Ich stieg aus dem Boot und betrat den Pier.
Männer hoben die Waffen und salutierten.
»Komm mit«, sagte ein Soldat.
Ich ging an Reihen von Verwundeten vorbei. Bei ihnen befand sich auch Marsias, der Krieger, der auf der Brücke an meiner Seite gekämpft hatte, und viele Frauen und Kinder.
Schließlich stand ich vor Aemilianus.
»Ihr habt die Brücke gut gehalten, du und die anderen«, sagte er. Der Kommandant saß auf dem Boden, angelehnt an ein paar Kisten. Der lange Pier bildete die Grenze zwischen dem inneren Hafenbecken, das bis zur Kaimauer vor der Zitadelle reichte, und dem äußeren Hafenbecken, das in den Fluß führte. Der Außenhafen war ein paar hundert Meter weiter durch Flöße und fünf cosische Galeeren blockiert.
»Die hier« – er zeigte in die Runde – »wären jetzt alle tot, hättet ihr nicht so gehandelt.«
Ich ließ den Blick über den Innenhafen und den Rest der Brücke schweifen. »Dort weht nun die Flagge von Cos«, sagte ich.
»Du hast sie solange gehalten, wie es nötig war«, sagte Aemilianus. »Solange, wie wir brauchten, um den Weg zum Pier zu versperren.«
Ich fand es bemerkenswert, daß sich die Cosianer die Mühe machten, ihre Flagge am Ende der zerstörten Brücke aufzupflanzen. Anscheinend hatten wir dafür gesorgt, daß sie ihnen etwas bedeutete.
Ich warf auch einen Blick auf die Zitadelle und die Stadt. Die Zitadelle brannte. Auch in der Stadt brannten noch Feuer, selbst nach all diesen Tagen.
»Du bist nicht Marsias«, sagte ein Soldat. Ich erkannte ihn wieder. Es war Caledonius. »Wer bist du?«
»Ar-Station gibt es nicht mehr«, sagte ich zu Aemilianus.
»Doch. Seinen Heimstein gibt es noch immer.«
»Er wurde aus der Stadt gebracht?«
»Ja. Er wurde vor Wochen aus der Stadt gebracht und nach Süden geschickt, nach Ar, wo er mittlerweile eingetroffen sein müßte, wenn alles nach Plan verlief.«
»Schon vor so langer Zeit hattest du die Hoffnung auf das Entsatzheer aus Ar aufgegeben?« fragte ich.
»Ich hatte recht«, erwiderte er verbittert.
Ich nickte. Es ist unmöglich, die Belagerung einer Stadt wie Ar-Station geheimzuhalten. Es war eine der größten Hafenstädte am Vosk. Außerdem kann jeder einen Kalender lesen.
»Du hast dir nichts anmerken lassen«, sagte ich.
»Und was hättest du an meiner Stelle getan, als Kommandant von Ar-Station?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Vermutlich das gleiche.«
»Und obwohl ich die Hoffnung nicht aufgab, wollte ich den Heimstein nicht gefährden. Darum schickte ich ihn südwärts.«
»Mit einem Tarnsmann?«
»Nein«, antwortete er. »Cos beherrscht den Himmel. Ich schickte ihn im Wagen eines Kaufmannes nach Süden, eines gewissen Septimus Entrates.«
»Unter den zahllosen Wagen und Karren mit Flüchtlingen, die nach Süden unterwegs waren, dürfte er kaum aufgefallen sein«, meinte ich.
»Das hoffe ich«, sagte Aemilianus.
Irgendwie hatte der Name Septimus Entrates einen vertrauten Klang. Andererseits hört man im Laufe der Zeit Tausende von Namen.
»Cos trifft Vorbereitungen zum Angriff«, meldete ein Krieger.
»Von beiden Seiten?« fragte Aemilianus.
»Es hat den Anschein«, sagte der Bote. »Die Kette der Flöße wurde an drei Stellen geöffnet. Die Schiffe von Cos fahren in diesem Augenblick in den Hafen ein. Auf dem Fluß sind noch weitere Flöße zu sehen. Außerdem legen Boote und Flöße vom Kai ab.«
»Die Cosianer werden von den Booten und Flößen einen Feuersturm herüberschicken«, prophezeite Aemilianus düster. »Der Himmel wird sich verdunkeln mit ihren Peilen und Bolzen. Benutzt die Körper der Toten und Verwundeten als Schilde.« Er befahl ihnen nicht, Planken aus der Pier zu reißen, um damit notdürftige Barrikaden zu errichten. Vielleicht war das später möglich, doch jetzt hätten wir damit den Boden vernichtet auf dem wir standen, so viele Menschen drängten sich hier. Es würde sogar schwierig sein, die Waffen einzusetzen; eigentlich war nur genügend Platz da, um zuzustoßen. »Wenn die Cosianer den Pier stürmen«, fuhr Aemilianus fort, »wird sich der Rest von uns ihnen entgegenstellen und sie für jede Planke bezahlen lassen, die sie überschreiten. Tragt mich nun auf die andere Seite, an den Innenhafen.«
»Aber du bist verwundet«, sagte sein Adjutant.
