Die Tais folgte der Strömung des Vosk und fuhr nach Westen. Sie führte den Hauptteil der Flottille an. Vor uns befanden sich vier kleinere Galeeren, die kaum noch auszumachen waren. Sie bildeten die Vorhut. Hinter der Flottille, einen Pasang entfernt, bildeten zwei Galeeren die Nachhut, die ohne Flagge und mit abgedecktem Namen fuhren. Eines der Schiffe war die Tina, mit deren Kapitän ich mich am Vortag kurz unterhalten hatte.
Der Vormittag war etwa zur Hälfte vorbei. Aemilianus saß vor dem Niedergang, der zum Ruderdeck und von dort aus weiter zum Heckkastell führte; er lehnte mit dem Rücken an einem Ballen Segeltuch und Seilen. Sein Freund Calliodorus leistete ihm Gesellschaft. An seiner Seite war wie immer sein Adjutant Surilius. Viele der Verwundeten befanden sich an Deck, so auch Marsias. Der junge Marcus war ebenfalls anwesend. Er war der Mann, der sich bis nach Port Cos durchgeschlagen hatte und mit den Schiffen zurückgekehrt war und so die Evakuierung von Ar-Station überhaupt erst möglich gemacht hatte. Nun gehörte er trotz seiner Jugend zum inneren Kreis der Überlebenden. Es waren noch viele andere da, auch die beiden Jungs, die auf der Mauer als meine Boten gedient und sich später auf der Brücke bewährt hatten. Alle, die sich in Aemilianus’ Nähe aufhielten, hatten unter den Überlebenden von Ar-Station hohes Ansehen erworben.
Es war erstaunlich, was eine ordentliche Mahlzeit und eine vernünftige Nachtruhe bewirkt hatten, auch wenn es nur ein ungemütlicher Schlafplatz auf dem überfüllten. Galeerendeck gewesen war. Für die meisten von ihnen war es der erste Schlaf seit Wochen gewesen, der nicht durch einen Alarm oder Postengehen unterbrochen wurde.
Kurz nachdem wir den Hafen von Ar-Station verlassen hatten, hatte ich mir Marsias’ Kapuze vom Gesicht gezogen und den Kopf geschüttelt, erleichtert, die frische und klare Luft des Vosk zu spüren.
»Ich hatte mir schon gedacht, daß du es bist«, sagte Aemilianus erschöpft. »Dein Entkommen und die Flucht jener schrecklichen Verräterin Lady Claudia wurde nach dem Rückzug der Truppen aus der Zitadelle allgemein bekannt. Der gute Marsias und seine Wächter teilten es mir mit. Außerdem gab es keinen zweiten Krieger wie dich in ganz Ar-Station.«
»Du hättest dich doch den Cosianern anschließen können«, fügte Caledonius hinzu. »Warum hast du das nicht getan?«
»Die Mauer mußte verteidigt werden«, erwiderte ich. »Dann führte eines zum anderen.«
»Hättest du die Mauer nicht so lange gehalten und danach Cos am Tor und auf der Brücke bekämpft, wäre für uns der Tag lange vor Calliodorus’ Eintreffen zu Ende gewesen!«
Mehrere Männer stimmten dem zu.
»Es war nicht der Rede wert«, lautete meine Antwort.
An der Backbordseite des Niederganges kniete Shirley, Aemilianus’ blonde Sklavin. Sie war nicht mehr so blaß wie zuvor. Als ich sie ansah, fiel mir auf, daß sich auch Aemilianus heute viel besser fühlte und an Kräften gewonnen hatte. Sie war angekettet. Obwohl die Sklavin den Herren von ganzem Herzen liebt und ihr nicht im Traum einfallen würde, von ihm zu fliehen – was auf Gor ohnehin eine absurde Vorstellung wäre, zieht man die Brandzeichen, die Sklavenkragen und die Geschlossenheit der Gesellschaft in Betracht – weiß sie doch, daß sie gelegentlich in Ketten gelegt wird. Dies symbolisiert sein Verfangen nach ihr, daß sie es wert ist, in Ketten gelegt und behalten zu werden. Es symbolisiert natürlich auch seine Macht über sie. Trotz ihrer Liebe gehört sie ihm und bleibt eine Sklavin.
