Die Zugbrücken der Belagerungstürme waren noch nicht gesenkt. Die Vorderseite der Holzbauten, deren Breite in dieser Höhe etwa fünf Meter betrug, fiel senkrecht herab, damit sie genau mit der Zitadellenmauer abschlossen. Sie waren noch etwa zwei Meter weit entfernt. Die Brückenachsen, die krachend auf die Zinnen herabschwingen würden, überragten die Mauer etwa anderthalb Meter. Das verlieh den Angreifern beträchtlichen Schwung, da sie abwärts stürmen konnten, gleichzeitig war es nicht so steil, daß sie Gefahr liefen, den Halt zu verlieren. Die Höhe der Türme war nicht willkürlich gewählt. Eine simple Rechenaufgabe, denn man wußte, wie hoch die Mauer war. Aus ihrem Inneren drangen leise Geräusche; viele Cosianer drängten sich dort auf engstem Raum.
»Es ist das Warten, das mir nicht gefällt«, sagte ein Soldat in meiner Nähe.
Ich hob das Schwert und senkte es wieder. Entlang der Mauer machten sich die Verteidiger bereit. Feuer wurden entzündet.
Die Türme hatten fast fünf Ehn gebraucht, um die letzten zwanzig Meter zu überwinden.
Jetzt waren sie da.
Es gibt viele Möglichkeiten, sich solchen Belagerungsmaschinen entgegenzustellen. Die wirkungsvollste Methode, die natürlich meistens nicht durchführbar ist, da sie viel Zeit und Material beansprucht, besteht natürlich darin, die Mauer zu erhöhen. Ist genügend Zeit vorhanden, baut man tragbare, fünf Meter hohe Holzwände mit Wehrgängen und Schießscharten, die man den Türmen dann entgegenstellt. Ausfälle, um sie in Brand zu stecken, sind weniger erfolgreich, als allgemein angenommen wird. Die Türme werden gut verteidigt, außerdem erfolgt ihr Einsatz häufig erst dann, wenn die Verteidiger nicht mehr über die nötigen Mittel verfügen, um einen Ausfall zu machen. Davon abgesehen ist es schwierig, solche Konstruktionen in Brand zu setzen, und von Kommandotruppen gelegte Feuer sind meist schnell gelöscht.
Auf einen Fanfarenstoß hin senkten sich elf Brücken ratternd den Zinnen entgegen.
Sobald sie auf den Stein auftrafen, stürmten Dutzende Männer voran, brachen wie Lava aus einem Vulkan oder Wasser aus einem Geysir hervor, liefen mit hochgehobenen Schilden die drei Meter breiten Brücken entlang und griffen an. Pfähle, Piken, Steine, Draht, Stahl und Feuer stellten sich ihnen entgegen. Bei zwei Türmen kamen große Holzbalken zum Einsatz. Der eine Balken war sechs Meter lang und dreißig Zentimeter breit und steckte in einem Winkel von zwanzig Zentimetern in einem Fundament aus schnell aufgeschichteten Steinen. Zehn Männer bedienten ihn mit Seilen. Der Balken fegte einen Augenblick, nachdem die Brücke auf die Zinnen aufschlug, quer über sie hinweg, um dann, nur einmal eingesetzt, hinter die Brustwehr zu fallen. Die getroffenen Cosianer stürzten schreiend in die Tiefe, aber die nächsten Männer folgten ihnen schon und schwärmten auf die Mauer, um sich in dem an dieser Stelle gespannten Tarndraht zu verfangen, wo sie blutüberströmt ins Taumeln gerieten und von Steinen und Stahl empfangen wurden.
An den anderen Balken hatte man zwei Querbalken gebunden, die von jeweils zehn Männern gehalten wurden. Die Sturmbrücke war kaum heruntergelassen worden, als die Verteidiger mit diesem Rammbock nach vorn eilten und ihn in die Höhe hielten. Die stabile Barriere spaltete den Strom der Angreifer; viele Männer am Brückenrand wurden von ihren Kameraden unbeabsichtigt in die Tiefe gestoßen, eine Gefahr, mit der man in der Schlacht auf einer solchen Brücke jederzeit rechnen muß. Soldaten klammerten sich an dem Balken fest oder versuchten, unter ihm hindurchzukriechen oder über ihn hinwegzuklettern, aber die Verteidiger nutzten den von ihnen eroberten Platz, kletterten auf die Zugbrücke, stellten sich dem Angriff entgegen und nagelten den Feind zwischen Turm und Mauer fest.
Auf zwei der Sturmbrücken begrüßte man die Angreifer mit einem Hagel aus Steinplatten und großen Ziegelsteinen, was weniger den Angriff zum Stocken bringen als vielmehr die Brückenbeschaffenheit trügerischer machen sollte, damit die heranstürmenden Männer darüber stolperten und zu Fall gebracht wurden. Außerdem drängten die nachfolgenden Soldaten, die die Leitern im Turminneren erklommen, ihre bereits im Freien befindlichen Kameraden weiter vorwärts. Auch hier war Tarndraht gespannt worden, in dem sich diejenigen verfangen sollten, die es bis zur Brustwehr schafften.
Ich hatte die hinteren Stützen der beiden Katapulte mit Holzkeilen erhöhen lassen, damit der Schußwinkel flacher wurde. Die rechteckigen großen Öffnungen, die von den heruntergelassenen Sturmbrücken enthüllt wurden, machten es möglich, auf kürzeste Entfernung zu treffen. Die Ladung des ersten Katapults bestand aus Tausenden kleiner Steinsplitter und Metallstücke, während wir das zweite Katapult mit einem großen Felsblock luden, der über eintausendfünfhundert Pfund wog und der von fünf Männern auf den Wehrgang gewälzt werden mußte.
Das erste Katapult feuerte seine kleinen Geschosse mitten in die erste Welle der Angreifer hinein und verwundete Männer, verbeulte Schilde und zerfetzte Uniformen. Das zweite Katapult schleuderte den Felsen zwischen die überraschten Soldaten, und hätten ihre zerschmetterten Körper seine Wucht nicht gedämpft, hätte er noch die Rückwand des Belagerungsturms durchschlagen. Die Verteidiger kletterten auf die beiden Brücken und trieben den Feind so weit zurück, daß der Nachschub auf den Leitern ins Stocken geriet. Vor einem anderen der elf Belagerungstürme hatten wir einen Treppenaufgang vergrößert indem wir Teile des Wehrganges einschlugen. Hier sprang der anstürmende Feind in eine Öffnung, die nun je zur Hälfte Fallgrube und Treppe war. Unten warteten Männer mit Äxten, die sich um jene kümmerten, die sich noch rühren konnten. Ein anderer Sturmangriff, den wir unmöglich hätten aufhalten können, raste mitten in eine Feuerwand. Wir hatten mit Pech getränkte Holzscheite genommen, die man nachts an Drähten und Ketten über die Mauer hängt, um herannahende Angreifer zu beleuchten, und sie ihnen bündelweise in den Weg gelegt. Vor einem der Türme kämpften Fischer vom Vosk, die zufällig in der Stadt gewesen waren, als die Cosianer den Belagerungsring geschlossen und alle eingesperrt hatten, neben diesen schlugen sich Jäger aus dem Landesinneren, die wohl ein ähnliches Schicksal getroffen hatte. Die Fischer hatten ein Netz dabei, zweifellos aus ihrem kleinen Boot. Ein Netz kann im Kampf von großem Nutzen sein. Es kann Männer auf den Sturmleitern abwehren. Man kann damit Korridore absperren. Man kann mit Piken durchstechen oder Pfeile zwischen den Maschen abfeuern. Im Feld kann es als Grundlage für die Tarnung dienen, mit der man Stellungen vor den Augen der Tarnsmänner verbergen will. Als man mich um die Erlaubnis bat, es einsetzen zu dürfen, willigte ich sofort ein, erfreut, die unerwartete und willkommene Hilfe eines Netzes zu haben. Netze werden natürlich auch auf See eingesetzt, um Entermannschaften abzuwehren. An beiden Zugbrücken wurden die Angriffe von den funkelnden Spitzen eines Pikenwalls aufgehalten, wobei je zwei Männer eine Pike hielten. An der Zugbrücke der Fischer wurde das Netz geworfen, aber man hatte die Gewichte ausgetauscht. Statt Steinen baumelten an den Enden nun Holzklötze, die man, sobald sich jemand darin verfangen hatte, über die Brustwehr stieß.
