Ar-Station zehn zu eins überlegen sein.«

»Ausrüstung, Vorräte?«

»Sie haben Belagerungsgerät von Brundisium mitgebracht. Die Stadt ist auch die Quelle ihrer Vorräte, nehme ich an.«

Das ergab einen Sinn. Doch wenn dem so war, warum hatten Ars Tarnkämpfer keinen Versuch unternommen, diese Nachschubwege zu unterbrechen? Falls das geschehen war, hatte ich jedenfalls nichts davon gehört.

»Will man den Berichten Glauben schenken, waren die Kämpfe vor Ar-Station langwierig und verbissen. Die Mauern werden von Soldaten und Bürgern gleichermaßen verteidigt. Ich glaube, die Cosianer haben mit keinem derartigen Widerstand gerechnet.«

Das glaubte ich auch nicht.

»Du gehörst der roten Kaste an«, sagte er. »Warum ist Cos an Ar-Station interessiert?«

»Da bin ich mir nicht ganz sicher«, sagte ich. »Es könnte verschiedene Gründe haben, und einige davon scheinen offensichtlich. Wie du weißt, rührt ein Teil der Spannungen zwischen Ar und Cos von der wirtschaftlichen Konkurrenz im Voskbecken her. Die Eroberung von Ar-Station würde auf einen Streich den wichtigsten Pfeiler von Ars Macht in dieser Gegend vernichten und einen Keil zwischen die Salerianische Konföderation und die Voskliga treiben.«

Dank ihres gegenseitigen Mißtrauens unterhielten Ar, Cos und die Salerianische Konföderation normalerweise enge Beziehungen zueinander, und die Voskliga, ein Bund von Städten entlang des Vosk, der ursprünglich wie die Salerianische Konföderation am Olni gegründet worden war, um die Flußpiraten in Schach zu halten, war zumindest theoretisch von Ar und Cos unabhängig. Ich sage theoretisch, da eine der Gründungsstädte der Liga Port Cos ist, das, obwohl es eine souveräne Polis ist, ursprünglich von Cosianern gegründet und besiedelt wurde. Wäre Ar am Vosk aus dem Weg, würde es zweifellos sehr schnell Spannungen zwischen Cos und der Salerianischen Konföderation geben, vielleicht auch zwischen Cos und der Voskliga, und zwar aus denselben Gründen wie zuvor zwischen Cos und Ar.

Victoria, Tafa und Fina sind bekannte Städte der Voskliga. Die westlichste Stadt der Liga ist Turmus am Delta des Flusses. Die östlichste ist Weißwasser. Einige der dem Bund angehörigen Städte befinden sich östlich von Ar-Station, wie zum Beispiel Waldhafen, Iskander, Tancreds Furt und natürlich das eben bereits erwähnte Weißwasser. Obwohl Ar-Station offenbar aktiv an dem Kampf gegen die Flußpiraten beteiligt ist, hat es sich niemals der Liga angeschlossen. Der Grund dafür ist vermutlich im Einfluß von Ar zu suchen, das seine ausgedehnten Gebietsansprüche in der Region durch die Mitgliedschaft in einem solchen Bündnis ausgesprochen untergraben und bedroht gesehen hätte.

Das Hauptquartier der Liga befindet sich in Victoria. Vermutlich hat das besondere historische Gründe, da die Stadt nicht unmittelbar am Vosk liegt, sondern im Westen, in einer Gegend, die traditionellerweise eher dem cosischen Einflußbereich unterliegt. Demzufolge war die geographische Position – zumindest, was eine wünschenswerte ungefähre Mitte zwischen dem Delta und dem Olni betrifft – anscheinend nicht die wichtigste Bedingung für den Standort des Hauptquartiers der Liga. Wäre das der Fall gewesen, hätte man eher erwartet, es beispielsweise in Jasmine oder Siba vorzufinden, Städte von wesentlich zentralerer Lage.

