»Komm her«, sagte ich. »Noch näher.« Ich zeigte auf eine Stelle rechts von mir, neben dem niedrigen Pagatisch, hinter dem ich mit übereinandergeschlagenen Beinen saß.
Die Ketten klirrten leise, als sie gehorchte.
Ich sah mir die Fußschellen genauer an. Sie hatten Schlösser. Sie paßten wie für sie gemacht, lagen eng an ihren Knöcheln an. Die Länge der Kette, die sie verband, betrug etwa fünfzig Zentimeter, was mehr als ausreichend war. Ich zog ihre Handgelenke nach unten. Die Handschellen saßen fest, unverrückbar; es war unmöglich, aus ihnen zu entkommen. Die Kette dazwischen war dreißig Zentimeter lang.
»Ist mein Herr mit der Fesselung zufrieden?« fragte sie.
Ich schwieg und ließ die Kette los, und sie richtete sich wieder auf.
»Ist der Herr fertig mit seiner Inspektion?« fragte sie scharf.
Bis auf die Ketten war sie nackt.
»Dreh dich langsam einmal um.«
»Ich bin eine freie Frau!« erwiderte sie wütend.
»Muß ich den Befehl wiederholen?«
Sie drehte langsam eine Pirouette.
»Was wünscht der Herr?« fragte sie hochmütig und mit einer Portion Unverfrorenheit, »Ich meine zu essen.«
»Du bist unverschämt. Für eine freie Frau.«
»Niemand wird mich benutzen, denn ich bin frei«, sagte sie.
»Bedient hier noch eine andere freie Frau?«
»Nein.«
Sie mußte die Frau sein, von der der Verwalter gesprochen hatte, die ein Tarskstück pro Ahn kosten sollte. Das war vermutlich etwas hochgegriffen, da sie immerhin eine freie Frau war. Obwohl freie Frauen technisch gesehen unbezahlbar sind, im Bett taugen sie nicht viel. Ihnen fehlt die Ausbildung, die jede Sklavin genießt. Dafür haben sie eine aufgeblähte Vorstellung, was ihre Anziehungskraft betrifft, In solch schwierigen Zeiten war dieser lächerliche Preis natürlich nicht verwunderlich.
»Also darfst du nicht ausgepeitscht werden, da du frei bist?« fragte ich.
Sie wurde leichenblaß.
Obwohl sie anscheinend nicht vollständig über ihre Pflichten als Schankmädchen aufgeklärt worden war, hatte man sie zumindest darüber belehrt, daß sie trotz ihres Status wenn nötig bestraft werden konnte.
»Wie heißt du?« fragte ich.
»Das geht dich nichts an!« fauchte sie.
»Bist du schon einmal ausgepeitscht worden?«
»Ich bin Temione, eine Lady aus Telnus«, sagte sie. »Nein, man hat mich noch nie ausgepeitscht«, fügte sie dann hinzu.
Telnus ist eine bedeutende Hafenstadt auf der Insel Cos. Zugleich ist es die Hauptstadt des Insel-Ubarates.
»Was tust du hier?«
Sie antwortete nicht.
»Zweifellos bist du den Cosianern gefolgt, weil du Beute gerochen hast, weil der mögliche Gewinn verlockend war, wo Männer beladen mit den Schätzen Ar-Stations nach Süden unterwegs sind, Männer, die anfällig für deine angebliche Notlage sind. Vielleicht hast du sogar gehofft, dir einen reich gewordenen Offizier oder gar einen Händler zu schnappen.«
Temione starrte mich wütend an.
»Du wolltest dazu deine Schönheit einsetzen.«
Mit einer wütenden Kopfbewegung warf sie das Haar über die Schultern.
»Haben dich meine Worte in Wut gebracht?«
»Willst du bestellen?«
»Welche Farbe hat dein Haar?« fragte ich. »Es ist schwer zu sehen in diesem Licht.«
»Kastanienbraun.«
»Ein natürliches Kastanienbraun?«
»Selbstverständlich.«
»Diese Farbe, vor allem, wenn sie natürlich ist, bringt auf Sklavenmärkten einen hohen Preis.«
»Ich bin frei.«
»Da draußen sind noch mehr von deiner Sorte, denen ähnliche Gedanken im Kopf herumspuken. Sie knien nun im Hof, angekettet. Kennst du sie?«
Sie wandte wütend den Kopf ab.