»Natürlich, du Narr«, stieß Aemilianus wütend hervor. »Was denkst du dir? Glaubst du, ich würde einen Befehl geben, dem ich selbst nicht gehorchen würde? Mein verwundeter Körper wird beim Kampf als Schild dienen. Nur dazu ist er noch zu gebrauchen.«
»Wir brauchen Aemilianus, unseren Kommandanten«, sagte Caledonius. »Keinen Körper für einen Schild.«
Aemilianus versuchte wütend, auf die Beine zu kommen. Eine frische, helle Blutspur sickerte unter dem Verband um seinen Leib hervor. Er sank zurück in die sitzende Position. »Surilius«, sagte er zu seinem Adjutanten. »Das Schwert. Benutze es jetzt. Dann hat der Streit um Körper und Schilde ein Ende.«
»Nein, Kommandant.«
Aemilianus war verblüfft. »Ich habe noch nie erlebt, daß du einen Befehl verweigerst.«
Surilius zog sein Schwert, »Wenn schon ein Körper als Schild dienen soll, dann nimm meinen an deiner Stelle.«
»Nein, alter Freund«, flehte Aemilianus. Doch Surilius machte sich bereit, sich das eigene Schwert ins Herz zu stoßen.
»Du«, sagte Aemilianus und wies auf mich. »Töte mich.«
»Ich bin müde«, erwiderte ich.
»Zieh dein Schwert«, bat er verzweifelt. »Halte es so, daß ich mich auf die Klinge stürzen kann.«
»Nein.«
»Nein?«
»Ich bin kein Bürger von Ar-Station«, sagte ich. »Versuche nicht, jemandem einen Befehl zu geben, der weder für Ar noch für Ar-Station große Sympathien hegt.«
»Aber du hast für uns gekämpft«, sagte Aemilianus.
»Ich sah Dinge, die mir nicht gefielen«, erwiderte ich. »Und ich habe gekämpft, aber es liegt in der Natur des Tarns zu fliegen und eines Kaiilas zu laufen.«
Männer erschauderten. Im Kodex steht geschrieben, daß alle Krieger einen gemeinsamen Heimstein haben. Sein Name ist Kampf.
Aemilianus wandte sich wieder an Surilius. »Du hast dein Wort gegeben«, sagte er flehend.
»Mein Wort ist mir heilig«, sagte der Adjutant. »Aber das gleiche gilt für die Bedingungen, unter denen ich es dir gegeben habe, und danach darf ich nicht zulassen, daß du in die Hände der Cosianer fällst, falls du es aus eigener Kraft nicht verhindern kannst. Dann, und nur dann, werde ich dich töten.«
»Du bist ein guter Soldat«, sagte Aemilianus. »Ich bitte dich um Verzeihung, mein Freund.« Er verzog das Gesicht. Wieder sickerte ein Blutstrom unter dem Verband hervor.
»Laßt ihn ruhen«, sagte ich.
Caledonius half dem Kommandanten, sich hinzulegen, der die Hand nach seinem Freund ausstreckte.
»Ich werde an deiner Seite sein«, sagte Surilius.
Ein Soldat kam heran. »Sie kommen«, verkündete er. »Es müssen über hundert Boote und Flöße sein, und sie kommen von beiden Seiten.«
»Nun wird es nicht mehr lange dauern, mein Freund, nicht wahr?« fragte Aemilianus.
»Nein, lieber Freund«, sagte Surilius. »Ich glaube nicht, daß es noch lange dauert.«
»Seht doch«, sagte Caledonius und zeigte auf den Hafen. »Ich wußte nicht, daß sie so viele Schiffe haben.«
»Was?« rief ich.
»Da«, erwiderte Caledonius und zeigte in Richtung Fluß.
Jenseits des an drei Stellen geöffneten Floßwalls kam eine Gruppe von Segeln in Sicht, sie waren lang und dreieckig und gehörten zu mit Lateinersegeln getakelten Galeeren.
»Sie kommen, um das Ende zu besiegeln«, sagte Caledonius.
