»Hier seht ihr Klio, die freie Frau«, verkündete ich und riß das Laken von ihrem Körper.
Sie hockte auf allen vieren in dem Belagerungsgraben und sah auf.
Rauhes Gelächter erscholl.
Ich befestigte eine Leine an ihrem Hals.
»Sie hat bereits ihren Teil zu Cos’ Sieg dazugetragen«, lachte ein Mann.
»Aber bestimmt nicht aus freiem Willen«, ergänzte grinsend sein Kamerad.
»Du hast mich angeleint!« protestierte Klio und sah mich an.
Das rief weiteres Gelächter hervor.
»Zieh lieber den Kopf ein«, riet ein Mann.
»Das ist nicht mehr nötig«, sagte ein anderer. »Die schießen nur noch selten, wenn sie kein klares Ziel haben.«
»Wo bin ich?« fragte Klio.
»Du befindest dich zweihundert Meter vor den Toren von Ar-Station«, erklärte ich.
Sie erbebte. Das hier war der vorderste der cosischen Belagerungsgräben. Selbst die Eingänge zu den Minen, die nun mit Toren verschlossen und streng bewacht wurden, lagen hinter uns. Vor uns befanden sich nur noch die Vorstoßgräben, die streckenweise mit Holzplanken abgedeckt waren; sie führten bis zu den Stadtmauern. Sie dienten nicht nur dazu, die Mauern zu unterminieren, sondern boten den angreifenden Soldaten auch Schutz. Die Errichtung von Vorstoßgräben verlangt von den Belagerern weniger Arbeit, aber sie sind natürlich viel einfacher zu entdecken und auszuschalten als die Minen. Eine Mine muß nicht an der Mauer aufhören, sondern kann weit in die Stadt hineingetrieben werden, um im richtigen Augenblick ganze Kompanien in ihre Straßen zu entlassen. Die Mauermine endet für gewöhnlich unter der Stadtmauer, wo man sie durch Stützwerk aufrechterhält. Beim nächsten Angriff brennt man die Stützen einfach ab oder, was viel gefährlicher ist, schlägt sie mit Hämmern weg, was zum Einsturz der Mine und damit der Mauer führt. Angriff und Zusammenbruch der Mauer kann man ziemlich genau koordinieren, indem man die Zerstörung der Stützen und den Sturm durch dasselbe Signal auslöst.
»Wo ist Elene?« fragte Klio. Als wir Ephialtes am Morgen verließen, hatte ich Elene aus Tyros und Klio aus Telnus mitgenommen.
»Die habe ich etwa hundert Meter hinter uns verkauft«, sagte ich.
»Was!« rief Klio.
Elenes Schulden im Krummen Tarn hatten fünfunddreißig Kupfertarsk betragen, aber ich hatte sie für vierzig Kupfertarsk verkauft, ein bescheidener, beinahe unwiderstehlicher Preis, zumindest vor dem Fall der Stadt. Eine Kompanie hatte ihr Geld zusammengeworfen. Elene würde zuerst allen dienen, später würden sie dann um sie würfeln. Ich hatte den Soldaten den Eindruck vermittelt, als sei ich der Meinung, sie sei nicht soviel wert, außerdem hatte ich so getan, als brauchte ich dringend Geld. Tatsächlich hatte ich sogar einen Gewinn mit ihr gemacht, womit ich nicht einmal gerechnet hatte. In erster Linie sollte Elene mir bei meinem Plan helfen, und das war nun geschehen.
»Ja, ich habe sie verkauft«, sagte ich als Antwort auf Klios ungläubigen Blick. Die Soldaten lachten.
»Und bevor ich sie verkaufte, hat sie getanzt.«
»Nein, bitte!« rief Klio.
Während ich die ganze Zeit so getan hatte, als wolle ich einen guten Preis für Elene erzielen, war ich durch das Netz der Gräben immer näher auf die Mauer von Ar-Station zugerückt. Ein Graben zuvor hatte ich sie dann verkauft. Ein paar der Soldaten aus diesem Vorposten waren nach hinten gekommen, um zuzusehen. Es war überhaupt nicht schwierig gewesen. In meiner Tarnung als Söldner, der zwei Frauen zu verkaufen hatte, war es leicht, sich durch die Gräben zu bewegen. Ich war den Männern später durch einen Verbindungsgang zu dem Vorposten gefolgt.
