»Wo bleibst du?« rief der Mann, der uns im Korridor entgegenkam. »Sie kommen! In einer Ehn steht der Rammbock wieder vor dem Tor!«
Ich hob die rechte Hand und gab ihm zu verstehen, daß ich seine Worte verstanden hatte. Wir hatten den Rammbock von der Zelle aus nicht sehen können, vermutlich hatte die Westecke des Haupttores den Blick versperrt. Der Mann drehte sich um, und ich folgte ihm. Vermutlich ging es zur vorderen Brustwehr.
Lady Publia wand sich wie wild auf meiner Schulter, in dem Glauben, daß dies die letzte Gelegenheit sei, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihre Bemühungen waren nicht vergeblich, sie ernteten höhnische und spöttische Bemerkungen, die sie selbst verhüllt gut hören konnte. Mehrere Frauen und Männer, an denen wir auf unserem Weg vorbeikamen, schlugen haßerfüllt nach ihr, wobei sie jedesmal zusammenzuckte. Zweifellos wäre sie grün und blau geschlagen, sobald wir die Mauer erreicht hatten. Lady Claudia folgte uns verängstigt und eingeschüchtert. Ich hatte den Eindruck, als schriee sie jedesmal leise auf, wenn die Schläge meine hilflose, weiche Last trafen, so als müßte sie diejenige sein, die sie zu erdulden hätte. Manchmal schluchzte sie sogar auf. Falls Publia diese Laute hörte und sie mit Lady Claudia in Verbindung brachte, nahm sie bestimmt an, Claudia begleite den Henker zur Mauer, so wie sie es zweifellos an ihrer Stelle getan hatte. Als Wärterin hatte sie uns grausam behandelt und Lady Claudia bei jeder sich bietenden Gelegenheit erniedrigt. Nun war sie es, die zu ihrem Entsetzen zur Mauer gebracht wurde.
Nachdem wir eine spiralenförmige hohe Treppe hinaufgestiegen waren, gelangten wir in ein Wachhaus, durch das wir die Mauer betraten. Hier war es hell und windig. Lady Publia, die die kühle Luft spürte, stieß ein langes hilfloses Stöhnen aus.
»Da«, sagte der Soldat, dem wir gefolgt waren. Er zeigte auf die Brustwehr über dem Tor zur Zitadelle, die höher war als ihre Gegenstücke auf der Mauer. Auf der zinnengeschützten Plattform reckte sich der lange polierte Pfahl in die Höhe. Der Soldat verließ uns.
Ich warf einen Blick über die Mauer und sah, daß der fahrbare Unterstand, unter dessen Dach der Rammbock an seinen Seilen hing, bereits ziemlich nahe heran war. Meine Vermutung, daß er von der vorstehenden Westecke des Tores verdeckt worden war und man ihn in der Zelle deshalb nicht hatte sehen können, bestätigte sich. Einige der Leiterträger und der Hakenwerfer standen bereits am Fuß der Mauer. Die Belagerungstürme waren noch ein paar hundert Meter entfernt.
Ein Armbrustbolzen traf die Innenseite einer Zinne, schlug eine Kerbe in den Stein und flog abgelenkt in die Höhe.
Als ich auf das Tor zuging, flog ein Wurfhaken anmutig über die Mauer und fiel über den Wehrgang hinaus. Aus dem Bogen, den er beschrieben hatte, und der Höhe, aus der er gekommen war, schloß ich, daß ihn ein Katapult abgeschossen hatte. Er wurde zurückgezogen, eine der gekrümmten Spitzen verhakte sich an der Wehrgangkante, das daran befestigte Seil wurde straffgezogen. Normalerweise taugen bei dieser Art von Kampf solche Wurfhaken nicht viel, es sei denn, man benutzt sie des Nachts, wenn sie nicht gesehen werden, oder es gibt zu viele von ihnen, als daß man ihrer Herr werden kann. Meiner Meinung nach sind sie auf See viel nützlicher, um Schiffe auf Enterdistanz aneinander heranzuziehen, wobei die Haken an drei Meter langen Ketten hängen, die wiederum mit Seilen verbunden sind. Das erschwert es, sie zu durchtrennen. Wenn man nahe genug ist benutzt man für solche Zwecke auch andere, kleinere Enterhaken. Hinter der Spitze sind diese Enterhaken mit Blech ummantelt, was ebenfalls das Durchtrennen erschweren soll. Übrigens werden die oberen Enden der Piken, mit denen die Enterer abgewehrt werden sollen, mit Schmiere bestrichen, damit der Feind sie den Verteidigern nicht so ohne weiteres aus den Händen reißen und so Lücken in den Pikenwall reißen kann.