»Wo ist ein Glas?« rief ich, »ein Hausbauerglas?«
Unter unseren Blicken senkte sich das Segel des ersten Schiffes auf die waagerechte Unterrah, die dann parallel zum Kiel geschwenkt und gesenkt wurde. Im nächsten Augenblick wurde der Mast umgelegt. Die anderen Galeeren folgten dem Beispiel. Mir sträubten sich die Nackenhaare. Das sind die Vorbereitungen, die eine Galeere trifft, wenn sie in die Schlacht fährt. Die Schiffe wurden jetzt nur noch durch die Kraft ihrer Ruder bewegt. Es fiel schwer, sie auf diese Entfernung genau zu sehen. Aber es waren keine Rundschiffe. Es handelte sich um schmale Schiffe, um Rammschiffe. Sie waren flach gebaut und lagen niedrig auf dem Wasser, wie Messer.
»Bringt mir ein Fernglas!« rief ich.
»Ein Glas her!« nahm Caledonius den Ruf auf.
»Eines der cosischen Schiffe wendet«, sagte einer der umstehenden Soldaten.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Surilius.
»Wie viele Schiffe sind das überhaupt?« fragte der Soldat.
»Und wo hat Cos solche Schiffe her?«
»Die Cosianer in den Booten und auf den Flößen sind fast da«, meldete jemand. »Gleich werden sie mit dem Angriff beginnen.«
Ein Tarnsmann kam aus Richtung Fluß angeflogen, überquerte den Pier und raste dann der Kaimauer entgegen.
»Die Schilde an die Ränder der Pier!« rief Surilius. Er hatte sein Schwert gezogen.
Frauen und Kinder begaben sich in die Mitte des Piers und kauerten sich nieder. Viele der Frauen schützten die Kinder mit ihren Körpern. Alles geschah mit erstaunlicher Lautlosigkeit.
Jemand hielt mir ein Hausbauerglas hin. Ich hob den Apparat vor die Augen. Es dauerte nur kurz, dann hatte ich ihn justiert und richtete ihn auf das Flaggschiff der näherkommenden Flottille. Ich suchte nach der Flagge, die an ihrem Tau zwischen Bug und Vordersteven flatterte. Dann senkte ich das Glas wieder und verschloß es.
»Welche Farben haben sie?« fragte Caledonius.
»Es ist das Blau von Cos«, antwortete ich.
Surilius packte das Schwert fester und starrte auf die bewußtlose Gestalt von Aemilianus hinab.
»Cos hat auf dem Fluß keine so große Streitmacht«, sagte ein Mann.
»Seht euch die Männer auf den Flößen an«, meinte Caledonius. »Sie scheinen sehr aufgeregt zu sein.«
»Darf ich mal sehen?« fragte der Soldat.
Ich gab ihm das Glas.
Er richtete es auf die Hafenmündung. Die Schiffe waren näher heran. Man konnte die blaue Flagge bereits mit bloßem Auge erkennen.
»Das ist nicht die Flagge von Cos!« rief der Soldat.
»Dann ist es eben eine Variante«, sagte ich, »vielleicht die Flagge ihrer Flußstreitmacht.«
»Es ist die Flagge von Port Cos!« rief er. »Es ist die Flagge von Port Cos!«
»Die Flagge von Port Cos!« nahmen andere den Ruf auf.
»Und?« fragte ich. »Port Cos ist eine cosische Kolonie, seine Machtbasis am Vosk.«
»Der Topas!« rief der Soldat.
»Der Topas! Der Topas!« erscholl der Ruf aus Hunderten von Kehlen.
Surilius schüttelte Aemilianus, versuchte ihn aufzuwecken. Tränen strömten aus seinen Augen, »Der Topas!« rief er. »Marcus ist durchgekommen! Es ist Calliodorus aus Port Cos! Es ist der Schwur des Topas!«
»Ich verstehe nicht«, sagte ich.
