12

Das Seil um meinen Hals wurde entfernt.

Ich stand vor einer offenen Eisentür.

»Entfernt seine Fesseln«, befahl ein Offizier.

Man nahm mir die Hand- und Fußschellen ab. Zwei Armbrüste zielten auf mich. Jede verdächtige oder plötzliche Bewegung endete garantiert damit, daß sich zwei spitze Eisenbolzen in meinen Körper bohrten.

Man stieß mich durch die Tür. Sie krachte hinter mir ins Schloß. Ein schwerer Riegel wurde vorgeschoben.

Ich stand in einer Zelle, deren aus großen flachen Steinen bestehender Boden mit Stroh bedeckt war. In den Ecken lag weiteres Stroh. Der Raum maß etwa sechs Quadratmeter. Aus einem Fenster hoch oben in der Wand drang Licht herein. Das Fenster war vergittert. Die Gitterstäbe schienen ungefähr fünf Zentimeter dick zu sein; die Lücke dazwischen hatte die gleiche Abmessung.

Ich trat zur Tür. Sie war stabil, ihre Angeln befanden sich auf der anderen Seite. In ihrer Mitte war ein rechteckiges Guckloch, das nur von außen geöffnet werden konnte. Durch den schmalen Schlitz im unteren Teil der Tür, der zur Zeit ebenfalls verschlossen war, konnte man eine Tasse Wasser oder etwas zu essen hereinschieben. Ich sah mich genau um. Ich überprüfte den Boden und die Wände. Es war eine sehr stabile Zelle. Es war die Art von Zelle, in der Gefangene zu ihrer Bestürzung bald erkennen müssen, daß eine Flucht unmöglich ist, daß sie vollkommen hilflos sind.

Erst dann wandte ich mich der Gefangenen zu.

Sie wich zur Wand zurück. Sie kniete am Boden, im Stroh, nackt und verängstigt, die Knie eng aneinandergepreßt. Als man mich in die Zelle gebracht hatte, war sie zusammengezuckt und hatte protestierend aufgeschrien. Dann hatte sie sich Stroh über Oberschenkel und Schoß geschoben und sich zusammengekrümmt, um ihre Blößen zu bedecken. Jetzt starrte sie mich mit einem wilden Blick an.

»Warum haben sie dies nur getan?« fragte sie.

»Was denn?« fragte ich.

»Dich zu mir gesperrt?«

»Ich weiß nicht.«

Sie krümmte sich noch mehr zusammen.

»Bist du ein Ehrenmann?« fragte sie dann.

»Nein.«

Sie stöhnte. »Sie müssen mich sehr hassen«, weinte sie. »Das haben sie absichtlich getan! Reicht es denn nicht, daß sie mir die Kleidung weggenommen und mich hier eingesperrt haben?«

»Du bist eine Spionin«, sagte ich.

»Dann mußt du auch ein Spion sein, wenn sie dich zu mir gesperrt haben!« rief sie.

»Zumindest glauben sie das«, erwiderte ich gereizt.

»Mich haben sie erwischt!« rief sie. »Was werden sie mit mir anstellen?«

»Bist du eine freie Frau?« fragte ich.

»Ja«, sagte sie. »Natürlich!«

»Dann wird es bestimmt nicht angenehm!«

Sie stöhnte auf.

Ich blickte zum Fenster hoch. In dem Raum gab es keinerlei Hilfsmittel, um dort hinauf zu gelangen, nicht einmal um hinauszusehen.

»Sie geben mir nicht einmal genug zu essen, damit ich überleben kann!« rief sie aus.

»Vermutlich bekommst du genausoviel wie alle anderen Bewohner Ar-Stations auch«, meinte ich.

»Die Stadt muß bald fallen«, sagte sie. »Dann wird man uns retten!«

»Die Zitadelle kann lange gehalten werden, nachdem die Mauern gefallen sind«, sagte ich. »Sie hätten genug Zeit, um uns zu töten.«

Sie ließ den Kopf hängen und fing an zu schluchzen.

»Wann bekommen wir unser Essen?« fragte ich.

»Mittags«, schniefte sie und sah mich ärgerlich an.

»Mußt du für dein Essen eine Gegenleistung erbringen?«

Aus dem Ärger in ihrem Blick wurde blanke Wut.