»Hast du die Beste wirklich schon verkauft?« fragte ein Mann.
»Ich weiß es nicht, es kommt auf den Standpunkt an«, erwiderte ich. »Ich zum Beispiel würde sie auswählen.«
Klio sah mich ängstlich an.
»Ich glaube, das würde ich auch«, sagte einer der Männer.
»Sie ist eine wohlgeformte Schönheit.«
»Wir sollten auch die Beste bekommen, schließlich sind wir diejenigen, die an vorderster Front stehen.«
»Bleib du auf dem Posten«, sagte ein Soldat zu seinem Kameraden; die beiden standen auf einer niedrigen Holzplattform am vorderen Grabenrand.
»Mir gefiele sie auch«, erklärte ein anderer Soldat.
Klio sah sich um. Ich beobachtete, daß ihr die Blicke und die offene Bewunderung der Soldaten gefiel.
»Laß sie tanzen«, sagte ein Mann.
Ich zog an der Leine. Klio beachtete es nicht. »Hört mir zu«, wandte sie sich an die Männer. »Soldaten aus Cos, Krieger im Dienst der Wahrheit und Gerechtigkeit, Rächer von Verbrechen, Landsleute von der anderen Seite des Meeres, ich bin Lady Klio aus Telnus, aus Cos! Ich bin eine freie Frau! Ich bitte um euren Schutz! Rettet mich vor diesem Barbaren! Bekleidet und ehrt mich! Bringt mich in Würde in die Freiheit zurück!«
»Viele dieser Burschen hier kommen nicht aus Cos, sondern sind Söldner im Dienste von Cos«, sagte ich.
Klio blickte sich um. Auf den Gesichtern der meisten Männer sah sie nichts anderes als Belustigung.
»Ich komme aus Telnus«, sagte ein Soldat.
»Ich auch«, sagte sein Kamerad.
»Dann befreit mich!« rief sie. »Ich verlange es!«
Sie lächelten.
Diese Männer waren Frontkämpfer. Sie hatten Ausfälle abgewehrt, Angriffe anderer Kompanien unterstützt und selbst Angriffe unternommen; sie waren oft eingesetzt worden und hatten ihr Leben riskiert. Die Belagerung hatte sich lange hingezogen und war erbittert geführt worden. Diejenigen unter ihnen, die nicht aus Cos kamen, kämpften für ihren Sold und etwas Beute, vielleicht für eine Frau oder zwei – und für Gold; Appelle an ihre cosische Herkunft oder ihren Patriotismus konnten sie kaum rühren. Ihre Loyalität galt sicherlich weniger Cos als ihren Hauptleuten und ihren Kameraden. Einige von ihnen hätten wohl auch zu ihrem Wort, ihrem Soldateneid und ihrem Vertrag gestanden, vorausgesetzt, sie hätten begriffen, was sie da an den Rekrutierungstischen unterzeichneten. Und was die Männer aus Cos anging, die Bürger von Tyros und ihre Verbündeten, so waren sie mittlerweile abgestumpfte Veteranen – wenn sie es nicht schon zuvor gewesen waren –, Männer, die sich kaum von den Bitten schöner Frauen rühren lassen würden, die daran gewöhnt waren, solche Frauen in Ketten zu sehen.
»Warum bist du nicht in Telnus?« fragte jemand.
Verblüfft schwieg Klio.
»Sie lebte von Männern, sie folgte ihnen und nutzte sie aus«, sagte ich. »Sie war eine Zechprellerin. Ich habe ihre Rechnung bezahlt, und darum ist sie de facto in meinen Besitz übergegangen, im Rahmen der Freikaufgesetze.«
»Wo war das?« fragte ein Soldat.
»Im Süden, an der Vosk-Straße«, sagte ich. »Im Krum- men Tarn,«
»Die Herberge kenne ich!« sagte einer der Männer.
»Ich auch«, sagte ein anderer.