Dann war das Flaggschiff heran, schoß durch die Öffnung in dem Floßwall und rasierte die Ruder des cosischen Schiffes im Hafen ab. Die nächste cosische Galeere wurde mittschiffs gerammt. Die drei restlichen Schiffe des Feindes versuchten, an den Hafenseiten anzulegen. Eines lief vor einem Wachturm auf Grund. Die Männer auf den Flößen versuchten die Ketten zusammenzuziehen und den Hafen wieder zu verschließen. Aber vier Galeeren schoben sich über sie hinweg; Holz zersplitterte, während sich die Rammsporne aus dem Wasser erhoben, dann waren sie im Hafen. Die Besatzungen der beiden anderen cosischen Schiffe, die nicht auf Grund gelaufen waren, sprangen über Bord und wateten in dem hüfthohen Wasser aufs Ufer zu. Weitere Galeeren gingen längsseits zu den noch nicht zerstörten Teilen des Floßwalls, und Männer schwärmten aus. Die Cosianer, die sich dort aufgehalten hatten, ergriffen die Flucht. Die drei Öffnungen in der Floßkette blieben bestehen. Davon abgesehen trieben zwei Flöße ziellos im Hafenbecken umher, während die beiden Flöße an den jeweiligen Enden der Ausfahrt nur noch an den dicken Pfählen vertäut waren, die man in der Nähe der Wachtürme in den Sand getrieben hatte; sie schwammen zur Seite. Die Ruderboote und Flöße der Cosianer, die sich im Hafenbecken zum Angriff bereitgemacht hatten, flohen nun in den Schutz des nächsten Wachturms. Noch immer liefen Galeeren in den Hafen ein. Das Flaggschiff legte an dem äußersten Anlegeplatz der Pier an.
»Ich verstehe nicht, was hier vorgeht«, sagte ich. »Was hat es mit diesem Topas auf sich?«
»Dann mußt du wirklich ein Fremder in Ar-Station und am Fluß sein«, meinte Caledonius. »Ursprünglich war der Schwur des Topas ein Abkommen der Flußpiraten, das Versprechen, sich gegenseitig zu helfen und im Falle einer Gefahr einander beizustehen. Es war ein Bündnis zwischen dem östlichen und dem westlichen Vosk, zwischen Policrates im Osten und Ragnar Voskjard im Westen. Als sich die Hafenstädte des Flusses gegen die Raubzüge, die Tributzahlungen und Zölle der Piraten erhoben, fiel der Topas in die Hände der siegreichen Rebellen. Aus diesem Kampf entstand die Voskliga.«
Über die Voskliga wußte ich Bescheid. Ihr Hauptquartier befand sich in Victoria, am Nordufer des Vosk, zwischen Fina und Tafa. Ihre Patrouillen hatten dafür gesorgt, daß es die Piraterie im großen Stil kaum noch gab, und zwar von Weißwasser im Osten bis zu Lara, einer Stadt der Salerianischen Konföderation am Flußdelta, wo der Vosk und der Olni zusammenströmten.
»Aber ein Topas ist ein Stein«, sagte ich, »eine Art Halbedelstein.«
»Und ein solcher Stein ist das Symbol des Bündnisses. Einstmals handelte es sich um einen recht ungewöhnlichen Stein, dessen Muster und Farbe den Eindruck erweckten, es handele sich um die Darstellung einer Flußgaleere. Der Stein wurde jedoch in zwei Teile zerbrochen. Auf den Einzelstücken kann man das Schiff nicht sehen, da die Verfärbungen und Einschlüsse bedeutungslos erscheinen. Fügt man die Teile aneinander, ist das Schiff zu erkennen. Das eine Stück befand sich ursprünglich im Besitz von Ragnar Voskjard, dem Anführer der Piraten des Westens, das andere gehörte Policrates, dem Anführer des Ostens. Brauchte einer von ihnen Rat oder Hilfe, schickte er dem anderen sein Stück. Dann vereinten sie ihre Kräfte.«
»Was hat der Topas mit der Voskliga zu tun?«
»Mit der Liga selbst überhaupt nichts«, sagte Caledonius. »Er symbolisiert jetzt ein privates Versprechen zwischen Port Cos und Ar-Station.«
»Aber die Sympathien von Port Cos liegen doch bestimmt bei seinem Mutter-Ubarat«, sagte ich, »und die von Ar-Station bei Ar.«
An dem Pier legten mehrere Galeeren an. Männer mit Schilden sprangen von Bord und liefen zu der dem Innenhafen zugewandten Seite. Cosianer, die versuchten, die Anlegestellen zu erklimmen, würden dort nun auf Hunderte ausgeruhte und bewaffnete Männer stoßen.
»Port Cos und Ar-Station haben auf dem Fluß Rumpf an Rumpf schreckliche, blutige Schlachten gekämpft. Nach dem Endsieg über die Piraten, das war 10.127 C.A., gelangten die Topasstücke in den Besitz von Calliodorus, dem Ersten Kapitän von Port Cos, und Aemilianus, der damals die Marine von Ar-Station befehligte. Sie haben den Schwur untereinander erneut bekräftigt, sozusagen als Kriegskameraden, da Ar verbot, daß Ar-Station Mitglied der Voskliga wurde.«
»Warum denn das?« fragte ich.
