»Sie werden mich noch vor Mittag holen«, flüsterte sie.
In der Zelle war es noch dunkel.
»Ich weiß«, sagte ich. Vor ein paar Ehn hatte man etwas zu essen in die Zelle geschoben. »Bring mir den Topf.«
»Natürlich«, sagte sie bitter. Sie drehte sich um und kroch zu dem Topf. Dann stand sie auf und kam langsam zurück.
»Warum wollen sie nicht bis zum Mittag warten?« fragte sie traurig.
Die Wärterin hatte es ihr gesagt.
»Es ist ein gutes Zeichen«, sagte ich. »Es ist sogar ein sehr gutes Zeichen.« Ich erklärte es ihr nicht, aber aus dieser unverfänglichen Bemerkung konnte ich die Lage der Verteidiger schließen, die Zahl, die Position der Cosianer und die Bedrohung ihrer Belagerungsmaschinen.
»Ich verstehe nicht.«
»Wir befinden uns doch auf der Stadtseite der Zitadelle, nicht wahr?«
»Ja.« Obwohl man uns mit verbundenen Augen in die Zelle gebracht hatte, war es nicht schwer gewesen, dies in Erfahrung zu bringen. Aus den Mustern, die das durch das Fenster einfallende Sonnenlicht auf dem Boden zeichnete, war ersichtlich geworden, daß die Zelle nach Süden hinausführte, also in Richtung Stadt. Noch offensichtlicher war, daß wir die Geräusche aus der Stadt hören konnten, nicht die vom Hafen.
»Das ist es.«
Claudia sah mich verständnislos an.
»Es ist möglich, daß die Cosianer bald eine viel größere Gefahr für dich sind als deine ehemaligen Nachbarn aus Ar-Station.«
»Du machst Scherze.«
»Darum wollen sie nicht mehr bis Mittag warten.«
»Wieso?«
»Ich glaube nicht einmal, daß die Zitadelle bis zum Mittag zu halten ist.«
»Das ist absurd«, sagte sie. »Sie ist uneinnehmbar.«
»Nein«, sagte ich. »Die Verteidiger sind erschöpft und halb verhungert. Die Gebäude rings um die Zitadelle sind niedergerissen worden. Die Katapulte können aus nächster Nähe schießen. Die ganze Macht, die Cos im Norden versammelt hat, wird sich auf einen kleinen Funkt konzentrieren. Die Zitadelle.«
»Was wird geschehen?«
»Man hat die Frauen und Kinder vermutlich bereits alle auf die Hafenseite der Zitadelle gebracht.«
»Was wird geschehen?« fragte sie erneut.
»Sie werden die Zitadelle einnehmen. Die Cosianer werden mit Feuer und Schwert kommen. Zivilisten, Soldaten und alle anderen, die noch übrig sind, werden gezwungen sein, sich in den Hafen zurückzuziehen. Bis man sie noch weiter zurücktreibt. Ich fürchte, im Hafen wird es zu einem blutigen Gemetzel kommen. Nur wenige werden fliehen können.«
»Aber man wird doch bestimmt eine Übergabe aushandeln«, meinte sie.
»Die Cosianer haben lange für Ar-Station gekämpft«, sagte ich. »Zweifellos haben sie nicht mit dem Widerstand gerechnet, den man ihnen entgegengebracht hat. Sie haben große Verluste erlitten. Ihre Geduld ist am Ende.«
»Es ist meine Schuld«, sagte sie niedergeschlagen. »Es wäre besser gewesen, ich wäre vorher schon das gewesen, was ich nun bin, eine Sklavin.«
»Es ist nicht deine Schuld. Ich bezweifle, daß deine lächerlichen Informationen überhaupt einen Unterschied gemacht haben. Die Schuld trägt Ar.«
»Aber ich bin schuldig!« beharrte sie.