»Ich habe gehört«, sagte der Mann, »daß sich schon vor Wochen in Ar ein großes Heer in Marsch gesetzt hat, das Ar-Station zu Hilfe kommen soll.«

»Das habe ich auch gehört«, sagte ich. Ich wußte, daß das der Wahrheit entsprach. Ich wußte auch, daß Ar mit diesem Entsatzheer unerklärlicherweise – jedenfalls meiner Meinung nach – fast seine gesamten Streitkräfte in Marsch gesetzt hatte, und das, obwohl die Cosianer gar nicht im Norden standen, sondern vor Torcodino. Ich hielt dies für einen taktischen Fehler von beinahe unglaublichem Ausmaß. Es war erst wenige Wochen her, daß ich mich in Torcodino aufgehalten hatte; ich war da gewesen, als Dietrich von Tarnburg mit nur ein paar tausend Söldnern in einem wagemutigen Vorstoß die Stadt eroberte, die als cosisches Depot und Ausgangsort für den Vormarsch nach Osten diente und in der Belagerungsgerät und Nachschub gelagert worden waren. Sie hatten die Stadt durch Aquädukte betreten, buchstäblich über die Köpfe der ahnungslosen cosischen Armee hinweg, die im Umkreis der Stadt kampierte. Diese Tat hatte die Invasion zum Erliegen gebracht. Ich erwartete, daß Dietrich es schaffen würde, Torcodino den Winter über zu halten, aber nicht länger. Ich hatte für Dietrich Briefe nach Ar transportiert, die sich mit diesem Problem beschäftigten.

In dieser Zeit der Intrigen und um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, hatte Gnieus Lelius, der Hohe Berater und Erste Minister von Ar, der in Abwesenheit von Ubar Marlenus die Stadt als Regent regierte, mich von Soldaten in den Zentralzylinder bringen lassen; als wäre ich verhaftet worden, um mich irgendeiner Anklage zu stellen. Dort hatte ich dann lange persönlich mit dem Regenten gesprochen. Ich hatte ihn gedrängt, nach Torcodino zu marschieren, um das Gros des cosischen Heeres anzugreifen. Aber Ars Soldaten waren nicht zurückgerufen und nach Torcodino umgeleitet worden. Sie waren weiter nach Norden marschiert, als läge die Hauptgefahr bei Ar-Station. Das war Wahnsinn oder zumindest unverständlich, da es meiner Meinung nach Ar und sein Herzland den Cosianern auslieferte. Außerdem schien es den Erfolg der kühnen Tat Dietrichs zunichte zu machen, der den Vormarsch des Feindes aufgehalten und Ar die Zeit verschafft hatte, Gegenmaßnahmen zu planen, die Waffen aufzunehmen und zu marschieren. Ar ließ die Cosianer in Torcodino unbehelligt. Es war nach Norden marschiert, vermutlich um Ar-Station zu entsetzen. Gnieus Lelius hatte mir nachdenklich und geduldig zugehört. Aber allem Anschein nach vertraute er dem Urteil seiner Offiziere. Danach hatte ich Wochen in Ar festgesessen, ein Gast im Zentralzylinder, der unablässig wartete. Schließlich übergab man mir einen versiegelten Brief für den befehlshabenden Kommandanten von Ar-Station, einen Mann namens Aemilianus. Das war alles. Noch in derselben Nacht war ich auf dem Rücken eines Tarns nach Norden aufgebrochen. Ich hatte den Tarn erst vor zwei Tagen verkauft, um zu Fuß weiterzugehen. Am Himmel hatte es von Patrouillen nur so gewimmelt. Ich war davon überzeugt gewesen, daß es, je weiter ich nach Norden kam, nur noch schlimmer werden würde. Vermutlich stiegen meine Aussichten, Aemilianus die Botschaft, deren Inhalt mir unbekannt war, erfolgreich zu übergeben, wenn sie nicht von einem Tarnsmann transportiert wurde, sondern von einem auf der Straße Reisenden, der zwischen den Söldnern und Zivilisten nicht weiter auffiel. Diese Überlegung wurde zusätzlich von der Tatsache gestützt, daß Ar-Station überall Tarndrähte gespannt hatte und der Himmel über der Stadt zur Zeit von Cos kontrolliert wurde.

»Aber ein solches Heer ist bis jetzt noch nicht hier vorbeigekommen«, sagte der Mann.

»Ich weiß auch nicht, wo es ist.« Ich hatte im Süden in Herbergen übernachtet, an denen das Heer vorbeimarschiert war, wobei es jeweils fünf Tage zwischen zwei bestimmten Punkten benötigt hatte. Als ich nach Norden reiste, war ich in Herbergen eingekehrt, die sich entweder an oder zumindest in der Nähe der Viktel Aria befanden, doch hier hatte niemand die Soldaten gesehen. Anscheinend hatte das Heer die Viktel Aria irgendwo nördlich von Venna verlassen.