An der Brücke der Jäger warf man Tarndrahtschlingen über die Angreifer; wenn der Gegner versuchte, sich von ihnen zu befreien, stellte er zu seinem Entsetzen fest, daß man sie zusammenzog und er in die Tiefe gerissen wurde. Jäger benutzen solche Schlingen bei ihrer Arbeit, und sie wissen, wie man sie mit Gewichten versehen muß.
Durch den Erfolg der improvisierten Waffen der Jäger und der Fischer geriet der Vorstoß an beiden Belagerungstürmen ins Stocken, was den Verteidigern ermöglichte, deren Platz auf der schwankenden Brücke zu übernehmen, wo sie schon Augenblicke später den Durchgang zum Turminneren erkämpft hatten. Vor dem letzten Turm hatte man einfach einen der fast unsichtbaren Tarndrähte in Halshöhe zwischen zwei Pfosten gespannt. Normalerweise faßt man solchen Draht nur mit Handschuhen an. Er kann bis auf den Knochen schneiden. Er kann einem Tarn den Flügel kosten, Ich glaube nicht, daß die ersten Soldaten, die auf die Brustwehr zustürmten, ihn überhaupt bemerkten. Ihre zerschnittenen Körper waren ein Hindernis für die nachfolgenden Männer. Von allen Seiten stachen nun Piken auf die Brücke ein, die ein Stück in die Zitadelle hineinragte. Während sich dies alles abspielte, flogen Hunderte von Wurfhaken über die Brustwehr, und die daran befestigten Seile ächzten unter der Last der mit aller Kraft nach oben kletternden Soldaten, während Hunderte von Leitern an die Mauer gelehnt wurden. Die Männer aus Ar-Station eilten den Wehrgang entlang und durchschnitten so viele Seile wie nur möglich, und wo sie konnten, stießen sie die Leitern mit den langen Dreizacken zurück. Sie gossen siedendes Öl auf die nach oben kletternden Cosianer. Brennende Soldaten sprangen von Leitern und Seilen. Aber trotzdem schafften es viele über die Mauer.
»Wir können sie nicht aufhalten!« rief ein Soldat aus Ar-Station.
Verstärkung kam die Treppen hinaufgelaufen. Auf dem Wehrgang wimmelte es nur so von Männern.
Die Verteidiger hatten in zwei Türmen die oberste Plattform erobert und gossen nun brennendes Öl in die Schächte. Auf zwei anderen schlugen Männer mit Äxten auf die Zugbrücken ein, um sie abzutrennen.
Ich sah, wie Armbrustbolzen auf kurze Entfernung abgefeuert wurden.
Klingen trafen aufeinander.
Ein Cosianer krümmte sich zusammen und stürzte von der Mauer.
Ich sah, wie einer unserer Leute von einer Klinge durchbohrt wurde, auf ein Knie sackte und über den Rand des Wehrgangs in den Innenhof fiel.
Ich sah, wie ein Verteidiger mit einer Fackel in der Hand aus einem Turm lief. Aus der Öffnung hinter ihm quoll Rauch. Belagerungsgeräte lassen sich leichter von innen anzünden als von außen. Andere Soldaten trugen brennende Holzscheite und mit Pech beschmierte Piken in einen Turm, der bereits in Flammen stand.
An einer anderen Stelle sprangen Männer zurück auf den Wehrgang, während hinter ihnen die durchtrennte Brücke zu Boden stürzte.
Schwitzende Cosianer, deren Augen hinter den Helmschlitzen einen wilden Ausdruck trugen, ließen die Seile und Leitern hinter sich und kämpften sich den Weg frei.
Eine der Katapultbesatzungen hatte ihr Geschütz mit einem weiteren großen Stein geladen. Mit gekrümmten Rücken drehten sie die Kurbel an der Winde, um den Wurfarm zu spannen. Einer von ihnen sackte über der Kurbel zusammen, einen Armbrustbolzen im Rücken. Dann wurde plötzlich der Riegel gelöst, und der mächige Wurfarm schleuderte vorwärts; der Stein krachte gegen einen Belagerungsturm; er wurde ein Stück herumgerissen und schwankte einen Augenblick lang, aber er fiel nicht. Doch die Zugbrücke ragte nun nur noch ins Leere.
Am linken Ende der Mauer beobachtete ich, wie immer mehr Cosianer aus ihrem Turm strömten. Der Tarndraht hielt sie nicht mehr auf. Sie überwanden das Hindernis buchstäblich auf den Rücken ihrer gefallenen Kameraden, so wie man eine Furt auf ein paar Steinen überquert. Ich schickte die kleine Reserve los, die ich hatte, um diesen Teil des Wehrgangs abzuriegeln. Da der Gang recht schmal war, hoffte ich, daß zwanzig Mann ihn gegen eintausend halten konnten, da von den Tausend immer nur zwanzig an der Spitze kämpfen konnten. Aber die Tausend waren gut genährt und stark, es waren richtige Soldaten, keine zusammengewürfelte Gruppe halb verhungerter Angehöriger der verschiedensten Kasten, von denen nicht mal einer von zehn der Kriegerkaste angehörte und kaum einer von fünf an den Waffen ausgebildet worden war.
Ich hatte meinen Befehlsstand über dem Haupttor aufgeschlagen, auf der erhöhten Plattform, auf der sich der Spieß in den Himmel erhob und die Flagge von Ar-Station noch immer trotzig im Wind flatterte. Es war ein guter Ort für einen Befehlsstand. Hier war die Mitte der Zitadellenmauer. Hier hätte ich Aemilianus erwartet.
Immer mehr Cosianer drängten auf die Mauer. Überall auf dem Wehrgang bildeten sie Brückenköpfe, wo der Kampf am heftigsten tobte. Die Männer, die ich zum westlichen Mauerende geschickt hatte, waren daran vorbeigelaufen. Ich habe oft erlebt, daß sich in einer Schlacht seltsame Dinge abspielen, die unerklärlich scheinen, und trotzdem geschehen sie. Ich habe häufig beobachtet, wie ein Mann sich seinen Weg zwischen den Kämpfenden bahnt, wie in einer Menschenmenge auf einem Markt, und niemand stellt sich ihm in den Weg oder schenkt ihm die geringste Aufmerksamkeit. Aber sobald ein Blickkontakt hergestellt wird, entbrennt ein Kampf bis zum Tod. Oder zwei Männer kämpfen Seite an Seite gegen zwei Gegner, dabei sind sie Feinde. Das reiterlose Tharlarion oder Kaiila gehorcht wie das reiterlose Pferd auf der Erde dem Fanfarensignal und greift an oder tritt den Rückzug an. Aber manchmal stehen die Tiere auch einfach nur ruhig da, während sich um sie herum der erbittertste Kampf abspielt. Ich habe gesehen, wie Verwundete von ihren Trägern durch die Ränge der Kämpfenden getragen werden, während andere in aller Ruhe einen Toten plündern, obwohl um sie herum Klingen durch die Luft sausen. Manchmal bemerkt man in einer kurzen Atempause Dinge, denen man sonst nie Beachtung geschenkt hätte, den Lauf einer Ameise oder das unregelmäßige Muster eines Wasserflecks auf einem Stein, das der Beschaffenheit der verwitterten Oberfläche folgt.