»Lady Temione«, sagte ich, »man hat dir eine Frage gestellt!«
»Sie sind zu fünft«, sagte sie. »Rimice, Klio und Liomache aus Cos, Elene aus Tyros und Amina aus Venna.«
»Wie, glaubst du, sieht ihr Schicksal aus?«
»Zweifellos wird man sie auslösen und freilassen«, sagte Temione. »Wir sind alle freie Frauen. Männer werden uns retten, eine ganz bestimmte Sorte von Männern. Diejenigen, die es nicht ertragen können, eine Träne im Auge einer Frau zu sehen. Für solche Männer ist es undenkbar, daß wir die Folgen unserer Taten ertragen müßten.«
»Hältst du mich für solch einen Mann?«
»Nein«, sagte Temione. »Sonst hätte ich dich gebeten, mich auszulösen.«
»Die Männer, von denen du da gesprochen hast, die so fürsorglich, so verständnisvoll sind, die es so eilig haben, dir zu Hilfe zu kommen, die verzweifelt bemüht sind, dir zu helfen und dich zu erfreuen – bringen die tief in deinem Inneren eine Saite zum Klingen?«
»Ich bin eine freie Frau«, erwiderte sie. »Wir stehen über solchen Dingen.«
»Aber du mußt das Eisen fürchten.«
»Das wird niemals geschehen.«
»Aber du mußt es befürchten.«
»Vielleicht.«
»Die Dinge sähen dann ganz anders aus.«
»Ja. Dann wäre alles anders.«
Das entsprach der Wahrheit. Die Sklavin hat einen ganz anderen Status als die freie Frau. Es ist der Unterschied zwischen einer Person und einem Besitztum. Derselbe Mann, der absurde Bemühungen unternimmt, um einer freien Frau zu gefallen und sich ihretwegen sogar zum Narren macht, würde, sollte dieselbe Frau versklavt worden sein, ohne Zögern seine Wünsche mit der Peitsche deutlich machen.
»Wann sind deine betrügerischen Schwestern und du gefangengenommen worden?« fragte ich.
»Heute morgen sollten wir die Rechnung bezahlen«, sagte sie. »Als unsere Ausflüchte die Diener nicht umstimmte, legte man jeder von uns Schlingen um den Hals und führte uns in Gewand und Schleier vor den Tisch des Verwalters. Wir gaben ihm das wenige Geld, das wir hatten, aber es reichte nicht aus. Den Rest des Morgens verbrachten wir in einem Käfig auf Rädern, wo wir auf harten Bänken sitzen mußten, während uns Männer anstarrten. Keiner wollte uns auslösen. Mittags, die zehnte Ahn hatte gerade geschlagen, wurde der Käfig zurück in seinen Schuppen gerollt. Dann führte man uns nacheinander aus dem Wagen, und wir wurden unter den Blicken der draußen wartenden Männer von zwei kräftigen freien Frauen ausgezogen und durchsucht. Als sie fertig waren, durften wir nicht zurück, sondern mußten uns ein Stück abseits mit dem Gesicht zur Wand stellen. So verhinderte man auf einfache Weise, daß diejenigen, die bereits durchsucht worden waren, von den anderen etwas zugesteckt bekamen. Unsere Kleider wurden sorgfältig durchsucht, unsere Körper ebenfalls. Das brachte ihnen noch ein paar zusätzliche Münzen ein. Die Frauen waren gründlich, das kann ich dir versichern. Zweifellos erledigten sie dies nicht zum erstenmal.
Als man uns in den Wagen zurückbrachte, waren wir ohne Geld und nackt. Wir hatten nur noch uns selbst. Der Wagen wurde dann zurück zum Tisch des Verwalters gerollt. Wie du dir sicher vorstellen kannst, wurden die Zudringlichkeiten der anderen Gäste jetzt noch schlimmer. Man sah uns an, als wären wir Sklavinnen! Nach der fünfzehnten Ahn holte man uns aus dem Käfig, und wir mußten uns links neben dem Tisch hinknien. Man fesselte unsere Beine. Mit nur einem Seil. So daß wir mit wenig Aufwand aneinandergefesselt waren.«
»Eure Hände hat man natürlich freigelassen«, fuhr ich fort. »Damit ihr sie mitleiderregend anderen Gästen entgegenstrecken konntet.«
»Natürlich«, sagte sie wütend.