»Es kann nicht einfach verschwunden sein.«

»Für uns mag das ein Geheimnis sein«, sagte ich, »aber denjenigen, die über die richtigen Informationskanäle verfügen, wird die Position des Heeres gut bekannt sein.« Selbst südlich von Venna war ich auf Flüchtlinge aus Ar-Station und Umgebung gestoßen. Einige hatten mir erzählt, daß sie aus der Ferne ein vorbeiziehendes Heer gesehen hatten. Mir war sogar von Männern und Frauen berichtet worden, die ihm nach Norden gefolgt waren, als wären sie von seinem Sieg überzeugt und kehrten darum nach Hause zurück. Am meisten Kopfzerbrechen bereitete mir dabei die Tatsache, daß die Viktel Aria für Hunderte von Pasang die direkte Route nach Ar-Station und damit zum Fluß darstellte.

Es war eine Militärstraße, die von Militäringenieuren als Militärroute geplant worden war. Sie führte in fast gerader Linie von Ar zum Vosk. Sie machte nur wenige Konzessionen an Städte oder Gemeinden. In erster Linie war sie als eine verläßliche, beinahe unzerstörbare Straße geschaffen worden, auf der Männer unter Waffen schnell transportiert werden konnten. Doch warum hatte das Heer aus Ar sie dann verlassen auf seinem angeblichen Marsch nach Ar-Station, wo es den Belagerten zu Hilfe eilen sollte? Von allen Hypothesen hielt ich die für am wahrscheinlichsten, daß das Heer nicht nach Ar-Station unterwegs war, sondern auf Brundisium zuhielt, wo die Cosianer vor Monaten gelandet waren. Das bedeutete, daß man entweder Ar-Station in diesem grausamen Spiel opfern wollte oder daß Ars Generäle der Überzeugung waren, ein Angriff auf Brundisium werde die Belagerung von Ar-Station beenden, da die Cosianer möglicherweise verleitet wurden, sich von dort zurückzuziehen, um Brundisium zu schützen. Ein solcher Zug würde natürlich den Hauptteil der cosischen Streitmacht isolieren, sie der Unterstützung aus Cos und Tyros berauben und sie von ihren Truppen vor Ar-Station berauben. Ich bezweifelte keinen Augenblick lang, daß die militärische Macht, die Ar im Norden versammelt hatte – wenn sich das Heer tatsächlich dort befand –, ausreichte, um Brundisium zu erobern. Die Bedenken gegen diese Strategie lagen natürlich auf der Hand. Ars Bastion am Vosk, Ar-Station, wurde als entbehrlich behandelt, was es natürlich nicht war, wenn Ar seine Macht im Voskbecken behalten wollte. Selbst wenn Brundisium fallen sollte, wäre dies für Cos kaum eine Katastrophe. Aller Voraussicht nach würden die Cosianer durchaus dazu fähig sein, sich einen anderen Hafen zu suchen, über den sie ihre Nachschubund Kommunikationslinien geöffnet hielten. Außerdem fehlten Ar die Möglichkeiten, aus der Eroberung von Brundisium weiteren Nutzen zu ziehen, indem es die Küste sperrte oder den Versuch unternahm, eine Invasion von Cos in Angriff zu nehmen, da es über keine nennenswerte Marine verfügte.

Der schwerstwiegende Einwand bestand natürlich darin, daß diese Taktik die Stadt Ar für das cosische Invasionsheer angreifbar machte, das zur Zeit vor Torcodino lag. Es hatte fast den Anschein, als seien die Generäle Ars bereit, Ar gegen einen Hafen einzutauschen, der, wenn man es genau nahm, nicht einmal Cos gehörte. Und sollte es tatsächlich der Wahrheit entsprechen, daß Ar auf Brundisium zu marschierte, so hatte ich bemerkenswerterweise noch nichts davon gehört. Zog man die typische Marschgeschwindigkeit eines Heeres in Betracht, hätte Ars Entsatzheer nicht nur längst vor Ar-Stations Toren stehen müssen, sondern auch Brundisium erreichen können, das viel weiter entfernt lag.