Ich behielt das an dem Haken befestigte Seil einen Augenblick lang im Auge und bemerkte, daß es zwar straff gespannt war, aber nicht den unverkennbaren Zug aufwies, der zu sehen gewesen wäre, wenn jemand daran in die Höhe geklettert wäre. Ich machte den Haken los und ließ ihn zurück über den Wehrgang und die Zinnen fliegen, wobei ich die Spannung des Seils die Arbeit erledigen ließ. Hätte ich mehr Zeit gehabt oder zu den Verteidigern von Ar-Station gehört, hätte ich vielleicht gewartet, bis jemand in die Höhe geklettert wäre und das Seil dann gekappt. Für denjenigen, der die Mauer hochklettert, kann das sehr unerfreulich sein, vor allem wenn er sich in diesem Augenblick zwanzig oder mehr Meter über dem Boden befindet. Man braucht viel Mut, um im hellen Tageslicht mitten im Kampf ein solches Seil zu erklimmen. Ich hatte keinen Zweifel, daß es jetzt auf der anderen Seite der Mauer einen oder zwei Burschen gab, die erleichtert waren, daß der Haken zurückkam. Natürlich braucht es genausoviel Mut, eine Belagerungsleiter hochzusteigen – obwohl das natürlich viel einfacher ist –, vor allem dann, wenn die Mauer heftig verteidigt wird. Bei Mauern, die höher als sechs Meter sind, hat der Angreifer größere Erfolgsaussichten, wenn er versucht, über die Zugbrücke eines Belagerungsturms in die Stadt einzudringen – oder noch besser durch das gestürmte Tor oder eine Lücke in der Mauer.
Ich warf einen Blick zwischen zwei Zinnen hindurch.
Die Belagerungstürme waren noch immer mindestens zweihundert Meter weit entfernt. Man braucht Zeit, um solch unhandliches Gerät zu bewegen. Das Vorankommen der Türme war so langsam, daß sich der Eindruck aufdrängte, man beobachte die Bewegung von Uhrzeigern.
Ich ging an einem jungen Burschen vorüber, der mit einer Armbrust hinter einer Schießscharte stand. Er war zu jung, um auf der Mauer zu stehen. In die Bolzenrinne war ein Geschoß eingelegt. Neben ihm an der Brüstung lehnten weitere Armbrustbolzen, von denen aber nur zwei befiedert waren, der eine mit echten Federn, der andere mit Metallflossen. Der Rest bestand aus zugespitzten Holzstäben; ich entdeckte sogar ein paar stumpfe Holzbolzen, wie sie von Jungen fürs Vögelschießen benutzt werden. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie etwas ausrichten würden. Bestenfalls würden sie, aus einer Entfernung von einem Meter abgeschossen, einen Angreifer vielleicht von der Leiter stoßen, aber vermutlich waren sie nur lästig.
Der Geruch kochenden Öls trieb über die Brustwehr, und ich ging an dem Kessel vorbei. Man nahm an langen Stäben befestigte Eimer, tauchte sie in den Kessel, zündete das geschöpfte Öl an und goß es auf die Angreifer. Ich passierte zwei Katapulte, Sie standen nutzlos da; sie waren nicht einmal bemannt.
Ich ging weiter zu der hohen Plattform über dem Tor, wo der Pfahl, der in der Sonne wie eine polierte Nadel funkelte, in seiner Halterung steckte. Ich kam an einem weiteren Burschen vorbei, der meiner Meinung nach ebenfalls viel zu jung war, um an den Zinnen zu stehen. In ihrem Alter hätten sie sich an den windigen Ecken der Märkte herumdrücken sollen, in der Hoffnung, daß der Wind den Schleier einer freien Frau lüpfte. Oder sie hätten hinter den Ständen ›Stein oder Ring‹ spielen sollen. Er duckte sich hinter einem Steinhaufen. Es ist schwer, Steine zielgerecht zu werfen, ohne dabei auf den Zinnen zu stehen. Natürlich steht der Werfer in diesem Fall deckungslos da. Der Junge schien in Gedanken versunken zu sein. Ich fragte mich, ob er vorher je auf der Mauer gestanden hatte. Vermutlich hatte er eine Mutter, die ihn liebte.