Ich erinnere mich an eine Geschichte, die mir ein Krieger über einen Mann erzählte, der neben ihm auf dem Schlachtfeld starb. Der Mann lag auf dem Rücken, und seine letzten Worte lauteten: »Der Himmel ist sehr schön.« Wie mir der Erzähler versicherte, sah der Himmel in diesem Augenblick nicht anders aus als sonst auch. Diese Geschichte kann man nur schwer verstehen. Vielleicht hatte der Sterbende etwas anderes gesehen, oder aber er hatte in diesem Augenblick die Schönheit des Himmels erkannt. Ich ließ die Blicke schweifen und sah einen Mann aus Ar-Station, der mitten auf dem Dach eines Belagerungsturms stand. Er stand einfach da und schien die Aussicht zu bewundern. Ich bezweifelte nicht, daß sie atemberaubend war. Er winkte mir zu. Ich hob das Schwert und salutierte ihm. Plötzlich löste sich zu meiner Rechten ein Cosianer aus einer Gruppe von Kämpfenden und stürmte mit gezücktem Schwert die Treppe zu mir hinauf. Vermutlich wollte er die Ehre erringen, den Befehlshaber der Verteidiger zu töten. Doch dann spritzte unter seinem Helmrand Blut hervor, und er stürzte rücklings die Stufen hinunter.
Im Osten standen vier Belagerungstürme in Flammen.
Keine zwanzig Meter von mir entfernt wurde ein Seil durchtrennt, und Männer stürzten schreiend dem Boden entgegen.
Auf zwei Türmen schlugen Verteidiger auf die Kästen ein, in denen sich die Ketten verbargen, an denen man die Zugbrücken hinabließ. Nur wenige Brücken wurden mit Seilen bedient. Die hatte man einfach durchtrennt, und die Sturmbrücken hingen nun nutzlos von den Türmen hinunter. Die Cosianer versuchten, den gähnenden Abgrund mit Planken zu überwinden. Ich bezweifelte keinen Augenblick lang, daß man die Türme früher oder später unmittelbar an die Mauer fuhr. Das geschieht aus verschiedenen Gründen nicht beim ersten Angriff. Der Turm gelangt in die unmittelbare Reichweite der Verteidiger, die dann die Häute herunterreißen und den Turm mit brennendem Pech beschmieren oder ihn nach Belieben stürmen könnten. Außerdem kann man so verhindern, daß die Zugbrücken heruntergelassen werden, indem man sie mit Pfählen blockiert oder aber Eisenstäbe in die Ketten steckt. Es ist vorteilhafter für den Angreifer, den Turm ein Stück abseits der Mauer in Stellung zu bringen, dann hat man die Zugbrücke besser unter Kontrolle. Man kann sie bei einem Rückzug wieder in die Höhe ziehen und die Belagerungsmaschine auf diese Weise in eine uneinnehmbare Festung verwandeln, nur um sie irgendwann, vielleicht sogar in der Nacht, wieder zu senken und erneut einen Strom von Angreifern über ihre Planken zu schicken.
Ich sah einen Mann, der am Fuß der Mauer brennend davonlief, stürzte und sich am Boden wälzte.
Das dumpfe Dröhnen des Rammbocks hielt an. Allerdings klang es nun verändert. Ich fragte mich nach dem Grund.
Dann glaubte ich, das Schaben einer Leiter zu hören, die in meiner Nähe an die Mauer gelehnt wurde. Das überraschte mich, da die Brustwehr über dem Tor höher als selbst die längste Sturmleiter war.
Ich beobachtete, wie noch mehr Cosianer aus einem Turm quollen, die Brücke entlangliefen und im Tarndraht endeten, wo sie schon die Piken der Verteidiger erwarteten. Von meiner erhöhten Stellung aus konnte ich am Fuß der Mauer Hunderte von Cosianern und ihre Verbündeten sehen. Sie waren etwa neunzig Meter von der Zitadelle entfernt und schienen in aller Ruhe dem Kampf zuzusehen.
Hier und da versuchten die Verteidiger, Holzpfähle unter die Brückenenden zu stemmen. Es befanden sich Cosianer und Verteidiger auf der Brücke, was die Männer auf der Brustwehr aber nicht von ihren Versuchen abhielt. Bei zwei Türmen waren diese Bemühungen erfolgreich gewesen und die Brücken wieder oben. Aber die Cosianer hieben von innen auf die Planken ein, wobei sie die Brücken fast zerstörten, und zwangen sie wieder herunter.
Am Fuß der Mauer ertönte das gequälte Brüllen eines Tharlarion, und ich sah, wie man einige Echsen aus ihrem Geschirr befreite und sie von den brennenden Türmen fortführte. Eines riß sich los und rannte trotz der beruhigenden Rufe seines Führers auf die Stadt zu, und die Männer an den Belagerungsgeräten sprangen beiseite, um es vorbeizulassen.
Zu meiner Überraschung entdeckte ich in diesem Augenblick, wie nur wenige Schritte von mir entfernt eine Leiter zwischen zwei Zinnen auftauchte. Ich lief zu ihr hin und stieß mit dem Schwert nach dem Soldaten, der bereits die Hand halb auf der Innenseite der Brüstung hatte. Er kippte zurück und stürzte in die Tiefe. Der Mann unter ihm hielt den Schild hoch. Ich kam nicht an ihn heran, aber im Gegenzug konnte er mich ebenfalls nicht angreifen. Ich beugte mich über die Brüstung und suchte mit der linken Hand einen sicheren Halt. Mein Gegner erklomm die nächste Sprosse, und ich trat den Schild beiseite. Die Schildriemen hätten ihn beinahe von der Leiter gerissen, er rutschte ein paar Sprossen hinunter, fing sich aber wieder. Er sah nach oben. Ich konnte ihn nicht erreichen. Etwas raste kaum wahrnehmbar an mir vorbei und hinterließ einen bedrohlichen Laut Dann zerschnitt etwas wie ein Messer meine Maske.