»Erzähl weiter.«
»Gegen die siebzehnte Ahn wurde der Verwalter unseres Flehens und den Protesten wohl müde. Außerdem schien er nicht besonders erfreut über Frauen zu sein, die versucht hatten, in seiner Herberge die Zeche zu prellen.«
»Das ist wohl verständlich.«
»Nein«, rief Temione, »wir sind keine Sklavinnen! Wir sind freie Frauen! Wir können alles tun, was wir wollen!«
»Ach, so ist das.«
»Der Verwalter ist kein Ehrenmann!«
»Das glaube ich gern.«
»Es stimmt«, entgegnete sie scharf. »Sieh mich an, ich stehe hier nackt und angekettet.«
»Ich habe dich angesehen«, versicherte ich ihr.
Sie riß wütend an den Ketten.
»Aber allem Anschein nach hat er euch Gelegenheit gegeben, hier euer betrügerisches Handwerk auszuüben«, sagte ich. »Euer Hauptproblem scheint doch darin zu bestehen, daß ihr einfach keinen Erfolg hattet.«
»Vielleicht ist das so«, sagte sie mürrisch.
So wie ich den Verwalter kennengelernt hatte, war ihm nichts wichtiger, als die offenstehenden Beträge einzukassieren, und wenn eben nicht auf die eine, dann auf die andere Weise.
»Fahr fort«, bat ich sie.
»Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen«, sagte sie zornig. »Zur siebzehnten Ahn war er unserer Anwesenheit wohl überdrüssig, und er ließ uns aus der Nähe seines Tisches entfernen. Fünf von uns wurden nach draußen gebracht, und deinem Bericht entnehme ich, daß man sie auf dem Hof ankettete. Mich hat man in den Pagaraum gebracht, damit ich an den Tischen bediene.«
»Warum hat man dich nicht nach draußen gebracht?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Männer sind lustbesessene Tiere«, sagte sie dann. »Zweifellos bin ich hier, weil ich die Schönste bin.«
»Aber das stimmt nicht«, sagte ich.
Temione warf mir einen wütenden Blick zu.
»Lady Amina und das vierte Mädchen am Ring waren beide schöner als du.«
»Wer war die vierte? War sie zierlich und dunkelhaarig?«
»Ja.«
»Das ist Rimice«, sagte sie. »Sie ist eine zierliche, kurvenreiche Schlampe.«
Ich erinnerte mich an das Mädchen. Sie hatte wunderschöne Hüften gehabt, wie geschaffen für die Liebe.
»Ich bin hübscher als sie«, sagte Temione.
»Für eine freie Frau scheinst du sehr eitel zu sein.«
»Das stimmt nicht«, erwiderte sie. »Ich kümmere mich nicht um solche Dinge.«
»Sicher, die Frauen dort draußen sind nicht so schön, wie sie sein könnten. Das gilt auch für Lady Amina und Lady Rimice. Sie sind zu steif, zu angespannt, zu gehemmt, um wirklich schön zu sein.«
»Siehst du!« sagte Temione triumphierend.
»Aber du schlägst sie um Längen«, sagte ich.
»Sleen!«
»Es ist eine reizvolle Überlegung, was für eine Frau aus dir werden könnte, wenn du zu einer Schönheit würdest.«
»Sleen! Sleen!«
»Welchen Eindruck machte der Verwalter, als er den Befehl gab, dich in Ketten zu legen und im Pagaraum arbeiten zu lassen?« wollte ich wissen.
»Es belustigte ihn«, sagte sie erbost.
»Vermutlich hast du ihm widersprochen«, dachte ich laut nach, »obwohl du nichts anderes als eine Zechprellerin bist.«
»Das ist mein Recht«, erwiderte sie. »Ich bin eine freie Frau!«
»Du hast gewagt, gegen deine Behandlung zu protestieren?«
»Natürlich!« rief Temione. »Wie kann es angehen, daß man mich, eine freie Frau, auszieht, einer Leibesvisitation unterzieht und dann in einen Käfig sperrt?«
»Hast du Forderungen gestellt, ihn bedroht oder ihn beleidigt?«
»Vielleicht.«
»Ich kann verstehen, warum er es lustig fand, dich als Bedienung arbeiten zu lassen.«
»Schon möglich.«
»Wieviel schuldest du ihm?«
»Einen Silbertarsk, fünf«, sagte sie.