»Also hatte ich recht.«

»Nicht mehr«, sagte sie. »Sie haben jetzt eine Aufseherin. Die Männer wurden auf der Stadtmauer gebraucht.«

»Mußtest du auf alle Arten dienen?«

»Nein«, sagte sie noch immer wütend. »Nur tanzen und vor der Klappe posieren. Sie haben die Zelle nie betreten.«

»Warst du eine gute Tänzerin?«

»Wenn ich mir keine Mühe gab, habe ich nichts zu essen bekommen«, sagte sie bitter.

»Hat dir das Tanzen und Posieren gefallen?«

»Bist du verrückt?«

»Vielleicht.« Doch innerlich mußte ich lächeln. Das war etwas zu schnell gekommen, um ehrlich zu sein.

Ich sah zu Boden.

»Wir haben hier eine Gefängniswärterin?« fragte ich dann.

»Mach dir keine Hoffnungen. Sie kommt nicht in die Zelle.«

»Wer bist du eigentlich?«

»Claudia, eine Lady aus Ar-Station.«

»Wo hat man dich gefangengenommen?«

»Auf der Stadtmauer«, sagte sie. »Ich wußte nicht einmal, daß sie mich verdächtigen, bis ich das Seil um den Hals spürte.«

Ich setzte mich auf den Boden, der Tür zugewandt. »Erzähl mir davon.«

»Zweifellos sind unsere Geschichten sehr ähnlich.«

»Das ist schon möglich.«

Sie sprach nun freier, da ich sie nicht mehr ansah.

»Man überging mich, verweigerte mir zustehende Ehrungen und den damit verbundenen Aufstieg«, begann sie. »Ich wollte sogar im diplomatischen Auftrag nach Ar reisen, aber man zog andere mir vor. Welch ein Fehler!«

»Erzähl weiter!«

»Ich bin eine wunderschöne und überaus kluge Frau«, sagte sie. »Doch meine Vollkommenheit wurde nicht ausreichend belohnt.«

»Vielleicht bist da ja doch nicht mehr als hübscher Durchschnitt«, sagte ich.

»Man hat meine Talente mißachtet«, beharrte sie wütend.

Ich konnte mir schon vorstellen, daß sie talentiert war, aber bestimmt nicht auf den Gebieten, die sie meinte.

»Dann standen die Cosianer vor unseren Toren. Wir alle fürchteten um unser Leben. Nach Wochen wurde klar, daß Ar nicht zu unserer Rettung kam. Jeder war für sich selbst überlassen. Die Klugen mußten sich aus eigener Kraft retten. Und ich würde klug sein. Manchmal stiegen die Frauen in der Nacht auf die Mauer, um Körbe von den Brustwehren hinunterzulassen, in denen Geld für Essen lag. Wie du vielleicht weißt, zogen sich einige der Frauen, die über keine Mittel verfügten, auch aus und kletterten hinunter, um sich dem erstbesten Cosianer hinzugeben. Sie verkauften sich für ein Stück Brot in die Sklaverei.«

Es gab in Ar-Station noch immer Lebensmittel, auch wenn es den Anschein hatte, daß auf den Straßen kaum noch etwas zu bekommen war. Zum Beispiel bekam selbst Claudia, eine auf frischer Tat ertappte Spionin, etwas zu essen.

»Aber für mich kam so etwas natürlich nicht in Frage«, fuhr sie fort. »Ich hatte kein Bedürfnis, in Ketten in einem Kreuzungsstall in Tyros zu enden, um für Chenbar, den See-Sleen, Sklaven für den Steinbruch zu gebären.«

Ich hatte meine Zweifel, daß sie ein solches Schicksal zu befürchten hatte, denn sie war zierlich, hübsch und mit einer bezaubernden Figur ausgestattet. Außerdem verbrachten die wenigsten Frauen lange Zeit in einer solchen Einrichtung. Wie lange kann es schon dauern, eine Sklavin zu schwängern, der man den Sklavenwein vorenthält und die man im genau richtigen Augenblick ihres Zyklus dort unterbringt?