Ein Krieger versuchte, an dem Mann mit dem Schild vorbeizuklettern. Er hielt einen Speer. Im nächsten Moment war er eine Sprosse höher. Das Speerblatt zuckte in die Höhe und kratzte über die Innenseite der Zinne. Meine Hand schnellte vor, und ich ergriff den Speerschaft unmittelbar hinter der Spitze. Der Cosianer hielt ihn mit beiden Händen fest. Ich wollte den Speer haben. Doch aus meiner Position heraus konnte ich nicht genügend Hebelkraft gewinnen, um die Pfosten der Leiter zu bewegen. Er ließ nicht los. Dann glitt er von der Sprosse ab und baumelte in der Luft. Ein Armbrustbolzen prallte keine dreißig Zentimeter von meinem Gesicht entfernt gegen die Außenwand der Mauer. Es war, als hätte man einen Pickel in einen Block Eis gerammt, nur mit dem Unterschied, daß die umherfliegenden Splitter hier aus Stein waren. Der Cosianer klammerte sich verbissen an seinem Speer fest. Begriff er denn in diesem Augenblick des Entsetzens nicht, was ihn da eigentlich hielt, daß er nicht an dem Speer hing, sondern letztlich an mir? Ich sah ein, daß ich den Speer nicht bekommen würde und ließ los. Der Cosianer unternahm den verzweifelten Versuch, nach der Leiter zu greifen, aber er schaffte es nicht. Ich zog mich ein Stück zurück. Wieder zischte etwas wie ein Atemhauch an meinem Ohr vorbei. Ich hörte, wie ein weiterer Angreifer hinaufkletterte, und dann noch einer. Rufe ertönten. Ich blickte zwischen den benachbarten Zinnen hindurch. Der Mann mit dem Schild hing noch immer mit einem Fuß in der Luft. Einer seiner Kameraden kletterte an ihm vorbei auf die Brustwehr zu. Ich kehrte an meinen ursprünglichen Standort zurück, um mich ihm entgegenzustellen, aber gerade, als er in Reichweite kam, ertönte ein Geräusch, als würde eine Faust auf Leder treffen, und er riß überrascht die Augen auf. Sein ganzer Körper versteifte sich, er warf Arme und Kopf zurück und stürzte in die Tiefe. Aus seinem Rücken ragte ein Armbrustbolzen.
Doch hinter ihm kam bereits der nächste Cosianer, und ich stellte mich ihm entgegen. Er wehrte meinen Schlag mit seiner Klinge ab. Das gelang ihm auch noch ein zweites Mal. Beim drittenmal schaffte er es nicht mehr. Er klammerte sich an der Leiter fest, verzerrte das Gesicht und rutschte blutverschmiert ein paar Sprossen in die Tiefe, bis er sich einen oder anderthalb Meter unter mir befand. Ich sah mich rasch um. Dann schob ich das Schwert in den Gürtel, an dem sich mein Geldbeutel und der Dolch in seiner Scheide befanden, und zwar beide an der linken Seite. Ich rannte zu dem Spieß und stemmte ihn aus seiner Halterung. Die Sklavin, die einst Lady Publia gewesen war, fing wild an zu zappeln und warf den Kopf herum, als wolle sie durch die Haube hindurchblicken, dabei stieß sie durch den Knebel einen fragenden, hilflosen, verängstigten Laut aus. Ich legte den Spieß auf den Boden, stemmte den Fuß gegen die Schwertscheide, den Gürtel und das Seil und zog kräftig, bis ich die Waffe in der Hand hielt.
Ich eilte zurück zur Sturmleiter. Ein Cosianer erschien gerade am Sims, und ich stieß mit dem langen Spieß nach ihm. Die Spitze war stumpf, doch das war Absicht, damit die Pfählung lange dauerte. Aber da ich soviel Anlauf genommen hatte, durchbohrte sie den Soldaten und stieß ihn von der Leiter. Einen Augenblick lang wand er sich auf dem Spieß, dann stürzte er hinunter. Ich glaube, er prallte ein paar Meter tiefer noch einmal gegen die Leiter, denn ein Mann schrie auf.
Mit dem fünf Meter langen Spieß bewaffnet – was der Länge eines in der dritten oder vierten Reihe eingesetzten Phalanxspeeres entsprach – beugte ich mich über den Sims, und es gelang mir, die Spitze hinter die oberste Leitersprosse zu setzen. Niemand war in meiner Nähe. Der nächste Cosianer war der Schildträger, der sich eben zurückgezogen hatte. Er blickte auf, warf den Schild beiseite und begann mit aller Kraft auf den Spieß zuzuklettern, dann verharrte er. Die Leiter wurde von der Mauer fortgedrückt, vielleicht einen Meter. Ich verdoppelte meine Anstrengungen, und sie stand senkrecht da, allein von dem Spieß gehalten. Ein paar der Cosianer auf den unteren Sprossen sprangen bereits hinunter. Andere warfen sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Sturmleiter, um sie wieder nach vorn zur Mauer zu zwingen. Einige wiederum klammerten sich einfach nur fest. Ich ging einen Schritt zurück und stemmte mich erneut gegen den Spieß. Die Leiter schwankte. Sie mußte umkippen! Aber sie tat es nicht. Statt dessen krachte sie gegen die Mauer, als der Spieß abrutschte. Ich setzte ihn erneut an, und die oberste Sprosse brach. Ich wünschte mir, ich hätte einen Dreizack oder eine der scharfen stählernen Halbmondklingen, die an einem Metallschaft befestigt und für eine solche Arbeit wie geschaffen sind. Der ehemalige Schildträger kletterte auf mich zu. Ich versuchte es erneut, und diesmal gelang es mir, die Spitze unter den linken Leiterpfosten zu zwängen. Ich drückte mit aller Kraft. Der Cosianer schlug die Eisenspitze aus dem Holz, aber ich trat zurück und stieß erneut zu, wobei ich ihn zwischen Arm und Körper traf. Der Spieß verfing sich in seiner Tunika. Ich hoffte, seine Furcht gegen ihn benutzen zu können, seinen Widerwillen, die Leiter loszulassen, aber bevor ich ihn weit genug nach hinten drücken konnte, ließ er mit einer Hand los und drehte den Körper, so daß sich die Eisenspitze wieder löste. Ich gab nicht auf, und es gelang mir, den anderen Pfosten zu treffen. Die Sturmleiter rückte wieder von der Brustwehr ab, ich schob den Spieß einen halben Meter weiter vor, und dann noch einen, wobei meine schweißfeuchten Hände auf dem rutschigen Metall abzugleiten drohten, und einen Augenblick lang stand die Leiter senkrecht in der Luft. Einen Augenblick lang war der Ausgang ungewiß, und ich wußte nicht, ob ich es endlich geschafft hatte. Aber dann sprangen Männer aufschreiend in die Tiefe, und ich sah, wie sich die Leiter auf dem linken Pfosten drehte, woran zweifellos mehr die hektischen Bewegungen der Cosianer schuld waren als meine Bemühungen, und dann kippte sie um und zerbrach. Ich zog mich von dem Sims zurück, und zwei Armbrustbolzen verfehlten mich knapp. Vermutlich hatte mich die ganze Zeit, während ich mich mit der Sturmleiter abmühte, jemand unter Beschuß genommen, denn ich entdeckte mindestens einen neuen Kratzer im Stein. Ich hatte es nicht einmal bemerkt, obwohl ich die Treffer hätte hören müssen. Erst jetzt, im nachhinein, glaubte ich mich an seltsame vorbeizischende Geräusche zu erinnern.