Als ich an ihm vorbeiging, sah er zu mir auf. Da erkannte ich, daß er nicht das erste Mal auf der Mauer stand und daß es sich bei ihm, auch wenn er dem Alter nach ein Junge war, um einen Mann handelte. Er senkte den Kopf und gab sich wieder seinen Gedanken hin, wie auch immer sie aussahen. Vor der Treppe zur Plattform gabelte sich der Wehrgang und führte um sie herum. Dort standen zwei Soldaten mit langschäftigen Dreizacken. Mit ihnen stößt man Sturmleitern zurück.
Ich drehte mich um und sah, wie etwa fünfzig Meter hinter mir eine Leiter über den Zinnenrand geschoben wurde. Die beiden abgemagerten und müden Soldaten schenkten ihr keinerlei Beachtung. Ein paar Männer stürmten bereits heran. Klingen trafen aufeinander. Mehr als ein Angreifer sprang auf den Wehrgang, die Leiter wurde umgestoßen. Plötzlich waren die Cosianer von ihren Leuten abgeschnitten. Männer warfen sich ihnen entgegen. Zwei wurden niedergemacht, der dritte kletterte über die Brustwehr und sprang in die Tiefe; er zog die möglichen Konsequenzen eines solchen Sturzes dem sicheren Tod auf dem Wehrgang vor. Man nahm seinen toten, verstümmelten Kameraden die Waffen ab und warf ihm die Leichen hinterher.
Ich eilte die breiten Steinstufen zur Plattform hoch. Sie war menschenleer, zumindest im Augenblick, vielleicht wegen ihrer Höhe und ihrer Position genau über dem Tor, gegen das in absehbarer Zeit der Rammbock anstürmen würde. Es wäre der ideale Kommandoposten für Aemilianus gewesen, aber er hielt sich vermutlich unten in der Nähe des Tores auf. Vielleicht glaubte er – möglicherweise sogar zu Recht –, daß dort die größte Gefahr drohte. Vermutlich hatte man hinter dem Tor mittlerweile Tonnen von Gestein aufgeschüttet. Trotzdem würde man sich mit der Ramme aller Voraussicht nach dort Einlaß zu verschaffen suchen; sie würde die in die dicken Holzbohlen des Tores eingelassenen Messingbeschläge durchschlagen, die verriegelnden Balken entzweibrechen und schließlich Schlag für Schlag die aufgeschichteten Felsbrocken zurückzwingen.
Ich legte Lady Publia auf dem Boden ab, neben der Pfahlhalterung.
Dann verbannte ich sie einen Augenblick lang aus den Gedanken.
Ich betrachtete die näher kommenden Belagerungstürme, die unzähligen Soldaten, die Leitern, die man herantrug, die Katapulte. Dann betrachtete ich die Mauer. Sie war mit zu wenigen Männern besetzt. Der Ausgang der Schlacht stand von vornherein fest. Die Cosianer hatten lange auf diesen Tag gewartet.
Zur Linken flatterte eine zerrissene Flagge trotzig im Wind; auf rotem Hintergrund prunkte in Gelb der Buchstabe ›Ar‹, darunter schlängelte sich eine gelbe Linie. Es war die Flagge von Ar-Station, die von Ars Macht am Vosk kündete. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie dort noch lange flatterte.
Dann hob ich den langen Spieß aus der Halterung und legte ihn mit einem hörbaren Laut neben meine gefesselte Gefangene. Sie wollte aufstehen, aber es gelang ihr nicht. Dann versuchte sie wegzukriechen, aber ich packte sie am Fußgelenk und zog sie näher zu mir heran.
»Bitte, nein!« schluchzte Lady Claudia und streckte die Hand aus. Ich stieß sie beiseite.
Ich ging neben Publia in die Hocke. »Würdest du dich zur Sklavin erklären?« fragte ich.
Sie wand sich, stieß zustimmende Laute aus und nickte heftig.
»Du erkennst meine Stimme?«
Sie nickte erneut.
»Du erklärst dich also dem Gesetz nach freiwillig zur Sklavin. Du willst nicht länger Publia sein, sondern eine Sklavin, für die noch ein Name gefunden werden muß?«
Sie nickte.
Claudia berührte dankbar meine Schulter.
Ich erhob mich.
»Was tust du da?« rief Claudia.
»Sie hat uns bis hierher gebracht«, sagte ich. »Sie hat uns so weit gebracht, wie zu erwarten war, ohne daß wir kontrolliert worden wären. Sie hat soviel für uns getan, wie zu erwarten war. Und somit hat sie ihren Zweck erfüllt.«
»Was meinst du damit?« flüsterte Claudia.