Ich wußte nicht, wo sich Ars Heer aufhielt. Ich stand einem Geheimnis gegenüber, zumindest soweit es meine beschränkten Informationen betraf. Vielleicht plante es ja aus irgendeinem unerfindlichen Grund, Ar-Station aus dem Westen zu Hilfe zu kommen, um sich so zwischen die cosische Belagerungsstreitmacht und ihre voraussichtlichen Fluchtrouten zu setzen, die entweder westsüdwestlich nach Brundisium oder mehr südwestlich nach Torcodino führten. Falls dies der Fall war, hätten wir aber mittlerweile etwas hören müssen, was diese Annahme untermauerte. Wenn es sich tatsächlich so verhielt, hätten die Soldaten aus Ar mittlerweile an der Westflanke der Cosianer aufmarschieren müssen.

»Ich fürchte um Ar-Station«, sagte der Türsteher.

»Warum?«

»Ich glaube nicht, daß es noch lange standhalten kann«, meinte er. »Die Angreifer sind zahlreich. Die Verteidiger wurden dezimiert. Jeden Tag werden neue Breschen in die Mauer geschlagen. An einigen Stellen wurde sie unterminiert. In der Stadt ist es zu Bränden gekommen, verursacht von Saboteuren, brennenden Speeren und Feuerkörben, die man über die Mauern katapultierte. Die Stadt hungert. Wenn Ar nicht bald den Belagerungsring sprengt, wird sie sich wohl ergeben müssen.«

»Ich verstehe.«

»Der Kampf, an dem sich die Zivilisten beteiligen, war lang und verbissen. Die Männer aus Cos haben damit nicht gerechnet. Sie haben schwere Verluste erlitten. Sie werden nicht erfreut sein.«

Ich nickte.

»Ich wäre ungern in der Stadt, wenn die Tore nachgeben.«

»Es ist spät.«

Er öffnete die Tür des Innentors. »Der Tisch des Verwalters und der Pagaraum befinden sich im rechten Gebäude«, sagte er.

Ich blickte durch die Tür auf den Hof der Herberge. Ich war bis auf die Haut durchnäßt. Der Regen hatte nicht nachgelassen. In dem überdachten hüttenähnlichen Durchgang zwischen den Toren war es wenigstens trocken. Mit Ausnahme von einigen Nebengebäuden war die Herberge aus stabilen Holzstämmen erbaut; sie bestand aus zwei Gebäuden, die mit einem durchgehenden Spitzdach verbunden waren. Der freie Platz dazwischen diente als Durchgang. Jedes Gebäude wies drei oder vier Etagen auf, die vermutlich mit Leitern verbunden waren. Die Entfernung zwischen dem Innentor und dem Durchgang betrug etwa dreißig Meter. Der Boden des Hofes bestand hauptsächlich aus dem bearbeiteten, begradigten Felsgestein des Plateaus. Man hatte schmale Abflußrinnen hineingeschlagen. Dadurch wurde das Wasser unter der Palisade durch in den Graben abgeleitet. Der Regen floß auch von dem mindestens sechzig Meter langen Dach der Herberge und prasselte zwölf Meter tief in den Hof.

Ich drückte dem Mann noch ein Tarskstück in die Hand. »Vielen Dank, Herr«, sagte er. Er hatte sich bemüht, hilfsbereit zu sein, obwohl ich zugegebenermaßen nur wenig erfahren hatte, das ich nicht schon zuvor gewußt hatte. Zumindest wußte ich nun, daß sich die Belagerung von Ar-Station einem kritischen Punkt näherte. Ich nahm das Bündel, schob den Umhang über den Kopf und ging los, um in dem kalten Regen den Hof zu überqueren. Hinter mir krachte die Tür ins Schloß, dann wurde der Riegel vorgeschoben. Ich eilte auf das Gebäude zu, das mir am nächsten stand. Dort hatte etwas meine Neugier erregt. Ich betrachtete sie kurz, wie sie dort hockten, dem strömenden Regen ausgesetzt, dann ging ich einmal um das Gebäude herum. Ich wollte sie mir später genauer ansehen. Aber zuerst wollte ich auf Erkundungstour gehen. Daran war vermutlich meine Ausbildung zum Krieger schuld.