»Mich hat dort mal eine Frau ausgenommen«, sagte der erste Sprecher. »Ihre Auslösung hat mich drei Silbertarsk und Reisegeld gekostet, damit sie nach Cos zurückkam. Für meine ganzen Bemühungen habe ich nicht einmal einen Kuß bekommen; sie meinte, das würde unsere Beziehung in den Schmutz ziehen, sie auf eine körperliche Ebene erniedrigen. Sie hat mir von der Mietkutsche aus, die sie fortbrachte, mit den Auslösungspapieren, die ihre Freiheit garantierten, zugewinkt und mich ausgelacht. Ich war ein Narr. Seitdem habe ich oft davon geträumt, sie in meiner Gewalt zu haben. Ich würde es ihr zeigen. Ihr Name war Liomache.«
Das war interessant. Hätte ich das gewußt, hätte ich Liomache mitgebracht. Es war durchaus möglich, daß es sich bei der Liomache, die sich noch bei Ephialtes befand, und der Frau, von der der Soldat gesprochen hatte, um ein und dieselbe Frau handelte. Falls das stimmte, wäre sie zweifellos erfreut gewesen, ihre Bekanntschaft mit dem Soldaten zu erneuern. Er wäre mit Sicherheit begeistert gewesen.
»Ich werde dir nicht noch einmal den Befehl zum Tanzen geben«, sagte ich. Klio ließ den Kopf hängen, dann begann sie, mit aufreizenden Bewegungen langsam zu tanzen. Sie machte es nicht einmal schlecht für jemanden, dem die Ausbildung fehlte.
»Großartig!« sagte ein Söldner.
»Ja, genau«, sagte ein anderer. »Sie soll weitermachen.«
Klio tanzte.
Ein bärtiger Veteran trat an meine Seite, ohne das Mädchen aus den Augen zu lassen. »Ich kaufe sie«, sagte er.
»Sie ist aber nicht billig«, erwiderte ich.
»Einen Silbertarsk!« rief er.
»Einverstanden!« Mit soviel hatte ich nicht gerechnet. Ich ging zu Klio herüber und nahm die Leine fort. Der Silbertarsk wechselte den Besitzer. Ich hatte ihn noch nicht in den Geldbeutel gesteckt, als bereits das Klicken des zuschnappenden Sklavenkragens erklang. Der Soldat hatte keinen Augenblick lang gezögert.
»Laß sie weitertanzen!« rief einer seiner Kameraden. Er nickte. Klio tanzte wieder, und die Männer traten näher an sie heran. Selbst der Posten war von seiner Plattform gestiegen und hatte sich zu ihnen gesellt.
Ich entfernte mich unbemerkt und hielt auf den nächsten Vorstoßgraben zu. An einigen Stellen war er mit Planken abgedeckt, um die Arbeiter oder die Soldaten zu schützen. Nach einer Ehn hatte ich sein Ende erreicht, etwa achtzehn Meter vor der Stadtmauer. Überall lagen Felsbrocken herum, die man vermutlich von der Mauer geworfen hatte. Einige hatten die schützenden Planken durchbrochen und steckten im Graben. Mein Herz klopfte schneller. Ich stieg aus dem Graben, schwenkte ein weißes Tuch, das genau wie auf der Erde auch auf Gor den Waffenstillstand verkündet, und kletterte den ziemlich steilen Hügel zur Stadtmauer hinauf.
»Hallo!« rief ich. »Nicht schießen! Ich bin ein Freund! Ich riskiere viel, daß ich hier bin. Mich schickt Gnieus Lelius, der Regent von Ar, ich überbringe eine Botschaft für Aemilianus! Laßt mich hinein!«
Oben auf der Mauer blieb alles still.
Es gab keine Ausfallpforten, das Stadttor lag Hunderte von Metern entfernt. Außerdem würde es in dieser Situation bestimmt nicht für einen einzelnen Mann geöffnet werden.
Ich schwenkte eifrig die provisorische weiße Flagge.
Der goreanische Brauch, einen Waffenstillstand durch eine weiße Flagge anzuzeigen, scheint auf eine direkte historische Verbindung zur Erde hinzuweisen. Man könnte glauben, daß viele goreanische Institutionen und Bräuche ihren Ursprung auf der Erde haben. Andererseits könnte es sich in diesem besonderen Fall auch um einen Zufall handeln; eine weiße Flagge verkörpert ziemlich offensichtlich die gewünschte Neutralität. Manchmal bedient man sich auch leerer Flaggen, beziehungsweise mit weißem Stoff unkenntlich gemachter Flaggen. Es gibt noch andere Möglichkeiten, um diese Absicht zu verdeutlichen, so wie das symbolische Niederlegen der Waffen, aber ich hatte in dieser Situation bestimmt nicht vor, meine Waffen abzulegen.
»Laßt mich ein!« rief ich.
Befand sich denn niemand auf der Mauer?