Ich griff nach dem Spieß.
»Nein«, stieß Claudia hervor.
Ich drückte der Sklavin die kalte Spitze gegen die Innenseite des Oberschenkels. Sie stöhnte auf. Plötzlich warf sich Claudia auf die Sklavin, als könne sie sie mit ihrem Körper schützen. Eine rührende Geste, wie ich fand. Natürlich sinnlos und etwas lächerlich. Ich konnte sie mühelos ein Dutzend Schritte wegstoßen oder mit einem leichten Schlag in den Magen dafür sorgen, daß sie hilflos auf dem Rücken lag und nach Luft schnappte. Falls nötig, hätte ich sie fesseln können.
»Du würdest sie tatsächlich beschützen, nicht wahr?«
»Ja!« stieß sie hervor.
»Sie ist vielleicht deine schlimmste Feindin«, erinnerte ich sie.
»Das spielt keine Rolle«, weinte sie.
»Du hast unglaublich tiefe Gefühle«, sagte ich. »Du gäbst eine ausgezeichnete Sklavin ab.«
Claudia sah mich verwundert an. Ihr Schleier war naß von Tränen.
»Nun, wir sollten diese Sklavin endlich auf den Pfahl stecken«, sagte ich und nahm den Schwertgürtel ab.
»Das war nur ein grausamer Scherz«, stieß Claudia plötzlich hervor. »Du hast nie vorgehabt, sie zu pfählen!«
»Sie wird an dem Pfahl hängen, das schon«, sagte ich. Ich zog das Schwert aus der Scheide und schob die Scheide zwischen den Rücken der Sklavin und die Fesseln. Dann zwang ich den Spieß so weit wie möglich in die Scheide. Das beulte sie zwar aus und tat ihr alles andere als gut, aber schließlich hatte ich sie nicht mit meinen Tarsk bezahlt, also war es einerlei. Dann bohrte ich mit dem Gürtelmesser ein neues Loch in den Schwertgürtel und schnallte ihn um die schmale Taille der Sklavin, so fest, wie es nur möglich war. Dabei achtete ich darauf, daß er zwischen zwei Seilbahnen verschwand. Die Spitze steckte nun in der Schwertscheide, die von den Fesseln der Sklavin gehalten wurde; der Gürtel sorgte für zusätzliche Festigkeit. Sie konnte nicht den Spieß hinunterrutschen, da dieser in der Scheide steckte. Auf diese Weise sähe es aus, als hätte man sie gepfählt; zumindest hoffte ich das. Um den wahren Sachverhalt zu erkennen, mußte man schon ziemlich nahe herankommen. Außerdem fließt bei einer derartigen Pfählung nur wenig Blut, da der Spieß die Wunde verschließt.
»Du verschonst sie!« Lady Claudia atmete erleichtert auf.
Die ehemalige Lady Publia erschauderte, da sie erkannte, welchem Schicksal sie gerade noch entronnen war.
Ich hob den Spieß mit seiner Last an und steckte ihn in die Halterung.
Auf dem Wehrgang ertönte vereinzelter Jubel. Doch die meisten der Männer hatten anderes im Sinn. Im Schutz der sich langsam nähernden Belagerungstürme rückten Hunderte von Cosianern heran. Die Türme selbst waren keine fünfundsiebzig Meter mehr entfernt. Sie standen nun in einer Reihe ausgerichtet, und man würde die Zugbrücken gleichzeitig absenken, sobald alle ihre Stellung erreicht hätten. Sicherlich würde man unten in der Zitadelle Männer abziehen, um bei der, Verteidigung der Mauer zu helfen. Der Beschuß mit Wurfhaken hatte mittlerweile nachgelassen, dafür kamen Dutzende von Leitermannschaften heran.
»Winde dich«, befahl ich der neuen Sklavin, die in der Luft hing. »Winde dich vernünftig, oder ich pfähle dich richtig.«
Sie wand sich hilflos.
»Tätest du das wirklich?« fragte Lady Claudia leise.
»Aber sicher«, antwortete ich. Es war die Wahrheit.
An einigen Stellen der Mauer ertönte nun Gelächter, und vermutlich konnte man es sogar von den Cosianern unten vor der Mauer hören. Auch sie hatten wenig Respekt vor einer Verräterin.
Lady Claudia erschauderte.
»Übertreib es aber nicht«, wies ich die neue Sklavin an. »Zuerst stärker, dann weniger. Und zum Schluß bleibst du reglos hängen.«
Sie nickte schwach.