»Das weiß ich nicht. Vermutlich hatte Ar die Befürchtung, eine solche Allianz könnte seinen Ansprüchen im Voskbecken schaden.«
Ich nickte. Das machte Sinn. Meine Gedanken waren in die gleiche Richtung gegangen. Der Soldat hatte als Jahr der Schlacht 10.127 C.A. angegeben. Es war nur natürlich, daß er als Bürger von Ar-Station den Kalender von Ar benutzte. Viele Städte haben ihre eigene Zeitrechnung, die auf den Listen ihrer Administratoren oder dergleichen beruht; vielleicht liegt das in ihrer Eitelkeit begründet, vielleicht auch in ihren Traditionen. Daraus folgt allerdings, daß die goreanische Zeitrechnung ein heilloses Wirrwarr darstellt. Nach dem Kalender von Port Kar fand die Schlacht im Jahr acht der Herrschaft des Kapitänrates von Port Kar statt. Fast jedes Jahr schlägt eine kleine Gruppe aus der Kaste der Schriftgelehrten auf dem Jahrmarkt im En’Kara in der Nähe des Sardargebirges eine umfassende Reform der Zeitrechnung vor, aber so vernünftig dieser Vorschlag auch erscheinen mag, erhält er nur selten Unterstützung, nicht einmal von den eigenen Kastenmitgliedern. Das mag darin begründet liegen, daß die Koordination eines solchen Unternehmens genau wie die Darstellung und Bewahrung der Gesetze für gewöhnlich als Vorrecht dieser Kaste betrachtet werden.
»Das ist die Tais«, sagte Caledonius und zeigte auf das Flaggschiff der kleinen Flotte. »Die würde ich überall erkennen!« Die Galeere wurde gerade festgemacht. Ihr Kapitän, der vom Achterdeck Befehle gegeben hatte, stieg nun den Niedergang hinab, vorbei an den beiden Rudergängern. Einen Augenblick später sprang er wie ein gewöhnlicher Matrose über die Reling. Er trug weder einen Hut noch einen Helm. Ein junger Mann folgte ihm. Ich kannte ihn; er hatte damals in der Zitadelle das Audienzgemach verlassen. Sein Name war Marcus, und er gehörte der Kriegerkaste an. Männer jubelten, klopften ihm im Vorbeigehen auf die Schulter. Sie versuchten sogar, den wehenden Umhang des Kapitäns zu berühren.
»Wo ist Aemilianus?« rief der Kapitän. Sonnenstrahlen fingen sich auf der polierten Oberfläche eines gelbbraunen Steines in seiner erhobenen Hand, der etwa die Größe einer halben Faust besaß. Männer, die ihn erblickten, fingen an zu weinen.
»Das sind doch bestimmt mehr Schiffe, als Port Cos zur Verfügung hat«, murmelte Caledonius.
»Sei still!« zischte Surilius. Seine Vorsicht verblüffte mich.
Mittlerweile waren ungefähr fünfundzwanzig Schiffe in den Hafen eingelaufen, von denen die meisten an den Anlegeplätzen vertäut wurden. Die ersten Frauen und Kinder wurden bereits über Planken an Bord genommen.
Der Kapitän und Marcus bahnten sich einen Weg durch die Menge, bis sie vor Aemilianus standen. Surilius half dem Kommandanten, sich aufzusetzen.
Ich trat ein paar Schritte zurück, damit ich die Szene besser beobachten konnte. Der Kapitän, bei dem es sich wohl um Calliodorus handelte, der vor langer Zeit, als beide noch niederrangige Offiziere gewesen waren, an Aemilianus’ Seite auf dem Fluß gekämpft hatte, kniete neben ihm nieder. Er drückte ihm den mitgebrachten Stein in die Hand. Aemilianus hielt ihn mit Tränen in den Augen fest. Calliodorus griff nun unter die Tunika und holte einen ähnlichen Stein hervor. Dann führte er beide Steine zusammen, wobei er Aemilianus’ Hand stützte, da dieser den Topas kaum halten konnte. Es war verblüffend, wie auf der Oberfläche beider Steine das Bild einer Galeere erschien.
Ein Soldat, der neben mir stand, brach in Tränen aus.
Eine blonde, abgemagerte, in Lumpen gekleidete Sklavin wagte es, zwischen den Beinen der freien Männer vorbeizukriechen, bis sie Aemilianus erreicht hatte. Sie berührte sein Bein. Auch sie weinte. Ich erkannte sie wieder, es war Shirley aus dem Audienzsaal der Zitadelle.