Ich sah zum Graben zurück. Dort schien es keine ungewöhnliche Aktivität zu geben.
»Hallo!« rief ich und schwenkte das Tuch. »Hallo!«
Nichts rührte sich.
»Ist da keiner?«
Einen verrückten, irrwitzigen Augenblick lang fragte ich mich allen Ernstes, ob die Stadt verlassen war. Das war natürlich unmöglich. Die Garnison und die Bewohner hätten nicht unbemerkt abrücken können. Das Land wurde belagert. Die Gegend wimmelte vor Cosianern und ihren Söldnern und Verbündeten. Der Hafen wurde von Flößen und Schiffen abgeriegelt. Vermutlich lag es daran, daß die Stadtmauern nur mit wenigen Männern besetzt waren. Bestimmt rief man die übriggebliebenen Verteidiger durch einen Alarm zu den bedrohten Stellen. Ich befürchtete, jeden Augenblick von den Cosianern ertappt zu werden; dann säße ich an der Mauer in der Falle.
»Ist denn da keiner?« rief ich. Ich ging davon aus, daß die Entfernung zu den cosischen Linien reichte, um nicht von ihnen gehört zu werden.
Plötzlich wurde ein an einem Seil festgemachter Korb über die Mauer geworfen und in die Tiefe gelassen.
Ich eilte darauf zu. In dem Korb lag eine goldene Tarnscheibe.
»Du bist verrückt, am Tag zu kommen!« rief eine Stimme von oben, »Schnell, leg die Lebensmittel in den Korb und verschwinde! Hoffe, daß dich niemand gesehen hat!«
Ich trat ein Stück zurück. Dann steckte ich die weiße Flagge in den Gürtel.
Der Versuch, an dem Seil hochzuklettern, war sinnlos, da sie es durchschneiden oder einfach fallen lassen konnten; falls ich oben nicht willkommen war, konnten sie mich auch einfach erstechen.
»Ich bin Tarl aus Port Kar!« rief ich. »Einer Stadt, die Cos feindlich gesinnt ist.«
»Hast du etwas zu essen?« fragte ein Mann. Ich sah sein Gesicht, neben einer der Zinnen der Brustwehr, etwa fünfundzwanzig Meter vom Fuß der Mauer entfernt. Es war hager und verschlossen.
»Ich komme von Gnieus Lelius, dem Regenten von Ar. Ich habe eine Botschaft für Aemilianus! Laß mich ein!«
Neben einer anderen Zinne erschien die Spitze einer Armbrust. Diese Zinnen sind an der Außenseite breiter als an der Innenseite, was für ein größeres Schußfeld sorgt.
»Hast du etwas zu essen?«
»Nein!«
»Dann verschwinde!«
Der Korb wurde an paar Meter nach oben gezogen.
»Laßt mich ein!« rief ich. »Seht her! Ich habe auch eine Kuriertasche, die ich einem von Artemidorus’ Kurieren abgenommen habe. Sie könnte wichtige Informationen enthalten!«
»Wie es scheint, hast du viele Gründe, warum wir dich in die Stadt lassen sollen«, sagte ein Mann.
»Nun macht schon«, erwiderte ich. »Nicht schießen!« wandte ich mich an den Armbrustschützen.
»Verschwinde!« rief ein Soldat.
»Ja, du wärst verrückt, dich in diese Stadt zu wagen«, meinte ein anderer Soldat.
»Er ist ein Spion, der hinter unsere Mauern sehen will, der unsere Verteidigung auskundschaften will!«
»Nein!« sagte ich. »Wenn ihr wollt, könnt ihr mir eine Augenbinde anlegen. Bringt mich zu Aemilianus!«
»Man hat dich gesehen«, mischte sich ein weiterer Soldat ein. Ich sah eine Hand, die auf die cosischen Linien deutete.
Ich drehte mich um. Ein paar Männer waren aus dem Graben geklettert.
»Deine Freunde rufen dich«, meinte der Armbrustschütze. Seine Waffe bewegte sich. Auf einem Sims erschien eine weitere Armbrust.
»Nicht schießen!« rief ich.
»Spion!«
»Nein! Das bin ich nicht!«
»Kämst du nicht aus Cos, hättest du nicht ihre Linien überwinden können!«
»Ich komme nicht aus Cos!«
»Und wie hast du ihre Linien dann überwunden?«
»Mit Hilfe einer List.«
Gelächter ertönte, häßliches Gelächter.