»Das könnte ein weiterer Grund sein«, sagte ich. »Es ist weit mehr, als die anderen Frauen ihm schulden.« Immerhin handelte es sich um einen Silbertarsk und fünf Kupfertarsk.
»Vielleicht wollte er mich auch nur an einem Ort haben, wo er oder seine Männer mich im Auge behalten können«, sagte Temione nachdenklich.
Glaubte sie wirklich, die Männer der Herberge könnten ihre Flucht befürchten – über die Palisade, nackt und in Ketten?
»Wer weiß, möglicherweise glauben sie auch, daß deine – entschuldige den Ausdruck – Zurschaustellung deine Aussichten erhöht, freigekauft zu werden.«
»Ja«, sagte sie. »Das ist auch möglich.«
Am Morgen würden die Mädchen auf dem Hof vermutlich größere Aussichten haben. Dann würden sie garantiert einen mitleiderregenden Eindruck machen. Dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, daß Lady Temione oder eine der anderen Frauen es tatsächlich schaffte, jemanden zu finden, der ihre Schulden bezahlte.
»Möchtest du nun endlich bestellen, Herr?« fragte sie gereizt.
Ich betrachtete sie. Ja, sagte ich mir, das war vermutlich der wahre Grund, warum sie im Pagaraum arbeitete, nicht aus Zufall oder aus Glück oder weil sie mehr als die anderen schuldete, sondern weil der Verwalter sie nicht mochte. Auf gewisse Weise stellte es eine Bestrafung dar. Außerdem hatte er zweifellos dafür gesorgt, daß sie ausführlich über ihren Status aufgeklärt wurde.
»Ich warte, Herr!«
»Hältst du dich für begehrenswert?« fragte ich.
Temione warf den Kopf hochmütig in den Nacken. »Du hast vorhin von Schönheit gesprochen und dich abwertend über meine vermeintliche Absicht geäußert, damit etwas zu erreichen. Also sieh her.«
»Das war nicht meine Frage.«
»Ja, ich halte mich für begehrenswert.« Sie sah mich wütend an. »Du nicht?«
»Die richtige Ernährung in Verbindung mit Körperertüchtigung, durchgeführt unter den richtigen disziplinierenden Bedingungen, würde ein Wunder an dir bewirken.«
»Möchtest du nun endlich bestellen?«
»Hast du schon andere Männer bedient?«
»Ja.«
»Und du bist nicht diszipliniert worden?«
»Nein. Ich bin eine freie Frau.« Der Zorn in ihrem Blick schien noch leidenschaftlicher zu werden. »Willst du jetzt bestellen?«
»Ja.«
»Und?«
»Knie nieder«, sagte ich.
»Was?«
»Du sollst niederknien. Das ist mein erster Wunsch.«
Sie starrte mich nur an.
»Weißt du nicht, wie ein Pagamädchen zu bedienen hat?«
»Ich bin eine freie Frau!«
»Soll ich dich schicken, mir eine Sklavenpeitsche zu holen?«
Temione erbebte und kniete nieder. Aber schon einen Augenblick später hatte sie sich wieder gefangen und starrte mich aufsässig an.
»Du darfst die Knie zusammen lassen«, sagte ich. »Schließlich bis du ja eine freie Frau.«
Wütend schloß sie die Schenkel. »Ich hasse dich!«
»Du darfst jetzt den Kopf senken, wie es sich gehört.«
»Niemals!«
»Sofort!«
Vor Wut zitternd senkte sie den Kopf. »Das habe ich noch nie zuvor getan«, sagte sie und hob den Kopf wieder.
»Und jetzt das Gesicht auf den Boden, zwischen die Hände.«
Sie gehorchte, dann erhob sie sich und hockte sich auf die Fersen.
»Was hast du anzubieten?« fragte ich.
»Paga und Brot kosten zwei Tarsk«, leierte sie herunter. »Andere Speisen kosten zwischen drei und fünf Tarsk.«
»Ist der Paga verdünnt?«
»Eins zu fünf.«
Das war in einer Herberge nicht ungewöhnlich. Auf einen Teil Paga kamen fünf Teile Wasser. In einer Paga-Taverne würde man ihn weniger oder gar nicht strecken. Der Wein, der auf Gor in den eigenen vier Wänden zum Essen getrunken wird, wird grundsätzlich verdünnt; man vermischt ihn in einer tiefen Schale mit Wasser. Bei einem Fest oder einem zwanglosen Beisammensein unter Freunden bestimmt der Gastgeber oder ein vorher bestimmter Festmeister die Menge des beigemischten Wassers. Unverdünnter Wein wird zumeist bei der Festen der jungen Männer ausgeschenkt, bei denen Tänzerinnen und Flötensklavinnen zugegen sind. Als Erklärung muß ich hinzufügen, daß goreanische Weine sehr stark sind, manchmal haben sie einen Alkoholgehalt von vierzig bis fünfzig Prozent.