»Ich machte es mir zur Gewohnheit, mit den anderen Frauen ›zum Fischen‹ zu gehen, wie sie es nannten. Natürlich sorgte ich dafür, jede Nacht zur selben Zeit an derselben Stelle zu sein. Die ersten paar Male legte ich Geld in den Korb. Als ich dann die Summe erhöhte, bekam ich Brot und etwas Gemüse. Kannst du das glauben? Ein paar Suls für einen Silbertarsk?«

»Der Preis ist jetzt noch höher«, sagte ich. Als man mir den Korb heruntergelassen hatte, hatte ein Goldtarn daringelegen.

»Dann fing ich an, Botschaften in den Korb zu legen, zuerst ganz unverfängliche, zum Beispiel fragte ich nach der Position des Entsatzheeres und dergleichen.«

»Ich verstehe.«

»Aber anscheinend begriff man sehr schnell, was ich wollte, denn kurz darauf lagen unter den Lebensmitteln Zettel mit Fragen, die sich auf die Zustände in der Stadt bezogen.«

»Hast du sie beantwortet?«

Sie nickte.

»Zu diesem Zeitpunkt warst du eine Spionin.«

»Das habe ich anders gesehen«, sagte sie. »Diese Informationen waren doch bestimmt allgemein bekannt.«

»Nicht notwendigerweise«, erwiderte ich. »Sicher, für gewöhnlich gibt es Spitzel, wenn nicht sogar Verräter, die solche Dinge verläßlich erledigen.«

»Als ich den Korb das nächste Mal in die Höhe zog, war in einem Stück Sa-Tarna-Brot eine genau formulierte Frage versteckt. ›Bist du für Cos?‹ In der nächsten Nacht ließ ich die Antwort hinunter. Ich hatte ›Ja‹ geschrieben.«

»Ab diesem Augenblick warst du eine Verräterin«, sagte ich.

»Ar-Station hat mich verraten!« rief Claudia. »Es hat mir nicht das gegeben, was ich wollte. Es hat mich nicht einmal mit Missionen nach Ar betraut! Davon abgesehen – glaubst du etwa, daß eine Person wie ich ihr ganzes Leben hier am Vosk verbringen will?«

»Was ist dann geschehen?«

»Ich hatte meine Position klargemacht, ihnen war klar, daß ich verhandeln würde, und zwar hart verhandeln würde.«

»Hast du Lebensmittel verlangt?«

»Die hatte ich. Ich hatte sie seit dem Beginn der Belagerung gehortet, sie sogar aufgekauft, wenn sie billig waren, zu Anfang, als man noch glaubte, daß Ar jeden Tag mit flatternden Fahnen eintreffen und die Cosianer vertreiben würde wie die aufsteigende Sonne die Flußfrösche.«

»Also für Gold!« sagte ich.

»Ja! Für Gold und für Juwelen!«

»So wie es aussieht, hast du im Augenblick nur wenig Gold oder Juwelen.«

Ich hörte, wie sie aufgebracht in dem Stroh herumscharrte.

»Es wäre klüger gewesen, du hättest nicht angefangen, um Bezahlung zu feilschen, nachdem du Cos deine Treue erklärt hattest«, meinte ich.

»Warum denn das?«

»Weil du Cos deine Treue erklärt hast«, sagte ich. »Wie die Bürger Ars erwarten auch die Cosianer von jenen, die sich freiwillig ihrer Sache verschreiben, daß sie ihnen aus freien Stücken dienen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, eben nicht wie Kaufleute oder Söldner.«

»Wo liegt denn da der Unterschied?«

»Manchmal machen solche Dinge den Unterschied zwischen Reichtümern und dem Sklavenkragen aus.«

»Ich habe in meinen Verhandlungen Vorkehrungen getroffen, damit so etwas nicht geschieht«, sagte Claudia. »Für meine Hilfe habe ich nicht nur Geld verlangt, sondern auch die Gewährleistung meiner Freiheit und Sicherheit.«

»Also daß man dich nicht zur Sklavin macht zum Beispiel.«

»Genau.«

»Aber einmal angenommen, du wirst in der Zwischenzeit von anderen versklavt.«

»Das wäre eben das Ende gewesen«, erwiderte sie. »Ich wäre eine Sklavin gewesen. Eine Sklavin ist eine Sklavin.«

»Das ist richtig.« Die Cosianer hatten zugestimmt, sie nicht zu versklaven, aber nicht, sie zu befreien, falls sie eine Sklavin wurde. Wie sie gesagt hatte: Eine Sklavin ist eine Sklavin.