»Laßt mich ein!«
»Kehr zu deinen Freunden zurück!« rief der Armbrustschütze.
»Ich komme aus Port Kar! Ich bin ein Kurier für Gnieus Lelius. Holt Aemilianus, wenn keiner von euch das entscheiden kann!«
»Deine Freunde sind im Graben. Sie kommen dir zu Hilfe! Vielleicht schaffst du es ja, den Graben unverletzt zu erreichen. Lauf!«
Ich rührte mich nicht von der Stelle. Tatsächlich schien sich etwas in dem Graben zu bewegen.
»Laßt mich in die Stadt!« rief ich. Dann rannte ich zum Fuß der Mauer. Dort, wo ich eben noch gestanden hatte, bohrten sich zwei Armbrustbolzen in den Boden.
»Laßt mich in die Stadt!« rief ich vom Fuß der Mauer aus. Es wäre schwer, mich dort zu treffen.
»Wenn du ein Freund bist, so zeig dich!«
»Ja, komm ins Freie, wo ich dich sehen kann«, meinte eine andere Stimme lockend. Es war der Armbrustschütze.
Plötzlich prallte neben meinem Kopf ein Bolzen gegen die Mauer; er kam aus Richtung des Vorstoßgrabens.
»Sie schießen auf ihn!«
Der Soldat hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als das Feuer auch schon von der Brustwehr erwidert wurde; ein Bolzen prallte von einem der Felsbrocken ab und wirbelte durch die Luft, ein anderer bohrte sich in eine der schützenden Holzplanken über dem Graben und blieb stecken.
Ich hörte, wie der Korb die Mauer entlangschleifte, als er sich wieder senkte.
Ein Mann richtete sich über den Grabenrand auf, seine Armbrust zeigte in meine Richtung. Ich rannte auf das Seil zu, erst schnell, dann wieder langsam, wobei ich den Schützen die ganze Zeit nicht aus dem Blick verlor. Das abgefeuerte Geschoß jagte an mir vorbei und traf die Mauer. Der Cosianer hatte zu hoch gezielt. Dann hatte ich das Seil erreicht. Ich stieß mich von der Mauer ab und baumelte einen Moment lang unkontrolliert herum, dann ging es in die Höhe; halb kletterte ich, halb wurde ich gezogen. Im Graben ertönte der Befehl zum Schießen. Zwei Bolzen schlugen über mir ein. Auf der Mauer wurde zurückgeschossen. Ich kletterte weiter, zog mich fieberhaft Hand über Hand in die Höhe, wenn das Seil ruhte, wenn man es in die Höhe zog, beschränkte ich mich darauf, mich daran festzuklammern. Manchmal kletterte ich auch und wurde gleichzeitig gezogen. Dabei stieß ich mich die ganze Zeit immer wieder von der Mauer ab und baumelte vor und zurück, um den Schützen im Graben kein ruhendes Ziel zu bieten. Armbrustbolzen ließen Steinsplitter durch die Luft fliegen, ein paar ritzten mir die Haut auf, und dann, endlich, nach einem scheinbar nicht enden wollenden Aufstieg, hatte ich mit wundgescheuerten und brennenden Händen die Brustwehr erreicht, und Hände griffen nach mir und zogen mich über den Sims.
»Danke«, keuchte ich.
Man stieß mich hinter der Brustwehr auf den Wehrgang, hielt mich fest und nahm mir die Kuriertasche und alle Waffen ab.
»Zieht ihn aus und legt ihn in Ketten!« befahl eine Stimme.
Kurze Zeit später lag ich bäuchlings und nackt auf dem Laufgang, die Hände auf den Rücken gefesselt. Von den Handschellen führte eine Kette nach unten, wo sie mit der Kette zwischen den Fußschellen verschmolz.
»Ich bin Tarl aus Port Kar«, sagte ich. »Ein Kurier im Auftrag von Gnieus Lelius, dem Regenten von Ar!«
»Setzt ihm eine Haube auf«, befahl die gleiche Stimme wie vorher. »Nehmt seine weiße Flagge dazu.«
Das Tuch, das mir als Flagge gedient hatte, wurde zusammengefaltet, mir über den Kopf gestülpt und unter dem Kinn zusammengeknotet.
»Er soll knien!«
Die Soldaten zerrten mich auf die Knie.
»Das hier hatte er dabei.«
Durch die provisorische Haube konnte ich kaum etwas wahrnehmen, nicht mehr als ein paar Schatten.