Einer der beiden Burschen, die mir vor dem Angriff auf dem Wehrgang wegen ihrer Jugend aufgefallen waren, erschien auf der Plattform. Er hatte nur noch zwei Geschosse, eines steckte in der gespannten Armbrust, das andere hielt er in der Hand; es waren nicht einmal vernünftige Bolzen, sondern nur angespitzte Holzpflöcke. Selbst die stumpfen Bolzen, die eigentlich für die Vogeljagd bestimmt waren, hatte er verschossen. Ich hatte ihn und seinen Freund als Boten eingesetzt, ihn für den Westteil der Mauer, den anderen für den Ostteil, in der Hoffnung, sie auf diese Weise aus dem Kampfgetümmel heraushalten zu können. »Sie können den Wehrgang nicht länger halten!« rief er. »Die Frontlinie bricht!«
Ich gab ihm neue Befehle, und er rannte zurück. Selbst wenn ich mit meinem Plan Erfolg hatte, würde ich den Wehrgang in der Nähe des Befehlsstandes nur noch wenige Ehn halten können. Ich sah nach Osten. Dort stürmte die nächste Abteilung Cosianer aus dem Belagerungsturm und stolperte über die im Tarndraht verfangenen Toten und Verletzten. Männer stellten sich ihnen mit Piken und Äxten in den Weg. Die Schläge des Rammbocks drangen mir wieder ins Bewußtsein. In den letzten paar Ehn hatten sie sich irgendwie anders angehört. Und wieso hatte die Sturmleiter bis zu meinem Befehlsstand reichen können? Ich ging zu den Zinnen, beugte mich über die Mauer und sah, daß das Dach des Unterstandes schräg aufwärts zeigte. Sie hatten vor dem Tor einen Hügel aus Trümmern, Sand, Felsbrocken und Leichen errichtet und den Rammbock die Schräge hinaufgestemmt. So landeten die Schläge auf der oberen Torhälfte, weit über der Barriere, die die Verteidiger auf der anderen Seite zur Verstärkung des Tores aufgeschüttet hatten. Darum klangen die Schläge des Rammbocks so verändert. Welche Anstrengungen es gekostet haben mußte, den langen Unterstand den steilen Hügel hinaufzuzwingen, wie mühsam die Arbeit der Männer an den Seilen sein mußte, den großen Rammbock aufwärts zu schwingen! Zwischen seinen rhythmischen Schlägen konnte ich die Hiebe unzähliger Hämmer und Äxte hören sowie das Klirren von Brechstangen und Meißeln; Eisen kreischte, als Männer versuchten, die Beschläge des Tores zu zertrümmern, um die Platten dann abzustemmen. Die Sturmleiter hatte nur wegen des künstlichen Hügels bis zur Brustwehr gereicht.
Ich trat zurück und richtete meine Aufmerksamkeit auf die Westmauer. Die Verteidiger, die den Wehrgang bislang gehalten hatten, zogen sich plötzlich zurück. Sie hatten hinter einem Wall aus Toten gekämpft, der aus Cosianern und ihren eigenen Leuten bestand. Die Cosianer schienen einen Augenblick lang verblüfft, dann setzten sie jubelnd über die Leichen hinweg und nahmen die Verfolgung auf. Die Verteidiger blieben bei dem großen Kessel stehen, aus dem man die ganze Zeit mit dem kleinen Eimer Öl geschöpft hatte, stemmten sich gegen die Tragestangen und kippten ihn um. Brennendes Öl ergoß sich über den Wehrgang. Die Masse der Cosianer kam vor der breiten Flammenwand zum Stehen, einige liefen jedoch mitten in sie hinein. Viele starben in den Flammen. Andere drehten sich um und rannten brennend und schreiend zu ihren Kameraden zurück. Einige wenige schafften es bis auf die andere Seite und wurden dort niedergemacht. Zwar hatten wir mit diesem Rückzug den westlichen Wehrgang aufgegeben, aber dadurch verkleinerte sich das Gebiet, das verteidigt werden mußte, was wiederum die Anzahl der Verteidiger erhöhte. Die Cosianer, die die Mauer überwunden hatten, sahen sich nun einer viel stärkeren Gegenwehr gegenüber. Einige zogen sich sogar zu den Belagerungstürmen zurück, von denen vier lichterloh brannten. Ich sah, wie sich einige Soldaten trotzdem auf die Zugbrücken wagten, die unter ihnen zusammenbrachen.
Im Osten hatten die Cosianer an Boden gewonnen und den Tarndraht hinter sich gelassen. Die Männer aus Ar-Station wurden Schritt für Schritt zurückgedrängt. Der Feind erhielt immer mehr Verstärkung, die sich beeilte, in den Kampf einzugreifen. Der Wehrgang konnte nicht mehr lange gehalten werden.
Ich ging müde zu der gefesselten Sklavin, die nackt und mit verhülltem Kopf auf den Steinplatten lag. Mit dem Fuß drehte ich sie auf den Rücken. Ich ging in die Hocke, schnallte den Schwertgürtel auf und drehte sie wieder auf den Bauch. Dann zog ich die Scheide unter den Seilschlingen hervor, die vom Spieß völlig verbeult war. Mit Händen und Füßen drückte ich sie so flach, wie es nur ging. Die Klinge paßte nun wieder einigermaßen hinein. Ich schnallte mir den Gürtel um und führte den Riemen über die rechte Schulter, wobei die Scheide auf der linken Hüfte ruhte, wie man sie auf dem Marsch trägt. Dies war eine sichere, stabile Trageweise. Der Vorteil des Tragens über der linken Schulter, wobei die Scheide an der linken Hüfte endet, liegt darin, daß man Gürtel und Scheide schnell abstreifen und sich einer möglichen Behinderung entledigen kann.
Der junge Armbrustschütze kam. Er hatte nur noch einen Bolzen. »Die Flammen auf dem Wehrgang verlöschen.« Er sah die Sklavin an. »Sie ist ja noch am Leben«, sagte er verblüfft.
»Ja.«
»Wie kann das sein?«
»Was glaubst du?« fragte ich.
»Ein Trick?«
»Ja.«
»Aber ich habe sie gepfählt auf dem Spieß hängen gesehen.«
»Sie war nur daran gefesselt, nicht gepfählt«, erwiderte ich.
»Wirst du sie jetzt töten?« fragte er.
»Nein. Nicht, wenn sie gehorcht.«
»Du sprichst von ihr wie von einer Sklavin.«
»Bist du eine Sklavin?« fragte ich das Mädchen. »Ein Laut heißt ja, zwei bedeuten nein.«
Sie stieß einen Laut aus.
»Das ist nicht Lady Claudia«, stieß der Junge hervor.
»Das geht dich nichts an.«
»Wo ist Lady Claudia, die Verräterin?«
»Das weiß ich nicht.«
»Es ist, wie Caledonius gesagt hat«, meinte er. »Du bist nicht Marsias.«
»Nein«, sagte ich. »Ich bin nicht Marsias.«
»Wer bist du dann?«
»Ich bin der Mann, den du als deinen Hauptmann anerkannt hast,«
»Ja, Hauptmann«, erwiderte er und hob die Armbrust zum Salut.
Ich gab ihm neue Befehle, nach deren Ausführung er wieder zur Plattform zurückkehren sollte. Dann bückte ich mich und löste die Fußfesseln meiner Sklavin. In diesem Augenblick kam der andere junge Bursche, der als Bote auf der Ostmauer diente, keuchend die Treppe heraufgestürmt.
»Sie brechen durch!«
Darauf hatte ich gewartet.
Auch er war überrascht, als er die Sklavin sah. »Das ist nicht Lady Claudia«, sagte er. Daraufhin ignorierte er sie. »Sie haben Bescheid gegeben. Das Tor geht in die Brüche.«
Ich gab ihm die gleichen Befehle wie seinem Gefährten; auch er sollte anschließend zu mir zurückkehren.
Danach begab ich mich noch einmal zur Brustwehr und ließ den Blick über den verbrannten, geschleiften Boden schweifen, die Belagerungsmaschinen, die Soldaten, die zerstörten Gebäude in der Ferne. Im Osten der Stadt gab es noch immer Rauchwolken. Dort brannte es schon seit Tagen, Ich konnte sogar die weit entfernte Stadtmauer sehen. Es schien schon so lange her zu sein, daß man sie durchbrochen hatte. Dann holte ich langsam die Flagge von Ar-Station ein. Das würden nicht die Cosianer tun. Ich verzichtete darauf, an ihrer Stelle ein anderes Tuch zu hissen.