»Was ist?« fragte ich Lady Claudia, die ganz elend aussah.
»Das dort oben hätte ich sein können, nur daß man mich richtig gepfählt hätte«, sagte sie.
»Aber du bist es nicht.«
»Der Rammbock schlägt gegen das Tor«, sagte sie.
Man konnte die Vibrationen noch hier oben spüren.
»Laß uns gehen«, sagte ich.
»Es ist doch nirgendwo sicher.«
Unten auf dem Wehrgang drehten wir uns zur Plattform um. Es sah tatsächlich so aus, als wäre die ehemalige Lady Publia gepfählt worden.
Die Belagerungstürme waren noch etwa dreißig Meter entfernt. Es bestand keine Aussicht, daß die Verteidiger den Soldatenstrom abwehren würden, den sie ausspucken würden.
»Falls sie gerettet wird«, sagte Claudia, die noch immer auf die zappelnde nackte Gestalt blickte, »wird sie zweifellos bestreiten, daß sie eine Sklavin ist.«
»Und wenn schon«, erwiderte ich. »In ihrem Herzen weiß sie es.«
»Ja.«
Die Türme blieben in einer Reihe stehen, höchstens zwanzig Meter entfernt. Sie überragten die Zinnen. Wenn sie angriffen, würden sie es gemeinsam tun.
»Du solltest jetzt gehen«, sagte ich zu Claudia.
»Aber ich will dich nicht verlassen.«
»Wenn die Mauer gestürmt wird, werden sich die Cosianer nicht damit aufhalten, jemanden zu versklaven. Geh, versteck dich. Später, wenn die Zitadelle brennt, wenn der Widerstand gebrochen ist, wenn der Blutdurst nachgelassen hat, erhältst du vielleicht Gelegenheit, dich den Siegern hinzugeben.«
Sie warf den Kopf in den Nacken. »Ich bin eine freie Frau. Ich glaube, ich bleibe an deiner Seite.«
»Freie Frau oder nicht«, sagte ich. »Ich wünschte, ich hätte eine Sklavenpeitsche. Dann brächte ich dir schnell Gehorsam bei.«
»Und ich wäre dir auch ohne die Peitsche gehorsam«, erwiderte sie. »Herr.«
»Was hast du doch für ein Glück, daß du keine Sklavin bist!«
Sie lachte fröhlich.
»Geh!«
»Ich will aber nicht.«
»Ich werde dich hier nicht beschützen können, das kann keiner.«
»Ich bleibe hier!«
»Hier bist du im Weg«, sagte ich. »Du brächtest andere nur in Gefahr.«
Sie sah mich wütend an.
»Geh. Du gehörst nicht hierher.«
»Und du?« fragte sie. »Du hast nichts mit Ar-Station zu tun. Du kommst nicht einmal aus Cos!«
»Geh«, sagte ich. »Hier findet bald Männerhandwerk statt.«
Sie ging vor mir auf die Knie, obwohl sie eine freie Frau war, und nahm den Schleier ab. Dann sah sie mit Tränen in den Augen zu mir hoch. »Ich wünschte, ich wäre deine Sklavin, Herr.«
»Geh. Und wenn ich du wäre, würde ich den Schleier anbehalten, solange noch ein Mann aus Ar-Station mit einem Schwert in der Nähe ist.«
Sie nickte ängstlich. Dann warf sie der nackten, gefesselten Publia, die nun eine Sklavin war und am Pfahl hing, einen letzten Blick zu, sah mich noch einmal kurz an und eilte von der Mauer.
Ich drehte mich um und betrachtete die düsteren, drohenden Belagerungstürme. Man konnte schon die Spalten im Holz erkennen. Hinter einigen herrschte unübersichtliches Gedränge, und zwar auf den verschiedensten Ebenen. Die unzähligen Häute, die an den Außenwänden hingen, troffen vor Wasser. Der Rammbock rannte noch immer gegen das Tor an.
Die Verteidiger der Mauer, die nun von unten herbeieilenden Kameraden verstärkt wurden, bereiteten sich auf den Angriff vor. Vor jedem Turm fanden sich Gruppen zusammen. Andere verteilten sich den Wehrgang entlang, um gegen die Sturmleitern und ihre Mannschaften anzutreten. Waffen wurden blankgezogen, Dreizacke angehoben. Der Inhalt der Öleimer an den langen Stangen wurde entzündet.