Calliodorus legte Aemilianus’ Hände um den Stein und umschloß sie seinerseits mit seinen Händen. Nun berührten sie beide die geeinter Hälften des Topas. »Ich habe den Schwur erfüllt!«
»Ich danke dir, Kommandant«, sagte Aemilianus leise.
»Nicht der Rede wert, Kommandant«, erwiderte Calliodorus.
Noch immer bestiegen Frauen und Kinder die Galeeren. Vom Kai konnte man Rückzugsfanfaren hören. Die Ruderboote und Flöße im Innenhafen drehten um und zogen sich zurück. Die Flagge von Cos wurde von der Brustwehr eingeholt. Kein einziger Bolzen war abgefeuert worden.
»Ich habe Tage gebraucht, bis ich Port Cos erreichte«, sagte der junge Marcus. »Man hat mich verfolgt. Einmal wurde ich gefangengenommen. Ich konnte entfliehen. Ich reiste nur noch nachts. Ich verbarg mich in den Sümpfen. Es tut mir leid.«
Aemilianus griff mühsam nach seiner Hand. »Du hast Port Cos erreicht.«
»Es dauerte einige Zeit, bis wir die Schiffe ausgerüstet hatten«, sagte Calliodorus. »Es tut mir leid.«
»Solche Vorbereitungen brauchen ihre Zeit«, sagte Aemilianus.
»Es gab keine Probleme, genügend Mannschaftsmitglieder zu finden«, fuhr Calliodorus fort. »Es gab unzählige Freiwillige. Tatsächlich ist hier kein Mann, der nicht ein Freiwilliger war. Wir mußten sogar Männer abweisen. Die meisten der Matrosen haben mit uns gegen Policrates und Voskjard gekämpft.«
Aemilianus lächelte. »Gut.«
»Wir, die wir so weit im Westen leben, hatten nicht erkannt, daß eure Lage so verzweifelt war.«
Das war bemerkenswert. Soweit ich herausgefunden hatte, befand sich Ars Heer irgendwo im Westen, südlich des Flusses. Ich hätte jede Wette abgeschlossen, daß keiner seiner Soldaten besser über die Lage Bescheid wußte als die Bürger von Port Cos.
»Wie viele Schiffe hast du mitgebracht?« wollte Aemilianus wissen; es war die Frage eines Kommandanten.
Calliodorus lächelte. »Zehn aus Port Cos«, sagte er. »Aber als wir den Fluß hinaufsegelten, stießen hier und da ein paar Schiffe zu uns, die ihre Herkunft nicht enthüllen wollten.«
»Unbekannte Schiffe?« Jetzt lächelte auch Aemilianus. »Die von hier und da kamen?«
»Genau«, erwiderte Calliodorus, dessen Lächeln breiter wurde. »Wir haben ihre Heimathäfen nie erfahren.«
»Wie viele sind es?«
»Fünfzehn.«
»Diese Schiffe stehen nicht zufällig unter dem Kommando eines gewissen Jason, der aus Victoria stammt?«
»Man kann von mir nicht erwarten, daß ich über solche Dinge Bescheid weiß«, sagte Calliodorus.
»Die Voskliga sei gepriesen!« sagte ein Soldat.
»Sie sei gepriesen!« flüsterte Caledonius.
»Jedem einzelnen hier muß klar sein«, sagte Calliodorus lächelnd und schob seine Hälfte des Topas wieder in den Beutel, »daß die Voskliga, die auf dem Fluß eine neutrale Macht darstellt und lediglich dafür da ist, auf dem Fluß für Recht und Ordnung zu sorgen, auf keinen Fall in diese Operation verwickelt ist.«
»Die Voskliga sei gepriesen«, murmelte mehr als nur ein Bürger Ar-Stations.
Ich löste mich aus der Menge um Aemilianus und begab mich an den Rand des Piers. Insgesamt zählte ich fünfundzwanzig Schiffe. Zehn davon hatten die blaue Flagge gehißt, die ich für die Flagge von Cos gehalten hatte. An den Flaggentauen der anderen fünfzehn Schiffe waren keine Farben zu sehen, soweit ich das erkennen konnte. Als ich den Pier entlangging, fiel mir auf, daß bei einigen Schiffen die Stellen an Bug oder Heck, an denen sonst die Namen standen, mit Segeltuch verhüllt waren.
Auf dem Rückweg blieb ich vor dem Schiff stehen, das neben der Tais festgemacht war. Es war die zweite Galeere, die in den Hafen eingedrungen war und das cosische Schiff gerammt hatte.