»Wir haben uns bis zur Westtreppe zurückgezogen«, verkündete der Armbrustschütze atemlos den Vollzug meiner Befehle.
»Nimm die Sklavin und bring sie zu den Frauen und Kindern. Dann gehst du zu der Stelle des Wehrgangs, die an der Plattform hier vorbeiführt. Dort findest du Sklavenringe im Boden. Nimm ein langes Seil und mach es dort fest.« Er nickte. »Dann gehst du zu deinen Kameraden und wartest auf mein Zeichen.«
»Ja, Hauptmann!«
Er wandte sich der Sklavin zu. »Hoch mit dir, Frau!« Die einstige Lady Publia gehorchte. Ich sah den beiden nach, wie sie die Treppe zum Wehrgang hinuntergingen.
Der andere Junge kam die Osttreppe hinauf.
»Die Fahne!« rief er.
Ich gab sie ihm. »Behalte sie«, sagte ich. »Eines Tages flattert sie vielleicht wieder im Wind.«
Tränen glitzerten in seinen Augen.
»Kehre zu deinen Kameraden zurück«, sagte ich. »Achte auf mein Signal. Ich werde mich hinter die Plattform stellen und es von dort aus geben.«
Er eilte fort.
Ich blickte über den Rand der Plattform. Der Schütze hatte sich zu seinen Kameraden gesellt. Er stand in der letzten Reihe.
Sein Gefährte stand auf der anderen Seite; er hatte sich in die Flagge gehüllt.
Es war wichtig, den Rückzug auf beiden Wehrgängen aufeinander abzustimmen, damit er geordnet durchgeführt wurde und es zu keinen Flankenangriffen kam. Ich glaubte, den Männern etwas Zeit verschaffen zu können, indem ich den Cosianern scheinbar eine erstrebenswerte Trophäe anbot: die Gefangennahme des Mauerkommandanten. Ich ging davon aus, daß sie in Anbetracht der an diesem Nachmittag erlittenen Verluste daran interessiert waren.
Unten ertönte das Pochen des Rammbocks; in die dröhnenden Schläge mischten sich die unverkennbaren Geräusche brechenden Holzes und zerspringender Eisenbeschläge.
Ich stieg die Treppe hinunter und eilte hinter die Plattform. Wie überall lagen auch hier Tote und Verwundete, sowohl Angreifer als auch Verteidiger. Ein verwundeter Cosianer sah mich und versuchte, auf die Beine zu kommen. Er war blutüberströmt. Sein Bart war blutverkrustet. Seinen Helm hatte er verloren. Er konnte kaum die Klinge heben.
»Wie stehen die Dinge in Cos?« fragte ich.
»Gut«, antwortete er.
»Leg die Klinge nieder«, schlug ich vor.
Er überlegte einen Moment lang und zuckte dann mit den Schultern. Er konnte sie kaum halten.
Ich trat sie ihm aus der Hand.
»Es scheint, als gehörte der Tag euch«, sagte ich.
»Das ist wahr«, flüsterte er.
»Ruh dich aus.«
Er taumelte gegen die Mauer der Plattform, nicht weit von den Sklavenringen entfernt.
Von links und rechts drang das helle Klingen aufeinandertreffender Schwerter und das dumpfe Krachen von Eisen auf Schilder an meine Ohren. Ich drehte mich langsam einmal nach jeder Seite um und vergewisserte mich, daß meine beiden Boten mich sahen. Dann hob ich das Schwert in die Höhe und senkte es wieder. Sofort begannen die Verteidiger mit dem geordneten Rückzug, die hintersten Reihen machten den Anfang, die vorderste Reihe wich kämpfend zurück. Beide Seiten hielten auf die Treppen zu, die am nächsten waren, die beiden Tortreppen, die sich westlich und östlich des Tores befanden. Ihre Stufen waren schmaler als der Wehrgang und konnten daher von weniger Männern gehalten werden.
»He, ihr da!« rief ich den Cosianern zu und schwenkte das Schwert. Soldaten zeigten auf mich. Ich hatte keinen Zweifel, daß mich zumindest einige von ihnen auf der Plattform gesehen hatten und sich zusammenreimten, daß ich die Befehle auf der Mauer gegeben hatte.
Ich schob das Schwert in die Scheide.
Es muß so ausgesehen haben, als wären meine Fluchtwege abgeschnitten, als säße ich zwischen beiden Treppen fest. Außerdem hatte ich die Waffe weggesteckt. Bedeutete das nicht, daß ich mich in der Falle wähnte, was tatsächlich der Fall zu sein schien, daß ich mich aus diesem Grund entschlossen hatte, keine Gegenwehr zu leisten, sondern mich zu ergeben?
Beinahe gleichzeitig stürmten auf beiden Seiten etwa zwei Dutzend Cosianer los. Andere blieben auf Höhe der Treppen stehen, um sich die Angelegenheit nicht entgehen zu lassen. Das würde einigen Druck von den umkämpften Treppen nehmen. Der Rückzug meiner Verteidiger würde sich einfacher gestalten und ihnen die nötige Zeit verschaffen, um Tore zu schließen und Gänge abzuriegeln.
Mit dem Fuß stieß ich die Taurolle am Rand des Wehrgangs in die Tiefe, bückte mich und kletterte so schnell wie möglich nach unten. Ich rutschte das Seil nicht hinunter, da meine Hände ungeschützt waren. Schon zwölf Meter reichen aus, um einem die Haut von den Händen zu brennen. Es kann durchaus zur Folge haben, daß man wochenlang ein hilfloser Krüppel ist. Unter bestimmten Umständen mag das ein akzeptabler Preis sein, aber nicht, wenn man damit rechnen muß, bald wieder ein Schwert zu führen.
Auf dem Hof lag ein Hügel aus Trümmern, Sand und Gestein, und sobald ich ihn erreichte, eilte ich rutschend und springend hinunter, wobei ich mich noch immer an dem Seil festhielt. Erst als ich den Boden des Innenhofs erreicht hatte, wagte ich einen Blick in die Höhe, um festzustellen, ob sich oben auf dem Wehrgang Armbrustschützen versammelt hatten. Es war keiner zu sehen. Ein oder zwei Cosianer sahen aus, als dächten sie darüber nach, mir das Seil hinunter zu folgen, aber sie taten es nicht. Auf dem Schutthügel würden sie einen unsicheren Stand haben, und im Hof selbst liefen sie Gefahr, daß sie für einige Zeit von ihren Kameraden abgeschnitten waren. Schließlich konnte sich nur einer nach dem anderen an dem Seil herablassen. Alles in allem konnte ich ihnen ihr Zögern nicht verdenken.
»Gut gemacht«, sagte eine junge Stimme.
Ich drehte mich um. Es war der Armbrustschütze, mein Bote.
»Ich habe mir gedacht, daß das dein Plan ist, nachdem ich das Seil dort befestigen sollte«, sagte er.
Ich grinste. »Du bist ein schlauer Bursche.«
»Also habe ich deinen Abstieg gedeckt.«
Das war also noch ein Grund gewesen, warum mir niemand das Seil hinunter gefolgt war. Im Gegensatz zu mir hatten ihn die Cosianer auf dem Wehrgang gesehen. Sicher, er hatte nur noch einen Bolzen für seine Armbrust. Aber keiner hatte den Anfang machen wollen.
»Du bist ein tapferer junger Bursche«, sagte ich, »mit nur einem Schuß herzukommen.«
»Ich werde schon irgendwo Bolzen auftreiben«, sagte er.