»Ja«, sagte ich, »aber diese Strafe ist nicht angebracht,« Ich wandte mich dem Topf zu. »Man hat dir viel gebracht, sogar Fleisch. Ich bezweifle, daß die Männer draußen auf den Brustwehren oder am Tor so gut gefrühstückt haben.«
»Aber du berührst es ja nur mit den Lippen.«
»Ich schmecke nur.«
»Warum?«
»Es wäre möglich gewesen, daß sie etwas ins Essen getan hätten, ein Schmerzmittel, um es dir leichter zu machen. Aber das haben sie nicht getan. Anscheinend stimmt es, was unsere liebreizende Wärterin eben gesagt hat. Sie wollen sehen, wie du dich auf dem Speer windest.«
Claudia erbebte.
Ich griff zu und fühlte, wie neue Kräfte meinen Körper durchströmten. So gut hatte ich seit Tagen nicht gegessen. Ich ließ mir von meinem Mädchen auch Wasser bringen.
»Das war gut«, sagte ich.
»Wie kannst du zu einem solchen Zeitpunkt etwas essen?« fragte Claudia.
»Du darfst die Hoffnung nicht verlieren.«
»Ich bin eine nackte Frau«, erwiderte sie. »Männer können mit mir machen, was sie wollen.«
»Das ist wahr«, erwiderte ich. »Aber es kann sein, daß nicht jeder Mann zur selben Zeit dasselbe mit dir machen will.«
»Das wohl nicht.«
»Und darin liegt unsere Hoffnung.«
»Welche Hoffnung habe ich schon, als daß sie mich etwas später auf den Spieß stecken?«
»Ich glaube, du hast mehr Möglichkeiten, als du weißt.«
»Wie das?«
»Du hast unerwartete Verbündete.«
»Wen denn?«
»Die Cosianer.«
»Ich glaube, der Tag bricht an«, flüsterte sie. Die Dunkelheit schien sich aufzuhellen. Wir richteten unsere Blicke auf das Fenster.
»Ich glaube, du hast recht.«
Plötzlich schrie sie erschrocken auf und warf sich in meine Arme.
»Das sind die Fanfaren«, erklärte ich. »Das Signal für den Angriff.«
Aus der Zitadelle ertönte eine Antwort.
Draußen waren bestimmt Hunderte von Instrumenten erklungen. Die Antwort von der Mauer war zwar eine tapfere Geste, aber es hatte kläglich geklungen. Zusätzlich zu der Musik waren vor der Zitadelle die Kriegsrufe Tausender von Männern erschollen. Auch sie waren von der Mauer beantwortet worden, aber diese Rufe waren dünn und brüchig gewesen. Claudia sah zu mir hoch, halb kniete sie im Stroh, halb lag sie in meinen Armen. Es ist ein gutes Gefühl, eine nackte Frau in den Armen zu halten. Ich wünschte, sie hätte mir gehört. Sie fühlen sich noch besser an, wenn sie einem gehören.
In der Ferne ertönte ein dumpfer Einschlag.
»Was ist das?« fragte sie entsetzt.
Das Geräusch wiederholte sich.
»Komm her«, sagte ich und zog sie zu der Wand, hinter der die Außenseite lag. Wir legten uns ins Stroh. Dort, wo der Boden die Wand wie ein Pfeiler stützte, war es sicherer, vor allem vor möglicherweise einstürzenden Mauern.
»Das ist die Artillerie«, sagte sie.
»Ja.«
Gelegentlich konnten wir auch hören, wie über uns auf der Mauer ein Katapult abgeschossen wurde; beim Rückstoß federte es; beim Spannen ächzten die Seile. Man macht die Katapulte oft mit Seilen am Boden fest, da sich ihre Stellung sonst ruckartig und unberechenbar verändert; sie wirbeln herum oder rutschen sogar quer über den Wehrgang. Auf nachgiebigen Oberflächen sind sie leichter zu bedienen, da man dort die Räder eingraben kann. Ich schützte Claudia mit meinem Körper. Immer öfter hörten wir den Einschlag von Geschossen. Zwei Angriffe wurden zurückgeschlagen. Als es heller wurde und ich fürchtete, daß sie kommen und sie abholen würden, ließ ich sie dort zurück, kehrte zu meinem früheren Platz zurück und legte mich dort hin. Den Topf hatte ich dort abgestellt, wo man ihn durch die Klappe sehen konnte. Ich lag wie leblos im Stroh, als wäre ich zu schwach, um mich zu bewegen.