»Du fragst dich sicher, wo das Schiff herkommt«, sprach mich ein Bürger aus Ar-Station an.
»Allerdings, ich bin neugierig.«
»Das ist die Tina aus Victoria«, sagte er. »Ich habe sie oft genug auf Patrouillenfahrt gesehen.«
»Das ist interessant«, sagte ich. In Victoria befand sich das Hauptquartier der Voskliga.
»Das weißt du natürlich nicht von mir.«
»Ich verstehe«, sagte ich.
In der Nähe des Bugs stand ein dunkelhaariger Mann. Seine Haltung verströmte natürliche Autorität, aber er trug weder Uniform noch Rangabzeichen. Seine Männer wußten auch so, wer er war, und andere hatte es nicht zu interessieren. Er bemerkte uns. Am Bug, ein Stück oberhalb unserer Position, hing ein Stück Segeltuch, das den Namen verbarg.
»Tal«, sagte er.
»Tal«, erwiderte ich. »Wenn ich dieses Tuch entfernte, würde ich dann den Namen Tina lesen?«
Der Seemann warf dem Mann neben mir einen scharfen Blick zu. Anscheinend kannte er ihn von irgendwoher. Zumindest hatte der Bürger kein Problem gehabt, das Schiff zu identifizieren. »Vitruvius?« fragte er.
»Man kann ihm vertrauen«, sagte der Bürger aus Ar-Station. Dieses Vertrauen hatte ich mir wohl auf der Brustwehr, vor dem Tor und auf der Brücke verdient.
»Tu, was du willst«, sagte der Seemann.
Ich hob das Segeltuch ein Stück an und ließ es wieder zurückfallen. Der in archaischen Buchstaben geschriebene Name lautete Tina.
»Also ist dein Schiff tatsächlich die Tina«, sagte ich.
Er lächelte. »Es gibt zweifellos viele Schiffe mit diesem Namen.«
»Und wo ist sein Heimathafen?« fragte ich.
»Westlich von hier«, sagte er grinsend.
»Victoria?«
»Oder in Fina, oder sonstwo.«
»Diese Flotte, die überraschenderweise keine Flagge zeigt, gehört doch nicht der Voskliga, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir sind eine unschuldige Handelsflotte.«
»Im Hafen wurde ein cosisches Schiff zerstört«, sagte ich. »Ein anderes wurde schwer beschädigt.«
»Ja«, sagte er. »Es hat den Anschein, als hätte es im Hafen zwei bedauerliche Unfälle gegeben.«
»Du nimmst Frauen und Kinder an Bord.«
»Passagiere.«
»Manche Leute könnten auf die Idee kommen, daß diese Galeeren der Voskliga gehören«, sagte ich.
»Was glaubst du, Vitruvius?« fragte der Seemann und lehnte sich auf die Reling.
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß diese Schiffe der Voskliga gehören«, sagte Vitruvius. »Wie allseits bekannt ist, ist die Liga neutral. Findest du es nicht auch unwahrscheinlich?«
»Ziemlich unwahrscheinlich.«
»Wie heißt du?« fragte ich den Seemann.
»Und wie heißt du?«
»Tarl.«
»Ein weitverbreiteter Name.«
»Ja«, erwiderte ich. »Vor allem im Norden.«
»Ich habe auch einen weitverbreiteten Namen, vor allen Dingen im Westen, am Fluß.«
»Und wie lautet er nun?«
»Jason.«
»Und aus welcher Stadt kommst du?«
»Aus derselben Stadt, die auch der Heimathafen dieses Schiffes ist.«
»Westlich von hier?«
»Ja.«
»Victoria?«
»Oder Fina oder dergleichen.«
Ich nickte. »Ich wünsche dir alles Gute.«
»Ich wünsche dir alles Gute.«
Jetzt gingen die ersten Männer an Bord des Schiffes. Ich drehte mich um und sah zum Flaggschiff. Aemilianus wurde gerade an Bord getragen. Über unseren Köpfen flogen einige Tarnsmänner, aber keiner schoß.
Ich sah zu, wie die Bewohner von Ar-Station auf die Schiffe verladen wurden. In der Menge entdeckte ich auch Lady Claudia, ihr waren nun die Hände auf den Rücken gefesselt. Vermutlich hatte sie jemand erkannt, vielleicht sogar der verwundete Marsias. Hinter ihr brachte man die Sklavin Publia ebenfalls an Bord des Flaggschiffs.