»Außerdem habe ich Macht in Ar-Station gefordert, sollte die Stadt nicht zerstört werden, denn hier gibt es Leute, die mich betrogen haben und an denen ich mich rächen wollte. Und ich wollte, daß man mir einige der Frauen als Sklavinnen zur Verfügung stellt, damit ich sie Männern verkaufen konnte.«

»Du warst gründlich.«

»Ja.«

»Du mußtest dich also nur auf die Ehre von Cos verlassen.«

»Männer sind ehrenhaft.«

»Manche Frauen auch«, sagte ich.

»Meine Treue gehört mir«, sagte sie gereizt.

»Für Frauen wie dich gibt es Einrichtungen«, murmelte ich.

»Was?«

»Erzähl weiter.«

»Nachdem man meine Bedingungen akzeptiert hatte, erhielt ich ausgesprochen genaue Anweisungen. Diese Anweisungen bezogen sich auf alle möglichen Informationen, die Versorgungslage der Stadt, den Zustand der Mauern und Tore, wo sich die schwächeren und weniger verteidigten Stellen befinden, die zahlenmäßige Stärke der Garnison, die Stärke der Bürgermiliz, die Posten der Wächter, ihre Ablösung und dergleichen mehr. Dinge wie Parolen konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Soweit ich herausfand, wurden sie täglich gewechselt.«

»So verfährt man im allgemeinen.«

»Jede Nacht gab ich alles weiter, was ich in Erfahrung gebracht hatte. Im Gegenzug erhielt ich Gold und Juwelen.«

Ich lächelte.

»Hast du deinem Kontaktmann oder vielmehr deinen Kontaktleuten, denn es waren bestimmt mehrere, deinen Namen mitgeteilt?«

»Dafür war ich zu schlau«, sagte sie. »Allerdings habe ich einen Passierschein und eine Bestätigung für geleistete Dienste verlangt. Beides sollte für die Person gelten, die sie bei sich führt. Und ich habe die Dokumente auch bekommen.«

»Du bist eine kluge Frau.«

»Ich bin sogar außerordentlich klug.«

»Und wie kommt es dann, daß du nackt in einer Zelle sitzt?«

Claudia stieß einen unterdrückten, wütenden Laut aus.

»Erzähl weiter.«

»Vielleicht habe ich Verdacht erregt«, sagte sie. »Vielleicht sind den Wächtern meine häufigen Besuche auf der Mauer aufgefallen, immer an derselben Stelle zur selben Zeit. Einmal mußte ich ein anderes Mädchen von meinem Platz vertreiben. Es verstand meine Beharrlichkeit nicht. Vermutlich nahm es an, daß es eine besonders gute Stelle zum ›Fischen‹ sei. Aber es war meine Stelle! Vielleicht hat man bemerkt, daß ich überall in der Stadt Fragen stellte oder überall umherstreifte. Vielleicht haben mich auch meine Feinde denunziert. Aber ich war eine freie Frau!«

Draußen ertönte ein leises Geräusch, vielleicht ging jemand an der Zelle vorbei. Es mußte um die Mittagszeit sein.

»Fahr fort«, sagte ich.

»Ich wurde tollkühn«, sagte Claudia. »Ich würde reich sein. Zu meiner Befriedigung konnte ich verfolgen, wie Ar-Station jeden Tag schwächer wurde. Aber wenn es fiel, würde mir nichts geschehen! Und ich würde mich an meinen Feinden rächen!«

»Die Stadt wird aller Voraussicht nach zerstört werden«, sagte ich.

»Wie es auch ausginge, ich hätte meine Rache.«

»Ich verstehe.«

»Außerdem hatte ich mir, wie du dich vielleicht entsinnen wirst, das Recht ausbedungen, daß man mir bestimmte Frauen als Sklavinnen überließ.«

»Persönliche Feinde?« fragte ich.