Ich sah nur mehrere der kleineren Gebäude und Hütten an, ihren Standort und welche Deckung und Möglichkeiten sie boten. Es gab Ställe für Tharlarion und Hallen, in denen man Wagen untergestellt hatte. Auf der Plattform eines hohen Turms gab es ein Tarnfeuer, das nicht entzündet war. Ich fand auch das Tarntor, aber es war geschlossen; zwischen seinen Pfosten war Tarndraht gespannt, und ich war davon überzeugt, daß er auf dem ganzen Gelände zu finden war (man hatte ihn sicher vom Dach der Herberge bis zur Palisade gespannt). Im Tarnstall hielt sich zur Zeit nur ein Tarn auf. Ich schloß aus dem Zustand des Vogels und seiner offensichtlichen Wachsamkeit und Wildheit, daß es sich um einen Kampfvogel handelte. Das war allerdings auch der einzige Hinweis, der meine Vermutung bestätigte; es gab keine mit Wappen verzierte Satteldecke, keine Insignien, das Sattelgeschirr wies keinen eindeutigen Stil auf. Ich sah mich weiter um, konnte aber keine Soldatenunterkünfte und erst recht keine Garnison entdecken. Es fehlten sogar Berufswächter, obwohl es zweifellos ein oder zwei stämmige Burschen für Notfälle gab. Ich kehrte zum Haupthaus zurück, das zahlreiche schmale Schießscharten aufwies. Durch die Bauweise waren so etwas wie zwei Festungstürme entstanden, die notfalls verteidigt werden konnten. Die Entscheidung diktierte im Einzelfall vermutlich die Anzahl der möglichen Verteidiger. Ich nahm an, daß ein schmaler, mühelos abzuriegelnder unterirdischer Gang, der aus dem Fels gegraben worden war, beide Herbergsflügel miteinander verband. Dieser führte bestimmt unter dem überdachten Durchgang entlang. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Annahme ist es alles andere als leicht, solche Gebäude in Brand zu stecken. Das liegt hauptsächlich an der senkrechten Struktur der Wandoberfläche. Mit der Palisade verhält es sich ähnlich. Der normale Brandpfeil brennt sich normalerweise von selbst aus.

Ich hatte die Vorderseite des linken Gebäudes wieder erreicht, die Stelle, wo ich eben etwas Bemerkenswertes gesehen hatte.

»Löse mich aus!« rief eine der Frauen. »Ich bitte dich!«

»Nein, löse mich aus!«

»Nimm mich! Mich!«

Sie waren zu fünft. Man hatte ihnen die Hände hoch über den Köpfen angekettet, was ihre nackten, regennassen Körper auf hübsch anzusehende Weise streckte. Die Handschellen waren mit kurzen Ketten verbunden, die an stabilen Ringen endeten. Die Länge der Ketten richtete sich nach der Körpergröße der Frau.

»Kann es sein, daß du dich unbehaglich fühlst?« fragte ich die Frau, die mich als erste angesprochen hatte.

»Ja. Ja!«

»Das ist nicht überraschend, so wie du festgemacht bist.«

»Bitte!«

Sie riß an den Handschellen, stemmte sich gegen die Wand. Ihr schwarzes Haar war von dem unter das Dach hereinwehenden Regen klatschnaß und klebte ihr auf den Schultern und am Körper.

»Wende den Blick ab!« verlangte sie.

Ich strich ihr Haar zurück hinter die Schultern, so war es aus dem Weg. Angekettet, wie sie war, würde es ihr schwerfallen, es wieder nach vorn zu schieben. Falls erforderlich, konnte man es ihr natürlich im Nacken zusammenbinden.

»Bitte!« schluchzte sie.

An der Wand und dem Hof gab es insgesamt nur fünf Ringe, und sie waren alle belegt.

»Löse mich aus!«

»Ich soll dich kaufen?« vergewisserte ich mich.

»Niemals! Ich bin eine freie Frau!«

»Wir sind alle freie Frauen!« rief ihre Nachbarin.

Das war mir natürlich klar gewesen, da keine von ihnen den Kragen trug.

Die Schwarzhaarige zuckte zusammen, als ich ihren Schenkel überprüfte.

»Stell dich nicht so an«, sagte ich. »Du bist mindestens seit dem Nachmittag hier und bestimmt schon von mehreren Männern berührt worden.«

Ich konnte kein Brandzeichen entdecken, zumindest nicht an den von den Goreanern bevorzugten Stellen. Vermutlich handelte es sich tatsächlich um freie Frauen.

»Löse mich aus!« bettelte sie.