»Wieviel Brot?«
»Zwei von vier.« Das war ein halber Laib. Goreanisches Brot wird immer in flacher, runder Form gebacken und der Laib dann in vier oder acht Teile geschnitten.
»Was gibt es sonst noch?«
»Es ist spät«, sagte sie. »Nur noch Haferbrei ist übrig.«
»Ich nehme nicht an, daß man Brot und Paga dazu bekommt, wenn man den Haferbrei bestellt.«
»Nein.«
Ich hatte natürlich nicht damit gerechnet, besonders nicht nach meiner Unterhaltung mit dem Verwalter. Gut, er war zwar ziemlich habgierig, aber bestimmt kein schlechter Kerl. Zum Beispiel hatte er dafür gesorgt, daß Lady Temione nackt an den Tischen bediente.
»Brot, Paga, Haferbrei«, bestellte ich.
»Gut.«
»Gut – was?« fragte ich.
»Gut, Herr!«
»Verbeuge dich anständig, bevor du gehst.«
Sie legte wütend die Handflächen auf den Boden und senkte den Kopf. Ich scheuchte sie mit einer Handbewegung auf, damit sie zur Küche eilen konnte.
»Lady Temione!« rief ich ihr hinterher.
Sie blieb stehen.
»Wenn du dich auf die Zehen stellst und kleine Schritte machst, kommst du schneller voran.«
Sie stieß einen Wutschrei aus, stolperte und fiel. Sie stand wieder auf, eilte auf die Küchentür zu und verschwand dahinter. Ich sah zu, wie sie hinter dem Mädchen hin- und herschwang, bis sie wieder bewegungslos an ihren Scharnieren hing. Solche Schwingtüren sind in Herbergen und Tavernen weit verbreitet, denn sie können leicht von jemandem aufgestoßen werden, der die Hände voll hat. Noch öfter findet man auf Gor allerdings Perlenvorhänge, die in Tavernen und ähnlichen Gebäuden Räume voneinander trennen. Lady Temione brauchte, wie ich bemerkt hatte, Disziplin. Und je früher sie sie spürte, desto besser wäre es für sie.
Es dauerte nicht lange, und sie trat mit einem Tablett durch die Tür. Sie kniete neben dem Tisch nieder, stellte das Tablett auf dem Boden ab, verneigte sich, ohne daran erinnert werden zu müssen, und stellte dann unterwürfig das Tablett auf den Tisch. Sie räumte den Paga in seinem kleinen Kantharos und das Brot auf seinem Schneidebrett ab. Die Schüssel mit dem Haferbrei bildete den Abschluß. Ein Löffel steckte darin. Temione nahm das Tablett, stellte es wieder auf den Boden, verneigte sich und blieb knien.
Ich trank einen Schluck Paga, tunkte ein Stück Brot in den Wein und aß es. Dann machte ich mich über den Haferbrei her.
Während ich in aller Ruhe aß, dachte ich über meine Pläne nach. Wie sollte ich mich Ar-Station nähern und Aemilianus, dem Stadtkommandanten, die Botschaft Gnieus Lelius’ zukommen lassen? Falls ich den Anschein erweckte, aus Ar zu kommen, würde ich bei den Cosianern unerwünschte Aufmerksamkeit erregen. Gab ich mich als Cosianer aus, hätte ich beträchtliche Schwierigkeiten, mich den Verteidigern von Ar-Station zu nähern. Doch ich mußte bald etwas unternehmen. Die Belagerung von Ar-Station näherte sich einem kritischen Punkt.