»Natürlich. Und so stieg ich wieder zur Brustwehr hinauf, wie so oft zuvor. Diesmal beschrieb der in meinem Korb versteckte Brief die Verteidigung des großen Stadttores, die Posten der Wächter und was noch dazugehört. Ich schob den Korb zwischen zwei Zinnen hindurch und ließ ihn hinunter. Ich hatte auf der Brustwehr sogar Schwäche vorgetäuscht, war getaumelt, als wäre mir schlecht vor Hunger. Ich war überzeugt, mich geschickt verstellt zu haben. Meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das Seil und den Korb. Plötzlich legte mir jemand eine Schlinge um den Hals und zog sie zu. Man zog mich zurück. ›Kein Laut!‹ warnte mich eine Stimme. Dabei hätte ich keinen Laut ausstoßen können, da die Schlinge so eng saß. Ich wollte den Korb fallen lassen, aber dazu hatte ich keine Gelegenheit mehr. Sie waren zu dritt. Während der erste Mann mir die Schlinge umlegte und mich zu seiner Gefangenen machte, nahm mir der zweite das Seil aus den Händen. Der dritte Mann, der ein Stück abseits stand, hielt eine geschlossene Laterne. Ich hatte sie nicht einmal kommen hören. Nachdem sie die Laterne geöffnet hatten, dauerte es nicht einmal einen Augenblick, bis sie den Korb durchsucht und den Bericht gefunden hatten. Es war sofort klar, worum es sich handelte. Man zog mich auf der Stelle aus. Die Schlinge um meinen Hals wurde festgeknotet und diente als Fessel. Sie legten meine Kleidung in den Korb und ließen ihn hinunter. Die Cosianer würden die Botschaft verstehen. Dann zog man den Korb wieder in die Höhe und löste das Seil. Man benutzte es dazu, mir die Arme eng an den Leib zu fesseln. Ich finde nicht die richtigen Worte, um dir verständlich zu machen, wie hilflos ich mich fühlte. Dann zerrte man mich in mein Haus, wo man die Juwelen und das Gold fand sowie Notizen für die nächsten Berichte. Sie fanden auch den Passierschein und das Dokument, in dem man meine Dienste würdigte. Dann brachte man mich gefesselt und nackt zu Aemilianus. Ich mußte mich vor ihn hinknien. Man zeigte ihm die Beweise. Und noch in derselben Nacht brachte man mich in diese Zelle.«

»Und jetzt erwartest du die Wohltaten, die dir diejenigen erweisen werden, die du verraten hast«, sagte ich.

»Ja.« In ihrem Tonfall lag nackte Angst.

Auf der anderen Seite der Tür gab es ein Geräusch, ein Topf wurde auf dem Steinboden abgesetzt.

»Und wie lautet deine Geschichte?« fragte Claudia.

»Ich bin ein Kurier von Gnieus Lelius, dem Regenten von Ar, den man fälschlicherweise für einen Spion hält«, sagte ich. Ich war davon überzeugt, daß es in Ar Verrat gab, und zwar an hohen Stellen. Entweder hatten sie die Botschaft des Regenten aus dem Briefzylinder entfernt, oder diese Botschaft hatte sich niemals darin befunden. Es bestand kein Zweifel, daß die Botschaft oder sogar der Zylinder vertauscht worden waren. Natürlich war ich nicht zugegen gewesen, als der Regent seinen Brief in den Zylinder gesteckt und ihn versiegelt hatte. Daran war nichts Ungewöhnliches, denn es ist nicht üblich, daß der Kurier dabei anwesend ist. Kuriere sind nur selten in die Staatsangelegenheiten eingeweiht. Normalerweise bringt ihnen ein Untergebener den versiegelten Brief oder den verschlossenen Zylinder und sie machen sich auf den Weg.

»Nein«, sagte Claudia. »Du lügst! Du versuchst nur, dich zu retten! Du bist auch ein Spion!«

»Vielleicht.«

Die Klappe in der Tür öffnete sich. Lady Claudia eilte schnell nach vorn und kniete ein paar Schritte vor der Tür nieder, zwar immer noch ein gutes Stück von der Tür entfernt, aber nahe genug, damit man sie gut durch die Öffnung sehen konnte. »Knie dich neben mich«, flüsterte sie angespannt. »Wir bekommen nur einmal am Tag etwas zu essen! «Ich konnte niemanden in der Öffnung sehen. Ich blieb sitzen.

»Knie dich neben mich!« flehte Claudia mich an.