»Wie geht es meinem alten Freund Callimachus, dem Befehlshaber der Streitkräfte der Voskliga?« fragte Aemilianus den Kapitän. Soviel ich weiß, wird die Voskliga von einem Hohen Rat beherrscht, der sich aus Repräsentanten der Mitgliedstädte zusammensetzt. Wer auch immer dieser Callimachus war, er mußte von diesem Rat in sein Amt eingesetzt worden sein.
»Er wird an seinem Schreibtisch sitzen, hart an der Arbeit, und seinen administrativen Pflichten nachkommen«., sagte Calliodorus.
Aemilianus lächelte. »Zweifellos wird er dafür sorgen, daß er in Victoria in der Öffentlichkeit gesehen wird.«
»Das würdest du an seiner Stelle auch tun«, sagte Calliodorus.
»Er wird überrascht sein, wenn er von der gestrigen Aktion vor Ar-Station hört.«
»Zweifellos«, erwiderte Calliodorus. »Aber wir können uns darauf verlassen, daß er eine sorgfältige Untersuchung einleiten wird.«
Aemilianus lachte.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung würden mit Sicherheit wenig ergiebig sein. Aemilianus sah mich an. »Ich trage dir nichts nach«, sagte er dann. »Ich glaube nicht mehr, daß du ein Spion der Cosianer warst. Es stimmt, ich war mir nicht sicher, wer du warst oder was deine Beweggründe waren. Aber es gibt viele Dinge, die ich noch immer nicht verstehe, zum Beispiel das fehlende militärische Engagement in den vergangenen Monaten.«
»Es würde vieles klar, wenn du bereit wärst, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß es in Ar Verrat gab, und zwar Verrat an höchster Stelle, ein Verrat von ungeheurem Ausmaß.«
»Noch vor wenigen Tagen wäre dieser Gedanke völlig undenkbar gewesen«, sagte er.
»Ist er das noch immer?« fragte ich.
»Nein«, sagte Aemilianus. »Offensichtlich wurde Ar-Station aufgegeben, womit man Cos das Voskbecken und den Fluß überließ.«
»Wie allgemein klar sein dürfte, liegen meine Sympathien bei Cos«, meinte Calliodorus. »Ich habe bestimmt nichts für Ar übrig. Aber falls Cos glaubt, es könnte jetzt über den Fluß herrschen, dann hat es die Rechnung ohne Port Cos und vor allem ohne die Flußstädte gemacht. Wir Flußbewohner werden weder die Botschafter des Lurius aus Jad noch die des Marlenus aus Ar willkommen heißen. Außerdem haben wir mit der Voskliga, der Port Cos angehört, die Voraussetzungen für eine Allianz, die handeln kann, vielleicht sogar für eine unabhängige Regierung.«
»Ar hat etwas gegen die Voskliga«, sagte Aemilianus. »Es befürchtet, sie könnte zu einer weiteren Salerianischen Konföderation werden.«
»Es hat Ar-Station verboten, sich der Liga anzuschließen«, meinte Calliodorus.
»Viele Bürger Ars, darunter angeblich auch Marlenus, waren der Meinung, der Eintritt in die Liga könnte den Eindruck erwecken, daß Ar am Fluß nur eine Macht unter vielen sei und nicht der Beherrscher der Wasserwege, wie es ihm zusteht. Cos hat da vielleicht etwas wohlüberlegter gehandelt, vielleicht ist es von der Annahme, ausgegangen, daß Port Cos irgendwann die Geschicke der Liga bestimmt und es über diesen Umweg die Kontrolle über die Liga gewinnt.«
»Falls das die Absicht von Cos war«, sagte Calliodorus, »und ich bezweifle das keinen Augenblick lang, dann hat es die Interessen und den Stolz von Port Cos falsch eingeschätzt. Obwohl wir in kultureller, historischer und politischer Hinsicht eng mit Cos verbunden sind, sind wir im Gegensatz zu Ar-Station ein unabhängiger Stadtstaat. Wir sind auf jede institutionelle und vertragliche Weise unabhängig.«
Aemilianus schwieg.