»Legt ihm ein Seil um den Hals.«
Ein Schatten beugte sich über mich. Man streifte mir eine Schlinge um den Hals.
»Macht mich frei«, sagte ich. »Bringt mich zu Aemilianus! Die Botschaft in meinem Geldbeutel ist für ihn. Möglicherweise interessiert er sich auch für den Inhalt der Kuriertasche. Ich weiß es nicht. Ich habe sie einem von Artemidorus’ Kurieren abgenommen, südlich von hier, an der Vosk-Straße, in der Herberge Zum Krummen Tarn.«
»Mit verhülltem Kopf und einem Strick um den Hals wirst du nicht viel von unseren Verteidigungsstellungen sehen können«, sagte die Stimme.
»Bringt mich zu Aemilianus«, verlangte ich.
»Halt den Mund, Spion«, sagte ein Krieger.
»Ich bin kein Spion«, erwiderte ich aufgebracht.
»Wir sollten ihn aufhängen«, sagte der Krieger. »Zeigen wir den Sleen aus Cos, daß wir mit ihren Spionen keine Zeit verschwenden.«
»Ich bin kein Spion!«
»Machen wir das Seil hier fest«, fuhr der Sprecher fort. »Dann können sie zusehen, wie ihr Spion über die Mauer geworfen wird und dort hängenbleibt, keine Ihn nach seinem Eindringen in die Stadt.«
Jemand riß an dem Seil um meinen Hals.
Kräftige Hände packten mich an den Oberarmen.
»Sie haben auf mich geschossen! Ihr habt es doch gesehen!«
»Aber sie haben dich verfehlt!«
»Wäre es euch lieber, sie hätten mich getroffen?« fragte ich.
»Vielleicht wäre es für dich besser gewesen, sie hätten dich getroffen«, meinte der Soldat grimmig.
Man zerrte mich auf die Füße.
»Ich bin unter dem Schutz der weißen Fahne gekommen«, sagte ich. »Respektiert man in Ar-Station auf diese Weise die Kriegskonventionen?«
Der Griff der Männer war fest. Durch den weißen Stoff entdeckte ich links von mir die Umrisse der Zinnen. Ein Luftzug strich durch sie hindurch.
»Wartet«, sagte der Mann, der Befehl gegeben hatte, mich zu fesseln. »Wir hätten beinahe unsere Ehre vergessen. Wir danken dir, daß du uns daran erinnert hast. Natürlich beschämt es uns, daß es ein Sleen aus Cos tat. Doch das spielt keine Rolle. Daß wir daran erinnert wurden, zählt allein.« Der Soldat verstummte. »Bis zu diesem Augenblick war mir nicht bewußt, daß wir sosehr gelitten haben. Bis zu diesem Augenblick war mir nicht bewußt, daß man uns sosehr verletzt hat, daß unsere Wunden so schwerwiegend sind.«
»Ich glaube, in den Gräben formieren sich die Cosianer«, unterbrach ihn ein Soldat.
»Es ist der Morgenangriff«, sagte ein anderer Soldat müde.
»Fremder«, sagte der Mann, der von Ehre gesprochen und hier anscheinend als Offizier das Kommando hatte. »Du sollst wissen, daß dich die weiße Flagge gerettet hat. Und ich muß gestehen, daß es tragischerweise beinahe anders ausgegangen wäre. Aber nun, unter ihrem Schutz, bis du so sicher, als wärst du von Eisenmauern umgeben. Dafür sorgt die Ehre von Ar-Station. Darum gebe ich dir die Möglichkeit, zu den Männern aus Cos zurückzukehren, wenn das dein Wunsch ist.«
»Bringt mich zu Aemilianus«, verlangte ich.
»Ich halte dich für einen Spion«, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Du weißt, daß du den Schutz der Flagge verlierst, wenn du jetzt zu Aemilianus gehst«, sagte er.
»Ja.«
»Bringt ihn zu Aemilianus«, befahl er.
»Gebt mir etwas, um meine Blöße zu bedecken«, bat ich, »selbst wenn es nur ein Fetzen meiner Tunika ist.«
»Es sind viele Cosianer«, sagte der Soldat an der Brustwehr.
»Du kamst als Spion«, sagte der Offizier. »Und als gefangener Spion wirst du auch vor Aemilianus gebracht. Schafft ihn hier weg!«