Ich hatte damit gerechnet, daß Aemilianus, der Kommandant der Zitadelle, sich auf die Mauer begäbe, konnte aber den Helm mit dem Kamm aus Sleenhaar nirgends entdecken.
Mir kam der Gedanke, daß ich hier eigentlich nichts zu suchen hatte. Das war nicht mein Kampf. Meine Liebe gehörte weder Cos noch Ar.
Jeden Augenblick würden die Fanfaren ertönen.
Der Himmel war ganz still, der bevorstehende Kampf bekümmerte ihn nicht. Die Wolken kümmerte das Blut nicht, das in ihrem Schatten vergossen würde. Was hier geschah, war im Angesicht des Universums völlig unbedeutend. Im Vergleich mit dem Untergang und der Geburt ganzer Welten und dem Inferno innerhalb der weißglühenden Sterne erschienen die Händel dieses Nachmittags nichtig. Und doch pulsierten hier Gefühle und Gedanken – sonst kaum mehr als ein winziges und zerbrechliches Flackern in der Dunkelheit –, die in diesem Augenblick mit einer Kraft aufloderten, deren Berechnung keinem Physiker möglich gewesen wäre und die auf ihre ureigene Weise den gefühllosen Gleichmut des Alls in den Schatten stellten und verspotteten. Sollte das Auge, das die ehrfurchtgebietende Gewalt des Universums sieht, sich nicht genausogut der Ehrfurcht bewußt werden, die das eigene Sehen gebietet?
Wo war Aemilianus?
Es war nicht mein Kampf. Ich hätte die Mauer verlassen sollen. Sicher hätte sich irgendwo in der Zitadelle andere Kleidung finden lassen. Mein Akzent unterschied sich deutlich von dem nasalen Akzent Ars oder dem ihm so ähnlichen Akzent Ar-Stations. Es hätte keine Schwierigkeit bedeutet, sich unter die eindringenden Sieger zu mischen.
Es war nicht mein Kampf.
Wo war Aemilianus?
Wie mutlos die Verteidiger erschienen! Wie lustlos sie dastanden! Wie ergeben in ihr Schicksal! Wo waren die Vorbereitungen, die sie für die Abwehr der Belagerungstürme trafen? Glaubten sie, sie stünden nur den Männern auf den Leitern gegenüber, dem kletternden, an den Seilen klebenden, in die Höhe strömenden, brüllenden, mit Speeren und Klingen zustechenden Schwarm, den sie aus Hunderten von Angriffen in der Vergangenheit kannten? Man würde sie beiseite fegen, wie ein Torvaldslander Sturm vertrocknete Blätter beiseite fegt.
»He, ihr Narren!« rief ich und marschierte den Wehrgang entlang. »Die Zugbrücken werden niederkrachen, und ihr werdet glauben, eine Eisenlawine sei auf euch herabgeprasselt! Wie wollt ihr euch dagegen wehren? Wollt ihr sie auf eure Köpfe niedergehen lassen? Eine kluge Taktik! Holt Pfähle! Holt Steine! Du da, hol Wurfhaken und Seile! Die Besatzung an die Katapulte, sofort! Ihr Männer da, ihr seht doch, wo der Turm ankommen wird, dort an der Treppe. Brecht den Stein heraus! Macht eine große Lücke! Du da, hol Tarndraht!«
»Wer bist du?« rief ein Mann.
»Ich bin der Mann, der dieses Schwert hält!« gab ich zur Antwort. »Willst du, daß ich es dir in den Leib stoße?«
»Du bist nicht Marsias!« rief der Mann neben ihm.
»Ich übernehme hier das Kommando!« sagte ich.
Die Männer blickten sich unsicher an.
»Wir können die Mauer nicht halten«, sagte ein Soldat.
»Das ist wahr«, erwiderte ich. »Ich werde euch nicht belügen. Diese Mauer ist nicht zu halten. Aber welchen Preis müssen die Cosianer dafür entrichten?«
»Einen hohen«, sagte der Soldat grimmig.
»Diejenigen von euch, denen der Mut dafür fehlt, sollen sich unten zwischen den Frauen und Kindern verstecken!«
»Das Leben ist kostbar«, sagte ein Mann. »Aber so kostbar wiederum auch nicht.«
Plötzlich ertönten die Fanfaren, und die elf Belagerungstürme setzten sich rasselnd und quietschend in Bewegung.
»Beeilt euch!« rief ich.
»Holt Steine, Pfähle, Tarndraht!« riefen die Männer.