Vor der Tür wurde etwas über den Boden geschoben, vermutlich die Beine eines Hockers oder einer Trittleiter. Einen Augenblick später kam ein kleiner Kopf in Sicht, der entweder einer Frau oder einem Kind gehörte. Ich konnte nur wenig erkennen, aber es schien ein zierlicher Kopf zu sein; er wurde von einem enganliegenden Turban verhüllt; die untere Gesichtshälfte lag hinter einem Schleier verborgen. Ein Stück oberhalb des vom Schleier verhüllten zierlichen Nasenrückens blickten dunkle Augen.

»Wie ich sehe, wirst du von jetzt an nicht mehr so einsam sein, Lady Claudia«, sagte die Frau hinter der Tür belustigt.

»Ruhm und Ehre für Ar!« rief Claudia verängstigt. Sie wandte sich mir zu. »Knie dich neben mich!« flehte sie mich an. »Oder wir bekommen nichts zu essen.«

Ich tat ihr den Gefallen, und die Frau hinter der Tür lachte. Dann fauchte sie: »Spione!« Ich würde es nicht schaffen, die Hand durch die Klappe zu schieben; sie war zu eng. Die Wärterin sagte: »Ruhm und Ehre für Ar!«

»Ruhm und Ehre für Ar! Ruhm und Ehre für Ar! Ruhm und Ehre für Ar!« rief Lady Claudia. Sie sah mich verzweifelt an. Ich hatte geschwiegen. »Bitte!«

Ich sagte dreimal: »Ruhm und Ehre für Ar!«

Die Frau hinter der Tür lachte.

Ich wünschte, es hätte eine Möglichkeit gegeben, sie in meine Hände zu bekommen. Der verhüllte kleine Kopf verschwand, und kurze Zeit später öffnete sich die untere Klappe. Ein niedriger Behälter mit Wasser wurde hindurchgeschoben. Lady Claudia nahm ihn und entleerte ihn in eine schmale Zisterne an der Zellenwand. Sie schob ihn zurück und nahm ihre vorherige Position wieder ein. Es sah nicht so aus, als könnte ich die Hand durch die schmale Klappe schieben, um ein Handgelenk oder einen Fuß zu packen. Trotzdem war es vernünftig, diese Idee zu durchdenken. Ein Wärter, der von Natur aus größer war, konnte durch die Beobachtungsklappe schauen und sich vergewissern, ob wir an der richtigen Stelle knieten, gleichzeitig konnte er mit dem Fuß den Wasserbehälter oder einen Topf durch die untere Klappe schieben. Die Frau war dafür nicht groß genug.

Ihr Kopf erschien wieder in der Sichtöffnung. »Den Topf«, befahl sie.

Sofort holte Lady Claudia einen schmalen Topf und stellte ihn anderthalb Meter vor der Tür auf dem Boden ab. Ich entnahm der Prozedur, daß man ihr genau beigebracht hatte, wie sie sich bei der Essensausgabe zu verhalten hatte. Den Topf hinzustellen, bevor man den Befehl dazu erhielt, würde vermutlich als vermessen betrachtet, was wiederum dazu führte, daß man an diesem Tag leer ausging.

»Du bietest nackt einen hübschen Anblick, Lady Claudia«, sagte die Wärterin.

Claudia unterdrückte ein Aufschluchzen.

»Ruhm und Ehre für Ar!« sagte die Gefangenenwärterin streng.

»Ruhm und Ehre für Ar!« rief Claudia dreimal. Ich schloß mich ihr an.

Der Kopf verschwand. Wieder ertönte das schabende Geräusch, wie von Holz auf Stein, bestimmt brauchte die Wärterin einen Hocker. Das Geräusch verstummte, es wurde still. Zu Claudias Entsetzen eilte ich zu der Beobachtungsklappe und sah hindurch. Die Wärterin ging den Korridor entlang. Sie war barfuß, und ihre Kleidung bestand fast nur noch aus Lumpen; allem Anschein nach handelte es sich um ein Kleid, das man gekürzt hatte. Ihre Waden waren deutlich zu sehen. Die Säume sowohl des Unterrocks als auch des darüber befindlichen Rockes waren gezackt, die tiefen Einschnitte, die zweifellos beim Kürzen entstanden waren, bildeten sieben oder acht dreieckige lange Stoffbahnen. Sie waren so angebracht, daß sich der Stoff des Unterrocks stets mit dem des Rocks abwechselte. Obwohl das Kleid auf den ersten Blick behelfsmäßig und zerlumpt aussah, steckte doch eine Absicht dahinter. Ich fragte mich, ob ihr klar war, wie aufreizend diese Aufmachung letztlich war. Sie erweckte in einem Mann den Wunsch, sie sofort auszuziehen. Der Schleier gehörte natürlich zu einer freien Frau. Doch ich war davon überzeugt, daß sie sich am Ende, wenn die Stadt gestürmt wurde, sofort unterwarf und diese Farce beendete. Sie bückte sich und hob einen Eimer hoch, und bevor sie sich umdrehte, war ich an meinen Platz zurückgekehrt.