Hinter den Köpfen der Frauen hingen kleine Rechtecke aus Wachstuch, mit einem Nagel am Holz angeschlagen. Ich drehte eines um und las im Licht des nächsten Blitzes die auf der Rückseite notierten Zahlen.

»Wie heißt du?« fragte ich die Schwarzhaarige.

»Ich bin Lady Amina aus Venna. Ich war zu Besuch im Norden und mußte vor den anrückenden Cosianern fliehen.«

»Der Betrag, den man bezahlen muß, um dich auszulösen, beträgt vierzig Kupfertarsk, eine beträchtliche Summe.« Dieser Preis hatte auf der Rückseite des Wachstuches gestanden.

»Bezahl das Geld!« flehte sie. »Rette eine freie Frau von Adel aus der Gefahr. Ich werde dir ewig dankbar sein!«

»Nur wenige Männer gäben sich mit Dankbarkeit zufrieden.«

Sie zuckte ängstlich bis an die harte Wand zurück.

»Meine Rechnung beträgt nur dreißig Tarsk«, sagte ihre Nachbarin, eine Blondine.

»Meine fünfunddreißig!«

»Meine nur siebenundzwanzig!«

»Meine fünfzig«, weinte die fünfte Frau, »aber ich werde dafür sorgen, daß du deinen Einsatz nicht bereust.«

»Wie denn?« fragte ich.

»In der Art der Frauen!« sagte sie tapfer.

Schreie des Protests und der Wut ertönten.

»Seid nicht so selbstgerecht«, wies ich die vier anderen Gefangenen zurecht.

»Wir sind freie Frauen!« sagte Lady Amina.

»Ihr seid verdammte Zechprellerinnen!«

Amina keuchte entsetzt auf, als sie hörte, wie ich sie bezeichnete, zwei der anderen protestierten wütend. Die vierte Frau wimmerte, da sie wußte, daß ich recht hatte. Die fünfte schwieg.

Ich mußte daran denken, daß mich der Türsteher, nachdem er sich vergewissert hatte, daß ich keine Frau war, nach meinem Geld gefragt und mich erst eingelassen hatte, als ich eine beträchtliche Börse vorweisen konnte. Vielleicht war der Grund dafür die Überbelegung der Herberge und die in diesen ungewöhnlichen, gefährlichen Zeiten vermutlich in die Höhe getriebenen Preise.

»Bitte, nenn uns nicht so«, bat Amina.

»Was meinst du?«

»Was du gesagt hast.«

»Die Preise der Herberge sind doch bestimmt angeschlagen, oder man kann sie erfragen«, sagte ich.

Sie schwieg.

»Wußtet ihr nicht, daß ihr nicht genug Geld hattet?«

Sie schwiegen alle.

Ich packte Amina fester.

»Ja, ja«, keuchte sie. »Ich habe es gewußt!«

»Wir haben es alle gewußt«, sagte die Blonde. »Wir sind freie Frauen. Wir haben erwartet, daß die Gäste sich wie Ehrenmänner verhalten, Verständnis zeigen, sich um uns kümmern!«

Ich lachte, und sie alle erbebten. Ich ließ Aminas Kinn los.

»Lach nicht«, sagte sie trotzig.

»Ich will es einmal zusammenfassen«, sagte ich. »Ihr seid in die Herberge gekommen, trotz der Tatsache, daß euch die Mittel fehlen, um eure Verpflichtungen zu erfüllen, in der Erwartung, vielleicht damit durchzukommen, daß man eure Rechnung einfach übersieht oder euch in hilfloser Wut aus dem Haus weist, oder daß sich bereitwillige Männer finden, die für euch bezahlen, die darum wetteifern, leichtsinnigen freien Frauen zu Diensten sein zu können.«

»Sollten wir die Nacht auf der Straße verbringen wie Bäuerinnen?« empörte sich die dritte Frau.

»Aber es sind schwere Zeiten, und nicht alle Männer sind Narren!«

Sie schrie wütend auf und riß an den Fesseln. Sie war gutproportioniert, ausgewogene Nahrung und Körperertüchtigung würden ihr guttun. Auf einem Markt würde sie bestimmt sechzig Kupfertarsk erzielen. Falls die Herberge so verfuhr – wozu sie wegen der unbezahlten Rechnung das Recht hatte –, würde sie sogar noch einen Gewinn von fünfundzwanzig Kupfertarsk erwirtschaften.

