15

Jason dinAlt hielt sein Morope auf dem Hügel an und suchte nach einem Pfad zwischen den riesigen Felsbrocken. Der feuchtkalte Wind pfiff durch diesen einzigen Einschnitt zwischen hohen Klippen und wehte ihm genau ins Gesicht.

Weit unter ihm lag das sturmgepeitschte Meer, dessen Wogen unablässig gegen die Küste brandeten. Der Himmel war schiefergrau und von einem Horizont zum anderen mit Wolken bedeckt. Irgendwo über dem Meer grollte Donner.

Zwischen den Felsen war eine Art Pfad schwach erkennbar; Jason trieb sein Reittier an. Nach einigen Metern erkannte er, daß es sich um einen alten, vielbegangenen Weg handelte. Die Nomaden benützten ihn offenbar regelmäßig; vielleicht um Salz zu holen. Von der Pugnacious aus war zu erkennen gewesen, daß dies die einzige Stelle in tausend Kilometer Umkreis war, wo die Klippen unterbrochen waren.

Als Jasons Morope tiefer kletterte, wurde die Luft etwas wärmer, aber die ungewohnte Feuchtigkeit setzte Jason nach dem Leben in der trockenen Luft der Steppen ebenso hart wie große Kälte zu. Schließlich erreichte er eine fast kreisrunde Bucht zwischen hoch aufragenden Felsen. Am Ufer lagen zwei Boote im schwarzen Sand; dicht daneben waren gelbe Zelte aufgebaut. Draußen im Wasser der Bucht lag ein großer Zweimaster, auf dessen Achterdeck ein rauchgeschwärzter Schornstein aufragte. Das Schiff lag mit gerefften Segeln vor Anker.

Jasons Ankunft war beobachtet worden. Bei den Booten standen einige Männer; einer von ihnen trat jetzt vor und stapfte durch den Sand auf den Neuankömmling zu. Jason hielt an und glitt aus dem Sattel.

„Ein exotisches Kostüm, Rhes“, stellte er fest und schüttelte die Hand des anderen.

„Auch nicht exotischer als deine Aufmachung“, antwortete der Pyrraner lächelnd und strich wohlgefällig über sein purpurrotes Spitzenjabot. Er trug hohe Kniestiefel aus gelbem Wildleder und einen glänzenden Helm mit goldener Spitze. Die ganze Aufmachung war sehr eindrucksvoll. „Das trägt man eben als wohlhabender Handelsherr in Ammh“, fügte er hinzu.

„Dir geht es glänzend, habe ich gehört“, sagte Jason.

„Richtig“, stimmte Rhes zu. „Ammh ist eine landwirtschaftlich orientierte Zivilisation vor dem Eintritt in ein primitives Maschinenzeitalter. Dort herrscht strenge Klassentrennung: Handelsherren und das Militär stehen an der Spitze und werden von Priestern unterstützt, die das Volk ruhig halten. Ich hatte genügend Kapital, um als Handelsherr anzufangen, und ich habe diese Gelegenheit genützt. Inzwischen arbeite ich bereits mit Gewinn und habe ein Lagerhaus in Camar, unserem nördlichsten Hafen. Dort habe ich gewartet, bis der Befehl kam, nach Norden zu segeln. Darf ich dir ein Glas Wein anbieten?“

„Und etwas zu essen. Ich habe Hunger.“ Sie standen jetzt vor einem offenen Zelt, in dem eine Art Kaltes Büfett aufgebaut war, unter dem sich der Tisch bog. Rhes griff nach einer grünen Flasche und gab sie Jason. „Am besten versuchst du es damit“, sagte er. „Sechs Jahre alt. Ein sehr guter Jahrgang. Warte, ich hole einen Korkenzieher.“

„Nicht nötig“, wehrte Jason ab. Er schlug die Flasche auf die Tischkante, so daß der Hals abbrach. Dann trank er geräuschvoll und wischte sich den Mund mit einem Ärmel ab.

„Ich bin ein Barbar, verstehst du? Damit sind auch deine Leibwächter überzeugt.“ Er nickte zu den Bewaffneten hinüber, die ihn mißmutig betrachteten.

„Deine Manieren sind nicht besser geworden“, stellte Rhes fest und wischte den Flaschenrand mit einem Seidentuch ab, bevor er sich selbst ein Glas einschenkte. „Wie sieht die Sache für uns aus?“

Jason nagte einen Knochen ab. „Temuchin ist mit seiner Horde hierher unterwegs. Die meisten Stämme sind allerdings nach dem Sieg über die Wiesel in ihre Weidegründe zurückgezogen. Aber Temuchin hat sie schwören lassen, daß sie sich auf seinen Befehl hin jederzeit wieder versammeln. Als er von eurer Landung gehört hat, ist er mit den nächsten Stämmen aufgebrochen. Er ist ungefähr noch einen Tagesritt von hier entfernt, aber Kerk und die Pyrraner lagern an einer Stelle, an der er vorbeikommen muß. Ich bin vorausgeritten, um die Vorbereitungen zu überprüfen.“

„Ist alles in Ordnung?“

„Ziemlich. An deiner Stelle würde ich meine Leibwache unauffälliger verstecken. Hast du die Waren mitgebracht?“

„Ja — Messer, Pfeilspitzen aus Stahl, Holzpfeile, Eisentöpfe, Zucker, Salz, Gewürze und vieles andere. Irgend etwas wird deinen Barbaren schon gefallen.“

„Hoffentlich.“ Jason warf die leere Flasche in eine Ecke.

„Noch eine?“ fragte Rhes.

„Lieber nicht — wir haben noch keine Verbindung zum Feind.