»Verlaß bei der Essensausgabe nie deinen Platz«, bettelte Lady Claudia mit Tränen in den Augen.

Das verhüllte Gesicht erschien wieder in der Türöffnung und fand uns am richtigen Platz vor. Sobald es verschwand, bückte ich mich, um zu sehen, ob es irgendwie möglich war, die Wärterin durch die untere Klappe zu packen. Aber zu meinem Unmut wurde ein flacher Topf, in dem sich etwas Eintopf und ein Stück Brot befanden, mit Hilfe eines langen Stabes durch die Klappe in die Zelle geschoben. Lady Claudia eilte zu dem Topf, füllte den Inhalt in den Zellentopf um und stellte ihn wieder vor der Tür ab. Er wurde mit der Stange zurückgeholt. In Anbetracht der Tatsache, daß es sich hier um eine Wärterin handelte, mußte man zugeben, daß man sie gut auf ihre Arbeit vorbereitet hatte. Zweifellos befanden sich hier irgendwo auch ein paar Männer, um sie notfalls zu unterstützen. Ich war wütend. Ich stand rechtzeitig auf, um sie besser sehen zu können, wenn sie durch die obere Klappe blickte. Der Gebrauch zweier Töpfe dient weniger der Sicherheit (man könnte die Töpfe auch einfach austauschen, vorausgesetzt, der nötige Abstand zwischen Gefangenen und Wärter bleibt bestehen); damit soll vielmehr gesichert werden, daß der Topf in der Zelle bleibt. Das hilft, die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern, und sorgt dafür, daß die Gefangenen für die hygienischen Verhältnisse verantwortlich sind.

»Bitte gib uns mehr zu essen!« rief Claudia.

»Du bist ohnehin schon zu fett!« lautete die Antwort.

»Bitte!«

Meiner Meinung nach war Lady Claudia keineswegs fett. Andererseits hatte sie besseres Essen als die Bewohner von Ar-Station gehabt, zumindest bis zu ihrer Verhaftung. Schließlich hatte sie Lebensmittel gehortet und sich an der Mauer zusätzliche Vorräte besorgt.

»Hast du Angst, deine Haut könnte darunter leiden?« fragte die Wärterin.

»Bitte!« sagte Claudia. »Bitte!«

Die Klappen wurden geschlossen.

»Dieses Sleen-Weibchen!« rief Claudia. »Wie ich sie hasse!« Sie ballte die Fäuste. »Ich hasse sie! Ich hasse sie!« Sie trommelte mit den Fäusten auf den Boden; die Schläge wurden von dem Stroh gedämpft. Dann starrte sie enttäuscht auf den Eintopf und das Brot. »Sie wollen, daß ich verhungere.«

»Meinst du nicht uns?« fragte ich.

»Ja, natürlich«, erwiderte sie hastig.

»Du bekommst vermutlich genausoviel wie alle Bürger Ar-Stations«, sagte ich. Die Männer auf der Stadtmauer bekamen hoffentlich mehr. Allerdings hatten jene, die ich kennengelernt hatte, halb verhungert ausgesehen.

Claudia stand auf und wollte zu dem Topf gehen. Plötzlich blieb sie stehen. Ich hatte ihren Fußknöchel gepackt. Sie sah mich an. Ich schüttelte den Kopf und zeigte auf den Boden.

Sie wurde ganz blaß.

Dann schluchzte sie auf, kniete nieder und legte den Kopf zwischen die Hände. Die Gefängniswärter hatten ihr schon viel beigebracht.

Ich ging zu ihr.

Загрузка...