»Als ihr entdecktet, daß ihr nicht genug Geld hattet, hättet ihr darum bitten können, euch die Übernachtung zu verdienen.«

»Wir sind doch keine Schankmädchen!« rief die Blonde.

»Bemerkenswert, daß dein erster Gedanke in diese Richtung geht«, sagte ich. »Ich hatte da an andere Dinge gedacht, an Arbeit in der Waschküche oder Putzen.«

»Das sind Sklavenarbeiten!«

»Viele freie Frauen tun sie.«

»Das sind Arbeiten für Angehörige der unteren Kasten«, sagte sie. »Nicht für hochrangige freie Frauen, wie wir es sind!«

»Und doch seid ihr nun an der Wand angekettet und tragt nicht einmal mehr einen Schleier.«

»Trotzdem sind wir freie Frauen von Rang, und solche Frauen haben es nicht nötig zu arbeiten.«

»Vielleicht werden Frauen wie du bald genau das tun müssen«, vermutete ich.

»Was willst du damit sagen?«

Ich beachtete sie nicht und wandte mich wieder der Lady Amina aus Venna zu. »Sind in der Herberge noch mehr von eurer Sorte?«

»Nur eine. Sie hat die höchsten Schulden. Für sie war hier draußen kein Ring mehr frei.«

»Warum eigentlich ist sie, die das meiste Geld schuldet, im Haus, während man uns, die weniger Schulden haben, auf so beschämende Weise hier draußen angekettet hat und den Elementen aussetzt?« fragte die fünfte Frau.

»Vielleicht hat sie schon angefangen, sich Kost und Logis zu verdienen«, sagte ich.

Sie drängte sich gegen die Wand.

»Meine Arme schmerzen«, sagte die Blonde.

»Haben andere freie Frauen den Hof betreten, seit ihr hier seid?« fragte ich Lady Venna.

»Ja. Und sie haben uns gesehen. Einige von ihnen verließen die Herberge wieder, nachdem sie beim Verwalter waren. Vermutlich hatten sie nicht genug Geld.«

»Also scheint es einen Sinn zu haben, euch hier anzuketten«, sagte ich. »Einmal davon abgesehen, euch auf Männer aufmerksam zu machen, die euch auslösen könnten, macht die Herberge mit dieser Handlung eindeutig klar, was sie von versuchtem Betrug hält. Ihr dient anderen freien Frauen als Warnung, Frauen, die ansonsten vielleicht versucht gewesen wären, ähnliche Schliche zu versuchen.«

»Wenn man uns nicht auslöst, was wird dann mit uns geschehen?« jammerte die vierte Frau.

»Das könnt ihr euch doch sicher denken«, sagte ich.

»Nein, nein nein!« riefen sie im Chor.

»Löse mich aus«, bat die Fragestellerin. »Ich werde mich erkenntlich zeigen, ansehnlicher Mann.«

»Sklavin!« schrie Amina sie wütend an.

»Sklavin!« schrie auch die Blonde.

»Hört auf«, sagte ich. »Sie ist keine Sklavin – noch nicht!«

Der Gedanke, daß Amina und die Blonde offenbar dachten, Sklavinnen könnten handeln, amüsierte mich. Wie viele freie Frauen hatten sie eine völlig falsche Vorstellung, was die Sklaverei eigentlich bedeutete. Die Sklavin – das gilt natürlich auch für den Sklaven – ist Besitz. Sie handelt nicht. Sie schuldet alles dem Herren und gibt ihm alles von sich. Sie bemüht sich, ihn auf jede nur erdenkliche Weise zufriedenzustellen, und hofft verzweifelt, daß es ihr auch gelingt. Vielleicht würden die beiden Frauen es irgendwann begreifen.

Ich wandte mich ab und schritt über den überdachten Platz auf das rechte Haus zu, wo sich laut Türsteher der Tisch des Verwalters befand. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, daß solche überdachten Durchgänge hauptsächlich für die Passagiere von Mietkutschen bestimmt sind, damit sie vom Werter geschützt aus- und einsteigen können.

Es war spät. Der Regen hatte nachgelassen. Doch die Nacht war merklich kühler geworden. Ich freute mich auf ein heißes Bad, einen Ort, wo ich meine Kleidung trocknen konnte, eine Mahlzeit und ein warmes Bett.

»Bitte!« rief mir Lady Amina nach. »Bitte!« Aber ich ließ sie an die Wand gefesselt zurück.

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