Niemand beachtete ihn im geringsten.
Die meisten Nomaden waren ähnlich vermummt, um sich vor der Kälte zu schützen. Auf den ersten Blick war nicht zu unterscheiden, ob die anderen jung oder alt, Männer oder Frauen waren. Nur die Krieger kleideten sich anders, aber Jason konnte ihnen leicht ausweichen, indem er zwischen den Camachs verschwand, wenn er einen kommen sah. Da die übrigen Eingeborenen die Krieger ebenfalls mieden, benahm er sich keineswegs auffällig.
Das Lager war offenbar nicht nach einem bestimmten Plan angelegt, sondern die Zelte standen kreuz und quer durcheinander. Nach einiger Zeit erreichte Jason die Ausläufer des Lagers, wo eine Herde magerer Rinder unter Aufsicht einiger Hirten graste. Dann lag der letzte Camach hinter ihm, und er beobachtete zufrieden den Sonnenuntergang.
„Genau hinter mir oder etwas nach rechts“, murmelte er vor sich hin. „Wenn ich jetzt auf den Sonnenuntergang zumarschiere, muß ich zum Schiff zurückfinden.“
Natürlich, überlegte er sich, wenn ich so rasch wie die Nomaden vorankomme. Und wenn sie geradewegs zum Lager geritten sind und keine Haken geschlagen haben. Und wenn meine Verfolger mich nicht vorher einholen. Wenn…
Genug. Er schüttelte den Kopf, nahm die Schultern zurück und trank einen Schluck Achadh. Dann sah er sich um und stellte fest, daß er nicht beobachtet wurde. Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und schlenderte auf die Ebene hinaus. Er ging nicht weit. Sobald er einen Graben entdeckt hatte, in dem er vom Lager aus nicht mehr gesehen werden konnte, verschwand er darin. Hier war er auch einigermaßen vor dem kalten Wind geschützt. Jason zog die Knie hoch, um die Wärmeabstrahlung zu verringern, und beschloß hier zu warten, bis es völlig dunkel war. Er hätte diese Wartezeit lieber unter anderen Umständen verbracht, als allmählich zum Eiszapfen zu erstarren, aber es gab keine andere Möglichkeit.
Jason legte einen Stein auf den Rand des Grabens, um die Stelle zu markieren, an der die Sonne schließlich untergehen würde. Dann lehnte er sich wieder mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand. Er dachte über das Funkgerät nach und holte es sogar heraus, um zu sehen, ob sich nicht doch etwas reparieren ließ, aber der Versuch wäre zwecklos gewesen. Von da ab döste er nur vor sich hin und wartete, bis die Sonne den westlichen Horizont berührte, während am Himmel die ersten Sterne erschienen.
Die Sonne war nun eine gelbe Scheibe, deren unterer Rand den scharf begrenzten Horizont schnitt. In diesen hohen Breiten — die Pugnacious war auf siebzig Grad nördlicher Breite gelandet — sank die Sonne nicht senkrecht nach unten, sondern schien schräg über den Horizont zu rutschen. Als die halbe Scheibe verschwunden war, markierte Jason diese Stelle mit seinem Stein. Dann ging er an seinen Platz zurück und betrachtete seine Markierung mit zusammengekniffenen Augen.
„Sehr gut, Jason“, sagte er laut. „Jetzt weißt du, wo die Sonne untergeht — aber wie willst du diese Richtung nachts einhalten? Denke, Jason, denke nach, denn jetzt hängt dein Leben davon ab!“ Er zitterte, aber daran war bestimmt die Kälte schuld.
„Mir wäre schon viel geholfen, wenn ich wüßte, wo die Sonne am Horizont untergeht — wieviel Grad westlich von Nord. Das Problem muß ganz einfach zu lösen sein, weil keine Inklination der Planetenachse zu berücksichtigen ist.“ Er zeichnete Kreisbogen und Winkel in den Sand und murmelte vor sich hin. „Wenn die Achse senkrecht steht, herrscht ständig eine Tag-und-Nacht-Gleiche, was wiederum bedeutet, daß…
ho, ho!“ Er versuchte mit den Fingern zu schnalzen, aber sie waren zu steif.