»Danke.«
»Nicht der Rede wert«, sagte er.
Der Flaggenträger, mein anderer Bote, betrat den Hof. Er sah zum Wehrgang hoch. Die Cosianer verschwanden und eilten zu den Treppen.
»Die Zitadelle wird geräumt«, verkündete er.
»Wir werden uns in den Hafen zurückziehen«, sagte der Armbrustschütze. »Dort wird die letzte Schlacht stattfinden.«
»Wir haben ihnen einen guten Kampf geliefert«, meinte sein Freund.
»Der Meinung bin ich auch.«
»Ich möchte, daß ihr zu den Frauen und Kindern geht«, sagte ich.
»Wir würden lieber hier bei dir bleiben, Hauptmann«, sagte der Armbrustschütze.
»Die Frauen und Kinder werden euch brauchen«, sagte ich.
»Und du?«
»Ich will sehen, wie die Dinge am Zitadellentor stehen.«
Er hob die Armbrust zum Salut. Dann verschwanden die beiden durch ein Innenportal am anderen Ende des Hofes. Ich begab mich zu einem der kleineren Seitenportale und lief den sich anschließenden Korridor entlang bis in die Nähe des Haupttores. Das Tor, das ebenfalls in einen Hof führte, setzte sich aus einem Innenund einem Außentor zusammen, zwischen denen sich ein überdachter, etwa zwölf Meter langer Gang erstreckte. Ich traf auf sich zurückziehende Verteidiger.
»Wir geben das Tor auf, Marsias«, sprach mich einer der Männer an. »Komm mit uns!«
Ich nickte. Erst danach begriff ich, daß er mich als Marsias angesprochen hatte, und mir fiel wieder ein, daß ich noch immer die Kapuze trug. Einer der Männer auf der Mauer hatte erkannt, daß ich eben nicht dieser Marsias war. Trotzdem waren sie alle meinem Befehl gefolgt.
Ich kam in dem geschlossenen Gang zwischen dem Innen- und dem Außentor heraus. Das untere Drittel des Außentores wurde von einem gewaltigen Hügel aus Sand, Felsen und allen möglichen sperrigen Dingen blockiert. Es war so gut wie unmöglich, den Rammbock in den schmalen Gang zu fahren.
An der Seite des Ganges saß Aemilianus auf einem Stein und hielt sich den Kopf. Er blutete. Männer aus allen Teilen der Zitadelle eilten an ihm vorbei, vermutlich auf dem Weg in den Hafen.
Plötzlich erscholl über unseren Köpfen ein berstendes Geräusch, als Holz zersplitterte, und dann schoß ein fast zwei Meter großer Kopf aus schwarzem Eisen, einem mythologischen Ungeheuer gleich, über den Rand des Schutthügels; er hatte an beiden Seiten gewundene Hörner und war einem ausgewachsenen Verrbock nachempfunden.
Ich hatte so ein Ding noch nie aus dieser Nähe gesehen. Ich zog das Schwert und eilte den Schutthügel hoch, um mir den Rammbock genau anzusehen, aber als ich näher kam, schwang er gefangen in seinem Rhythmus wieder zurück. Ich konnte durch das Loch undeutlich Gestalten ausmachen, die sich aufgeregt bewegten. Dann mußte ich mich auch schon zurückziehen und meine Augen schützen, denn der Riesenverr durchbrach das Tor erneut und schleuderte Holzsplitter durch die Luft. Er war keinen halben Meter von mir entfernt. Ich streckte die Hand aus und berührte ihn. Als er diesmal zurückschwang, blickte ich den langen Schaft entlang ins Innere des Unterstandes; der Rammbock hatte eine Länge von fünfzehn Metern und ruhte in zahlreichen Lederschlingen, er wurde mit Seilen von mindestens einhundert Männern bedient, die mit nacktem Oberkörper schweißgebadet im Schutz des Unterstandes standen und ihre Arbeit taten. Als er diesmal zurückgezogen wurde, sprang plötzlich ein Cosianer durch die Öffnung, und ich parierte seinen Schwerthieb und durchbohrte ihn, obwohl ich vermutlich genauso überrascht gewesen war wie er. Seine Kameraden zogen ihn blutend in Sicherheit. Rufe ertönten, und ich begab mich mit einem Sprung erneut zur Seite und bedeckte die Augen, während der gewaltige Kopf sich erneut seinen Weg durch das Außentor der Zitadelle bahnte.
Ich blieb in der Nähe des Durchbruchs stehen, aber diesmal stürmte niemand durch ihn hindurch. Ich blickte wieder am Schaft des Rammbocks entlang in den Unterstand mit den vielen Männern. Ein Armbrustbolzen verfehlte mich. Ich hörte, wie es hinter mir polterte; der westliche Korridor wurde versperrt, als man die Stützen eines mit Felsen beladenen Gerüsts wegschlug. Aemilianus blieb blutend auf dem Stein sitzen. An seiner Seite harrten zwei seiner Männer aus, einer trug die Abzeichen eines Offiziers. Vermutlich waren es seine Adjutanten. »Komm schon«, hörte ich jemanden rufen, womit vermutlich Aemilianus gemeint war. »Wir schließen jetzt den Ostgang!« Irgendwo in der Nähe des Hafens ertönte ein Fanfarenstoß. »Das ist das Zeichen zum Rückzug!« rief der Adjutant. »Wie du befohlen hast. Komm mit, Kommandant!« Also wurde die Zitadelle aufgegeben. Aber Aemilianus rührte sich nicht von der Stelle. Ich roch Rauch. Plötzlich erschien wieder ein Cosianer in dem Loch, das man in das Tor geschlagen hatte. Unsere Schwerter trafen dreimal aufeinander, dann verschwand er wieder. Ich warf mich zur Seite, und der Rammbock raste an mir vorbei. Wieder erschien ein Soldat in der Öffnung, gefolgt von zwei Kameraden. Funken flogen durch die Luft, als Stahl auf Stahl traf. »Vorsicht!« brüllte jemand vor dem Tor. Im Gegensatz zu meinem Gegner konnte ich sehen, daß der Rammbock vorwärts donnerte. Er mußte die Gefahr gekannt haben, hatte aber vermutlich nicht damit gerechnet, an der Öffnung festgehalten zu werden. Er ließ von mir ab, und seine beiden Kameraden sprangen zur Seite, um ihm Platz zu machen, aber es war zu spät. Der Eisenverr traf ihn, schmetterte ihn gegen die Trümmer und trug ihn dann noch anderthalb Meter durch die Luft, bis er sich löste und den Schutthügel hinunterrollte. Zwei Teile eines Körpers blieben liegen. Der Verrschädel und die Torseite waren blutbespritzt. Mehrere Männer versammelten sich in ihrer Nähe.
»Haltet die Ramme an!« rief jemand, während ein Speer nach mir stach. Aber der Rammbock raste wieder heran. Ich packte den Speer ein Stück unterhalb der Spitze. Er zerbrach wie ein Zweig, als der gigantische Kopf wieder herandonnerte. Ich warf den Rest fort. Der Vorderteil des Rammbocks mit seinen Hörnern war so gebaut, daß er sich nicht in der von ihm geschaffenen Öffnung verkeilte und dort steckenblieb. Der Versuch, einfach ein paar der Balken, die aus dem Schutt ragten, hinter die Hörner zu schieben und ihn so zu blockieren, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der Schutt war nicht zu gebrauchen. Doch die Felsbrocken konnten als Notbehelf dienen. Wieder forderte jemand lautstark, den Rammbock zum Stehen zu bringen, aber er mußte mindestens noch einmal nach vorn schwingen. Die Soldaten zögerten mit ihrem Angriff. Dann rückte der riesige Eisenschädel wieder in mein Blickfeld und wurde scheinbar unaufhaltsam größer. Als die blutige Ramme durch das Tor brach, stemmte ich mich gegen einen großen Felsblock, der aus dem Schutt herausragte, und rollte ihn vor die Unterkante der Öffnung. Ein Knirschen erfüllte die Luft, als beim Rückschwung Eisen und Fels aufeinandertrafen; die Ramme kam zum Stehen. Den Männern an den Seilen war der Schwung genommen, aber sie konnten versuchen, den Schaft zurückzuziehen oder ihn wieder ein Stück nach vorn bringen, bis er genug Schwung hatte, um das Hindernis zu überwinden.