Plötzlich wurde die Tür des Pagaraumes aufgestoßen, und der ungestüme, bärtige Krieger aus dem Bad trat ein. Er trug tatsächlich die Uniform der Truppe des Artemidorus aus Cos. Sein Schwert ragte über der linken Schulter auf. So wird es immer von goreanischen Kriegern getragen, sofern sie sich nicht auf dem Marsch befinden oder auf einem Tarn reiten. Bei dieser Tragweise kann man das Schwert ziehen und mit derselben Bewegung Scheide mitsamt Schnüren von sich werfen. Er hatte den Helm aufgesetzt und trug die geheimnisvolle Tasche, die schon zuvor im Bad meine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Ich mied seinen Blick, da ich einen Zusammenstoß und die sich daraus ergebenden Folgen vermeiden wollte. Falls nötig würde ich es schaffen, mich von ihm demütigen zu lassen, denn ich wollte meinen Auftrag auf keinen Fall gefährden. Doch ich bin nicht immer so beherrscht, wie ich sein sollte, und falls er mich bedrohte oder herausforderte, könnte ich möglicherweise die Selbstbeherrschung oder Verstellung verlieren, die nötig waren, um mich herumschubsen zu lassen. Ich bin gelegentlich ein großer Hitzkopf, der zu schnell und unüberlegt auf eine Beleidigung oder Kränkung reagiert, gleichgültig, ob sie nur eingebildet oder wirklich ist. Das ist zweifellos einer meiner vielen Fehler. Vielleicht sollte ich mehr wie Dietrich von Tarnburg sein, der sich nie etwas anmerken ließ, um dann später, wenn es für ihn von Vorteil war und in seine Pläne paßte, mit tödlicher Schnelligkeit zuzuschlagen.
Ich bemühte mich, dem Blick des Mannes auszuweichen, und konzentrierte mich auf meinen Paga. Er grunzte verächtlich. Ich fragte mich, ob er bemerkte, daß sich meine Hand fester um den Griff des Kantharos schloß. Es war besser, wenn ich das unter Kontrolle bekam. Ich an seiner Stelle hätte es bestimmt an der Bewegung der Oberarmmuskeln bemerkt. Er blieb ein paar Schritte entfernt stehen. Ich fing an, mich beleidigt zu fühlen. Hitze stieg in mir auf. Ich nahm mich zusammen. Genau das hätte Dietrich von Tarnburg auch getan. Ich sah nicht auf. Krieger sind darauf trainiert, den Blick in die Ferne zu richten. Kam er mir zu nahe, unterschritt er einen bestimmten Abstand, konnte ich ihm den Paga in die Augen schütten, den Tisch in die Höhe stemmen und ihm ein Tischbein in den Unterleib stoßen. Im nächsten Augenblick konnte ich ihm dann den Fuß an die Kehle setzen oder ihm das Schwert in den Körper treiben. Manche Meister in der Kunst des Kampfes empfehlen auch, den Kantharos im Gesicht des Gegners zu zerbrechen, mit dem Becherrand auf den Nasenrücken zu zielen. Mit einem metallenen Becher ist das natürlich noch viel gefährlicher. Viele Zivilisten fragen sich immer, warum Krieger, die in öffentlich zugänglichen Häusern essen, stets darauf bestehen, daß ihnen der Paga in einem metallenen Becher serviert wird. Sie betrachten das als Schrulligkeit. Ich hörte, wie er noch einmal verächtlich grunzte, dann ging er weiter, zu einem anderen Tisch. Er war noch immer am Leben. Ich fragte mich, was sich wohl in der Kuriertasche befand, denn darum handelte es sich.
Ich trank noch einen Schluck Paga.
Der Krieger wählte einen der größeren Tische. Der Pagaraum war nicht gerade überfüllt. Zu dieser Stunde waren er und ich die einzigen Besucher. Ich hatte einen kleinen Tisch in der Nähe der Wand genommen. Seine Größe verhinderte, daß sich Fremde dazusetzten. Sein Standort war ebenfalls kein Zufall. Hier hatte man den ganzen Raum im Blick, einschließlich des Eingangs; außerdem hatte er die Wand im Rücken.
Er trommelte mit solcher Kraft auf den Tisch, daß er ein Stück in die Höhe sprang. »Bedienung!« brüllte er. »Bedienung!«
Die Küchentür schwang auf, und Lady Temione trat ein. Sie war wirklich hübsch anzusehen in ihren Ketten. Sie eilte auf den neuen Gast zu.
Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als wolle sie seine Bestellung aus Trotz stehend entgegennehmen, aber dann warf sie mir einen Blick zu, ging auf die Knie und verneigte sich, eine gehorsame Bedienung, die auf die Wünsche des Gastes wartete.