„Das ist die Antwort! Wenn Tag und Nacht wirklich gleich sind, gibt es nur einen Punkt, an dem die Sonne nördlich oder südlich des Äquators auf- und untergehen kann. Sie muß einen Halbkreis von hundertachtzig Grad beschreiben, genau im Osten aufgehen und genau im Westen untergehen. Heureka!“
Jason suchte einen zweiten Stein und legte ihn an den Grabenrand über die Stelle, wo er vorher gesessen hatte. Dann kletterte er aus dem Graben, legte sich ins Gras und sah über die beiden Markierungen hinweg. Am Horizont fiel ihm am richtigen Punkt ein heller blauer Stern auf, der zu einer Z-förmigen Konstellation gehörte.
„Mein Leitstern“, sagte Jason mit einem Blick auf sein Chronometer. „Jetzt kann die Sache meinetwegen losgehen.
Bei einem Zwanzigstundentag kann ich mit zehn Stunden Nacht rechnen. Zunächst entferne ich mich in gerader Linie von meinem Stern. Nach fünf Stunden muß er genau über mir im Zenit stehen — oder vielmehr in einer Linie mit meiner linken Schulter. Dann beschreibt er einen Bogen und geht nach weiteren fünf Stunden vor mir unter. Das ist alles ganz einfach, solange ich meine Position in regelmäßigen Abständen überprüfe. Ha!“
Jason richtete sich auf, vergewisserte sich, daß der Stern genau hinter ihm stand, schulterte seine Keule und marschierte in Richtung Ebene davon. Vielleicht war alles tatsächlich ganz einfach, aber er wünschte sich trotzdem, er hätte einen Kreiselkompaß.
Die Temperatur nahm gleichmäßig ab, und die Sterne waren in der trockenen Luft deutlich zu sehen. Die Z-förmige Konstellation zog schweigend ihre Bahn, erreichte um Mitternacht ihren Zenit und schien dort zu verharren. Jason überprüfte die Zeit und setzte sich müde. Er war seit fünf Stunden unterwegs und hatte nur eine kurze Ruhepause eingelegt. Trotz der harten Ausbildung auf Pyrrus war er ziemlich erschöpft. Er nahm einen Schluck aus der Lederflasche und fragte sich, wie kalt es sein mochte; das alkoholhaltige Achadh begann einzufrieren.
Felicity besaß keinen Mond, aber die Sterne gaben mehr als genug Licht. An drei Seiten war die Steppe eintönig grau; nur hinter Jason bewegte sich eine dunkle Masse. Jason ließ sich langsam zu Boden sinken und blieb bewegungslos liegen, während die Moropen und ihre Reiter kaum zweihundert Meter von ihm entfernt vorbeizogen. Dann verschwanden sie nach Süden.
„Auf der Suche nach mir?“ fragte Jason sich. „Oder zum Schiff unterwegs?“
Das letztere erschien ihm wahrscheinlicher, denn die Reiter hatten offenbar in großer Eile ein bestimmtes Ziel erreichen wollen. Er überlegte sich, ob er ihren Spuren folgen sollte, ließ diesen Plan jedoch wieder fallen. Er hatte keine Lust, etwa zurückkehrenden Barbaren in die Hände zu laufen.
Als Jason aufstand, fiel der eisige Wind über ihn her und schüttelte ihn wie eine riesige Hand. Jason marschierte zitternd weiter. In dieser Nacht sah er noch zweimal Reiter hinter sich, vor denen er Deckung nehmen mußte. Jedesmal fiel es ihm schwerer, seinen Marsch fortzusetzen.
Dann wurde der Himmel im Osten allmählich hell. Jason mußte sich dazu zwingen, noch einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sein Leitstern stand dicht über dem Horizont, und Jason marschierte weiter, bis der Stern und die Z-förmige Konstellation verschwunden waren. Nun war es Zeit für eine längere Rast, denn Jason durfte tagsüber nicht unterwegs sein.