Ich reite jetzt ins Lager, damit ich dort bin, wenn Temuchin kommt. Dieses Treffen hier kann alles entscheiden. Sobald wir die Stämme auf unserer Seite haben, können wir Temuchin verdrängen. Hebt mir eine Flasche auf, bis ich zurückkomme.“

Als Jason das Lager der Pyrraner am späten Nachmittag erreichte, wollten sie eben aufbrechen.

„Du kommst gerade rechtzeitig“, sagte Kerk und ritt auf ihn zu. „Die Pinasse beobachtet Temuchins Horde auf dem Weg hierher. Vor zwei Stunden ist er vom geraden Weg abgebogen und reitet jetzt nach Osten in Richtung Höllentor.

Wahrscheinlich will er dort übernachten.“

„Ich hätte ihn nie für einen religiösen Menschen gehalten.“

„Das ist er bestimmt nicht“, meinte Kerk, „aber er ist ein guter Führer, der genau weiß, wie man Untergebene bei Laune hält. Dieser erloschene Vulkan oder dieses Loch im Boden scheint eines der wenigen Heiligtümer der Nomaden zu sein.

Angeblich führt von dort ein Weg direkt in die Hölle.

Temuchin will dort ein Opfer darbringen.“

„Gut, sehen wir uns das Höllentor an“, stimmte Jason zu.

Wenig später begann es zu schneien, und sie mußten sich mühsam durch einen Blizzard vorankämpfen. Es war schon fast dunkel, als sie Temuchins Lager erreichten und vor dem großen Camach hielten, in dem die Stammesführer sich versammelt hatten. Kerk und Jason betraten das Zelt. Die Anwesenden drehten sich nach ihnen um. Temuchin warf ihnen einen haßerfüllten Blick zu.

„Wer wagt es, hier einzudringen, wo Temuchin mit den Stammesführern versammelt ist?“

Kerk richtete sich auf. „Wer ist dieser Temuchin, der es wagt, Kerk von den Pyrranern, den Sieger in der Schlucht, von diesem Treffen fernzuhalten?“

Damit war der Kampf entbrannt. Die Stammesführer hörten aufmerksam zu. Temuchin hatte die Stämme erstmals vereint, aber einige der Häuptlinge hätten lieber einen neuen Kriegsherrn gehabt — oder gar keinen.

„Du hast gut gekämpft“, gab Temuchin zu. „Alle haben gut gekämpft. Ich begrüße dich, und du kannst wieder gehen. Was wir hier besprechen, braucht dich nicht zu kümmern.“

„Warum?“ fragte Kerk kalt und ließ sich nieder. „Was versuchst du vor mir zu verbergen?“

„Du wirfst mir vor, ich…“ Temuchin konnte vor Zorn nicht weitersprechen.

„Ich werfe dir gar nichts vor.“ Kerk gähnte desinteressiert.

„Aber du klagst dich selbst an. Du befiehlst eine geheime Zusammenkunft, du verweigerst mir den Zutritt, du beleidigst mich, anstatt die Wahrheit zu sagen. Was hast du also zu verbergen?“

„Die Angelegenheit ist nicht weiter wichtig. Einige Tiefländer sind an unserer Küste gelandet, um uns zu überfallen und Städte zu bauen. Aber wir werden sie vernichten.“

„Warum? Es handelt sich doch nur um harmlose Händler.“

„Warum?“ Temuchin konnte sich kaum noch beherrschen und ging wütend auf und ab. „Hast du das ›Lied der Freien‹ noch nie gehört?“

„Ich kenne es so gut wie du. Darin heißt es, wir sollten Gebäude zerstören. Gibt es welche zu zerstören?“ fragte Kerk.

„Nein, aber das kommt noch. Die Tiefländer haben bereits Zelte aufgebaut und…“

„›Ohne ein Heim, nur in Zelten‹“, sang einer der Stammesführer halblaut vor sich hin.

Temuchin beherrschte sich mühsam und ignorierte diese Unterbrechung. Das Lied schien ihm zu widersprechen, aber er wußte, wo die Wahrheit lag.

„Diese Händler gleichen einer Schwertspitze, die nicht ernstlich verwundet, sondern nur die Haut ritzt. Heute haben sie nur Zelte und wollen mit uns Handel treiben — morgen kommen sie mit größeren Zelten, um besser handeln zu können. Zuerst die Schwertspitze, dann das ganze Schwert, das uns aufspießt. Wir müssen sie jetzt vernichten.“

Temuchin hatte völlig recht, aber die übrigen Häuptlinge durften nicht zu dem gleichen Schluß kommen. Kerk blieb schweigend sitzen, und Jason ergriff das Wort.

„In diesem Fall müssen wir uns an das ›Lied der Freien“ halten, das…“

„Warum bist du hier, Jongleur?“ fragte Temuchin streng.

„Ich sehe keine anderen Jongleure oder Soldaten. Du kannst jetzt gehen.“

Jason öffnete den Mund, aber er wußte, daß jeder Widerspruch zwecklos war. Temuchin hatte unbestreitbar recht. Jason verließ deshalb das Zelt, nachdem er Kerk zugeflüstert hatte, er werde mit Hilfe des Dentiphons Verbindung mit ihm halten.

Pech gehabt. Er hatte gehofft, die letzte Auseinandersetzung miterleben zu können. Als er ins Freie trat, schloß einer der Posten den Eingang hinter ihm. Der andere vertrat ihm mit gesenkter Lanze den Weg.

„He, was soll das?“ fragte Jason noch, aber in diesem Augenblick warf ihm der erste Mann von hinten eine Schlinge über den Kopf und zog sie zu. Jason konnte sich nicht wehren und verlor rasch das Bewußtsein.

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