Die bereits an Bord befindlichen Frauen und Kinder erhielten bereits Schiffsrationen. Fünf Galeeren hatten schwer mit Passagieren beladen abgelegt und sie zu den Schiffen gebracht, die vor der Hafeneinfahrt ankerten. Die letzte Ladung behielten sie an Bord und gingen dann ebenfalls vor Anker. Auch die Tina und die Tais hatten Passagiere aufgenommen, waren aber die ganze Zeit an ihren Anlegeplätzen vertäut geblieben. Überall drängten sich die Bewohner von Ar-Station. Ich bezweifelte, daß kein Schiff weniger als hundert Passagiere beförderte.
Dabei darf man nicht vergessen, daß es sich hier um Flußgaleeren handelte, die schmaler als die Galeeren waren, die das Thassa berühren. Die Flußgaleeren führen auch niedrigere Mäste als die Thassagaleeren, sie haben in der Regel auch nur einen Mast und führen nicht die verschiedenen Segel mit, die auf den Meergaleeren je nach Windstärke angeschlagen werden. Sie weisen selten mehr als zwanzig Ruderer pro Seite auf.
Jetzt lagen noch fünfzehn Schiffe an der Pier, die überwiegend aus Port Cos stammten und bis auf die Besatzungen leer waren. Auf dem Heckkastell der Tais erscholl ein Kriegshorn. Es war das Signal zum Rückzug. Die zahllosen Soldaten und bewaffneten Ruderer, die den Pier zur Landseite hin beschützt hatten, zogen sich in Reih und Glied auf die Schiffe zurück.
Auf einigen hatten die Ruderer kaum noch genug Platz, um die Ruder einzulegen. Die Rammsporne befanden sich fast einen halben Meter unter Wasser. Matrosen lösten die Taue und begaben sich dann an Deck. Einige der Schiffe wurden mit den traditionellen drei Stangen von den Landungsstegen abgestoßen. Darunter auch die Tina.
Ich blickte in den Hafen hinaus.
Einige der Schiffe holten die Anker ein, einen am Bug und einen am Heck, und drehten, bis die riesigen, aufgemalten Augen nach Norden auf den mächtigen Fluß hinausblickten. Fast alle goreanischen Schiffe weisen diese Augen auf. Wie, fragen die Seeleute, sollen sie sonst den Weg finden? Für den goreanischen Seemann und viele andere, die die See kennen, fürchten und lieben, ist ein Schiff mehr als eine von Ingenieuren entworfene Konstruktion aus Holz und Eisen. Es ist mehr als die Summe des Tauwerks und der Blöcke, der Bohlen und der Planken, dem Segeltuch und der Farbe. Es hat etwas Undefinierbares, Kostbares, ein Mysterium, das weit über das hinausgeht, was man mit den Augen sehen kann, ein natürliches, wunderbares Geheimnis, wie das von Liebenden und Freunden. Obwohl ich nur selten Zeuge wurde, wie goreanische Seeleute dies in Worte faßten, vor allem in Anwesenheit von Landbewohnern, scheinen doch viele von ihnen zu glauben, daß ihr Schiff lebendig ist. Dieses Leben nimmt seinen Anfang in dem Moment, in dem die Augen aufgemalt werden. Wenn es sehen kann, fängt es auch an zu leben. Zugegeben, man könnte das als Aberglauben bezeichnen, andererseits könnte man es auch Liebe nennen.
Die Schiffe im Außenhafen, die bereits nach Norden ausgerichtet waren, holten ebenfalls die Anker ein.
Ich blickte zum Kai und der Zitadelle hinüber. Von meiner Position aus konnte ich den Rest der Brücke sehen. Die Zitadelle brannte.
Ich drehte mich wieder zum Außenhafen um.
Die ersten Schiffe fuhren auf den Fluß zu. Andere folgten ihnen in einer Linie.
Rauch aus der Stadt trieb zu dem Pier. Die Feuer würden noch zwei oder drei Tage lang brennen.
Ich sah noch einmal zur Brücke. Es war ein guter Kampf gewesen, der dort ausgefochten worden war. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß es jemanden geben würde – sowohl aus Cos wie auch aus Ar-Station – der ihn bedauerte. Ruhm ist sein eigener Sieg.
Die letzten Schiffe legten ab, Wasser tropfte von den Ruderblättern. Allein die Tais lag noch an ihrem Anlegeplatz.
»Hauptmann?« rief eine Stimme. Es war der junge Armbrustschütze.
Sein Freund stand neben ihm.
Sie lösten die Taue und folgten mir dann an Bord. Dann wurde die Planke über die Reling gehoben. Drei Matrosen stießen die Tais mit langen Stangen ab.
»Die Ruder aufnehmen!« erscholl der Ruf des Rudermeisters.