Ich trank noch einen Schluck. Sie würde natürlich noch einmal an meinen Tisch kommen müssen, um die Rechnung zu bringen.
Der Krieger sah sie in dem Dämmerlicht aus zusammengekniffenen Augen an. Sie zuckte vor dem Blick zurück. Er erhob sich, kam an ihre Seite und ging neben ihr in die Hocke. Er berührte ihren Hals. Dann drehte er sie einmal herum und sah sich ihre Oberschenkel an. Schließlich packte er sie an den Oberarmen und zerrte sie in die Höhe.
»Wo ist dein Kragen?« wollte er wissen. »Wo ist dein Brandzeichen?«
»Ich bin frei!« schluchzte sie.
Wütend schüttelte er sie wie eine Puppe. Ihr Kopf flog hin und her. Einen Augenblick lang hatte ich Angst, ihr Genick könne brechen.
»Wo ist dein Kragen? Wo ist dein Brandzeichen?« brüllte er.
»Ich bin frei«, schluchzte sie. »Frei!«
»Bringt mir eine Frau«, brüllte er in Richtung Küche, während er sie noch immer festhielt. »Bringt mir eine richtige Frau!«
»Was ist denn los?« Ein Bursche steckte den Kopf durch die Küchentür, vermutlich der Nachtkoch.
»Wo ist der Verwalter?« rief der Krieger.
»Er hat sich zurückgezogen.«
»Wie kannst du es wagen, so eine an meinen Tisch zu schicken?« brüllte der Krieger. »Schickt mir eine richtige Frau, eine, die weiblich ist!« Er stieß Lady Temione von sich. Sie schlug hart auf dem Boden auf und blieb vor Angst erstarrt dort liegen.
»Sofort, Herr!« rief der Koch. »Einen Augenblick!« Er wandte sich Lady Temione zu. »Schnell, in die Küche. Nein, steh nicht auf! Krieche!« Er verschwand hinter der Tür. Temione kam auf allen vieren an meinem Tisch vorbei.
»Die Rechnung«, befahl ich.
Sie nickte und eilte schluchzend in Richtung Küche weiter. Sie hatte sie noch nicht erreicht, als ein anderes Mädchen in den Raum eilte, das nur ein durchsichtiges Seidentuch um den geschmeidigen Körper gewunden hatte. Mit welcher Anmut sie sich bewegte! Um ihren Hals lag ein enger Kragen. Sie eilte zu dem Krieger und warf sich auf die Knie, und er schien sofort besänftigt.
Lady Temione brachte die Rechnung. Sie bestand aus zwei mit Scharnieren versehenen Holztafeln, von denen eine mit einer Wachsschicht überzogen war. Man benutzt sie für Notizen, zum Zusammenzählen, für Schulaufgaben und dergleichen mehr. Die Wachsschicht wird mit einem Griffel beschrieben. Die kleineren Ausgaben lassen sich aufschlagen wie Bücher. Temione legte sie auf dem Tisch ab und kniete gehorsam nieder.
Ich warf einen Blick zum Nachbartisch. Der Krieger hatte die Sklavin gepackt und sie bäuchlings auf den Tisch geworfen. Es schien ihr zu gefallen.
»Widerwärtig«, sagte Lady Temione.
Ich schwieg. Sie würde es auch noch lernen. Ich erhob mich und nahm die Tafel. In das Wachs war der Betrag von fünf Kupfertarsk eingekratzt. Wenn ich ihn zu der bis jetzt aufgelaufenen Rechnung dazuzählte, schuldete ich der Herberge bis jetzt neunzehn Kupfertarsk.
Ich verließ den Pagaraum. Der Krieger beachtete mich nicht; er war mit der Sklavin beschäftigt.
Der Verwalter war nicht mehr an seinem Tisch; seine Stelle hatte ein Angestellter übernommen. Er nahm die Tafel und notierte die Summe auf meiner Rechnung. Er behielt sie. Man würde die Wachsschicht glätten und sie bis zum nächsten Gebrauch in der Küche an ihrem Band aufhängen. Ich nahm die beiden Decken und mein Ostrakon in Empfang, auf dem die Nummer des Schlafplatzes stand. Das Geld für die Decken hatte ich zuvor aufschreiben lassen. Bevor ich ging, ließ ich von dem Angestellten noch ein Tarskstück auf die Rechnung setzen.