Die Orientierung nach der Sonne wäre einfach gewesen, aber Jason wußte, daß er keinen Tagesmarsch riskieren durfte. Ein einzelner Mann war auf dieser Ebene schon aus weiter Entfernung zu sehen, und da er das Schiff bisher noch nicht gesichtet hatte, mußte er noch ziemlich weit marschieren.
Er kroch in den nächsten Graben, an dessen Nordseite ein kleiner Oberhang die Sonnenwärme speichern und den Wind abhalten würde. Jason zog die Knie an und versuchte die Kälte zu ignorieren, die durch die Pelze und den isolierten Schutzanzug drang. Während er sich noch fragte, ob er in dieser Lage überhaupt einschlafen können würde, schlief er bereits ein.
Als er wieder aufwachte, stand die Sonne bereits so tief, daß der Graben im Schatten lag. Jason wußte jetzt, wie es einem Schnitzel in der Tiefkühltruhe zumute war. Jede Bewegung kostete unglaubliche Anstrengung, und er hatte Angst, ein Finger könnte abbrechen, wenn er irgendwo anstieß. Er trank das Achadh in der Lederflasche aus, bekam einen Hustenanfall und fühlte sich dann schwächer, aber immerhin etwas lebendiger.
Auch diesmal richtete er sich nach der untergehenden Sonne und brach auf, als die Sterne am Himmel erschienen. Die Anstrengungen der vergangenen Nacht, seine Wunden und der Nahrungsmangel machten sich jetzt bemerkbar. Nach einer Stunde stolperte Jason bereits wie ein Greis und wußte, daß er etwas dagegen unternehmen mußte. Er sank keuchend zu Boden, drückte auf den Knopf, der den Medikasten in seine Hand gleiten ließ und stellte ihn auf Stimulans, normale Stärke ein. Als er den Kasten gegen sein Handgelenk drückte, spürte er einige Nadelstiche.
Das Mittel wirkte. Eine Minute später merkte Jason, daß seine Müdigkeit rasch nachließ. Als er aufstand, waren seine Beine gefühllos, aber nicht mehr müde.
„Vorwärts!“ rief er, steckte den Medikasten ein und suchte am Himmel nach der Z-förmigen Konstellation.
Die Nacht war weder lang noch kurz; sie verstrich wie in einem Traum. Jason konnte nicht allzu klar denken, aber er besaß immerhin genügend Geistesgegenwart, um in Deckung zu gehen, wenn wieder Reiter auftauchten, und seine Marschrichtung nach ihren Spuren zu korrigieren, sobald sie verschwunden waren. Er fragte sich, ob die Barbaren im Kampf mit der Schiffsbesatzung besiegt worden waren, weil sie alle aus dieser Richtung zurückströmten.
Gegen drei Uhr morgens stolperte Jason wieder und mußte den Medikasten erneut zur Hilfe nehmen. Die Injektion Stimulans, extra stark, wirkte sofort, und er konnte weitermarschieren.
Im Osten wurde es bereits hell, als er plötzlich den Brandgeruch wahrnahm. Zunächst dachte er sich nichts dabei, aber dann erreichte er die Stelle, an der das Gras unter seinen Füßen versengt und schwarz war. Diese Fläche bildete einen großen Kreis, aber Jason wollte noch immer nicht einsehen, was das bedeutete.
Erst als er die verrosteten und zertrümmerten Maschinen der ersten Expedition sah, gestand er sich die Wahrheit ein.
„Hier war es doch!“ rief er laut. „Wir sind an diesem Punkt gelandet! Aber jetzt ist die Pugnacious verschwunden. Ohne mich gestartet…“
Er ließ die Arme sinken, schwankte und hielt sich nur mühsam aufrecht. Das Schiff fort, seine Freunde verschwunden, von allen im Stich gelassen.
Der Boden unter seinen Füßen dröhnte.
Fünf Moropen rasten über den nächsten Hügel, und ihre Reiter stießen einen schrillen Kriegsruf aus, während sie ihre Lanzen einlegten.