Eine Klinge zwängte sich zwischen Rammbock und Tor und stach nach mir, gefolgt von einem Speer. Der große Verrschädel rückte ein paar Zentimeter nach vorn und wieder zurück. Die Soldaten versuchten, den Felsblock mit Speeren zur Seite zu stoßen. Hier konnte ich nichts mehr ausrichten. Sobald sie den Rammbock aus der Öffnung gezogen hatten, würden sie ihn festhalten, und die Soldaten hatten freie Bahn. Ich konnte das Tor nicht lange verteidigen, nicht gegen Armbrüste, nicht ohne Schild. Die Ramme bewegte sich wieder. Ich schob das Schwert in die Scheide, rutschte und lief den Schutthaufen hinunter und landete auf dem Steinboden. Aemilianus sah mich teilnahmslos an. Männer warteten vor dem Gerüst, das die Steinlast hielt, die den Ostkorridor blockieren würde. Ich verspürte nicht die geringste Lust, hier festzusitzen, wenn die Cosianer kamen. »Helft mir«, sagte ich zu den beiden Offizieren, die treu bei Aemilianus ausharrten.
»Geht«, sagte Aemilianus. »Ich werde hierbleiben.«
»Ich trage ihn, oder ihr stützt ihn«, sagte ich.
»Wer bist du?« fragte Aemilianus.
In diesem Augenblick ertönte vor dem Tor Jubel, und der von den Speeren beiseite gedrückte Felsblock rollte den Schuttberg hinunter. Gleichzeitig schwang die Ramme zurück.
»Hört auf!« rief Aemilianus, aber seine Leute hatten ihn bei den Armen gepackt, legten sie sich über die Schultern und schleppten ihn auf den Ostkorridor zu.
Ich blickte hoch und sah vier oder fünf Cosianer über den Schutthaufen schleichen.
Sofort wich ich auf den Ostkorridor zu.
»Hier ist es aber dunkel«, sagte einer der Cosianer. Zwei seiner Kameraden zwängten sich an ihm vorbei und sahen von oben in den Torgang.
Hinter mir hörte ich die Schläge von Holzhämmern, die auf die Gerüststützen einhieben.
»Laßt sie nicht entkommen!« rief ein Cosianer.
»Greift sie von den Seiten an!« rief ich, als würden Männer im Hinterhalt warten.
Die zwölf Cosianer, die sich mittlerweile durch das zerstörte Tor geschoben hatten, blieben unvermittelt stehen und sahen sich wild um.
Ich schlüpfte durch den Torbogen des Ostkorridors. Im gleichen Augenblick schlug man die letzten Stützen weg, und Steine und Geröll stürzten in einer gewaltigen Staubwolke in die Tiefe.
Die anderen Männer und ich waren keine zehn Schritte in den Korridor eingedrungen, als man hinter uns die ersten Steine aus der Blockade riß. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Cosianer ohne Gegenwehr länger als ein paar Ehn brauchten, um sich einen Weg in den Korridor zu bahnen.
Plötzlich wurden Schwerter gezogen und der Gang von Männern versperrt, die zweifellos über die Mauer gekommen waren. Allerdings trugen sie nicht das Blau der Cosianer, sondern lediglich blaue Armbinden. Aemilianus, seine beiden Offiziere, die beiden Männer, die den Korridor blockiert hatten und ich blieben stehen.
»He, Leute!« rief ich. »Seht den Glanz des Goldes!« Ich zog die Goldstücke aus dem Geldbeutel, die ich Lady Publia in der Zelle abgenommen hatte. Ich warf sie an den Männern vorbei in den links abzweigenden Gang hinein, aus dem sie gekommen waren.
»Gold oder Stahl?« fragte ich.
»Warum nicht beides?« fragte einer der Söldner und trat einen Schritt vor. Im nächsten Augenblick lag er tot am Boden.
»Gold«, sagte einer seiner Kameraden mit einem Grinsen. Dann wichen er und die anderen in den Seitengang zurück, in den ich die Münzen geworfen hatte, und machten sich in dem Dämmerlicht daran, sie aufzulesen.
Ich wischte meine Klinge an der Tunika des Burschen ab, der sich uns hatte entgegenstellen wollen.
»Du bist nicht Marsias«, sagte einer Männer. Ich erkannte ihn wieder. Er war auf der Mauer gewesen. Sein Name war Caledonius.
»Nein.« Ich bückte mich, nahm dem Toten den Geldbeutel ab und steckte die drei Münzen ein, die sich darin befanden.
Caledonius schloß die Tür zu dem Korridor, in den ich das Geld geworfen hatte.
An einem Ort wie dieser Zitadelle ist man sehr vorsichtig, was geschlossene Türen angeht, vor allem in Kriegszeiten. Man öffnet sie behutsam oder tritt sie auf, geht in Deckung und wartet. Man platzt nicht einfach herein. Denn man weiß nie, was sich auf der anderen Seite befindet.
»Laß uns weitergehen«, sagte Caledonius.
Unsere kleine Gruppe setzte sich wieder in Bewegung. »Da hinten wird es heller«, sagte ich. »Dort steht ein Tor offen.«
»Das ist das Tor zur Kaimauer und zu der Brücke, die zu dem Pier führt«, sagte einer der Offiziere.
Es fiel mir zu diesem Zeitpunkt nicht auf, aber hätte er mich für einen Bürger aus Ar-Station gehalten, hätte er sich diese Erklärung vermutlich gespart. Heute glaube ich, daß mehr als nur einer der Männer einen Verdacht hatte, wer sich unter der schwarzen Kapuze verbarg.
»Du hättest mich am Haupttor zum Sterben zurücklassen sollen«, sagte Aemilianus.
»Möchtest du nicht lieber im Sonnenlicht sterben?« fragte ich. »An der frischen Luft, unter dem blauen Himmel, mit Blick auf den Hafen, auf das Wasser?«
»Ich würde lieber vor den Mauern von Ar sterben, damit ich auf sie spucken kann«, erwiderte er.
»Es hat nie ein Entsatzheer gegeben«, sagte ich.
»Laß uns weitergehen«, sagte Caledonius. »Ich höre schon die Verfolger.«
»Und ich höre Frauen und Kinder«, sagte der Adjutant.
»Es ist eine Schande, vor ihren Augen zu sterben«, sagte Aemilianus. »Laßt mich hier, damit ich unsere Verfolger aufhalte, solange ich noch ein Schwert halten kann.«
»Bringt ihn mit«, befahl ich und ging auf das Tor zu.
»Und wer bist du?« fragte Caledonius.
»Jemand, der an diesem Nachmittag klarer denkt als andere,«
»Und warum sollte ausgerechnet dir das gelingen?«
»Vielleicht habe ich mehr zu essen bekommen«, erwiderte ich.