»Aber mal was anderes«, sagte der Kapitän. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«
»Sicher. Worum geht es?«
»Wenn wir in Port Cos einlaufen, möchte ich es auf eine Art tun, die schon von weitem klarmacht, daß es einen Grund zum Feiern gibt, daß unsere Reise ein Erfolg war.«
»Tu, was du willst.«
»Dann werde ich mit deiner Erlaubnis das Schiff mit Flaggen und Wimpeln und Fahnen schmücken, und die Flagge von Ar-Station am Bug auf der Backbordseite hissen und die Flagge von Port Cos auf der Steuerbordseite.«
»Wieso führt ein Schiff aus Port Cos die Flagge von Ar-Station an Bord?« wollte Aemilianus wissen.
»Man kann nie wissen, wann man solche Dinge einmal braucht«, lächelte Calliodorus. »Und habt ihr ehrenwerten Herren aus Ar-Station keine Flaggen von Port Cos und anderen Städten an Bord eurer Schiffe, vielleicht in den Truhen in euren Heckkastellen?« Das war ein einleuchtender Ort, um solche Dinge zu verstauen. Dort waren sie aus dem Weg und doch schnell zur Hand.
»Schon möglich«, meinte Aemilianus und lächelte.
»Mein lieber Freund«, sagte Calliodorus und erwiderte das Lächeln.
»Mein lieber Freund«, sagte Aemilianus.
Calliodorus beugte sich vor und nahm Aemilianus’ hochgehaltene Hand. Die beiden waren wirklich alte Kameraden.
Calliodorus richtete sich wieder auf.
Es befand sich eine Flagge von Ar-Station an Bord, die aus der Stadt selbst stammte, eine verblichene, zerrissene und große Flagge, aber um die ging es hier nicht. Sie hatte auf der Brustwehr geweht, während der ganzen Belagerung, stolz und unbeugsam. Der Freund des Armbrustschützen, dem ich sie anvertraut hatte, hatte sie an Bord der Tais gebracht. Er hatte sie Aemilianus übergeben, der sie wiederum an Surilius weitergab. Es war keine Frage, daß diese Flagge den Bürgern von Ar-Station viel bedeutete. Sie würden genau darauf achten, welche Flagge man auf dem Schiff anbrachte.
»Ich muß mich wieder um meine Pflichten kümmern«, sagte Calliodorus. »Ruh dich aus, mein Freund.«
Die meisten der umstehenden Männer waren weitergegangen. Calliodorus verharrte in der Bewegung, als wollte er Aemilianus noch etwas sagen, aber dann schien er es sich anders zu überlegen. Er erklomm die Stufen zum Ruderdeck. Ich sah ihm nach.
»Er wollte uns warnen«, bemerkte Aemilianus und lächelte.
»Warnen?« fragte ich.
»Ja«, sagte Aemilianus. »Er ist ein guter Mann.«
Ich begriff, daß es nicht angebracht war, hier nachzuhaken, zumindest nicht jetzt. Aber im Augenblick hatte wohl keine freie Person etwas zu befürchten. Ich nickte dem Kommandanten von Ar-Station zu und schlenderte an den Frauen und Kindern vorbei zum Bug. Dort blieb ich stehen und sah auf den Fluß herunter. Die Vorhut war etwa einen Viertelpasang voraus. Ich fragte mich, was Calliodorus mit der Warnung gemeint hatte.