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Obwohl der Wind durch alle Ritzen blies und gelegentlich einige Schneeflocken hereintrieb, war das Innere des Camachs behaglich warm. Die elektrische Heizung erzeugte mehr als genug Kalorien, und der starke Drink, den Kerk ihm angeboten hatte, schmeckte Jason wesentlich besser als das scheußliche Achadh. Rhes hatte einen Kasten Fertiggerichte mitgebracht, die Meta jetzt öffnete. Die übrigen Pyrraner bauten ihre Camachs in der Nähe auf und hielten dabei unauffällig Wache.

Jason fühlte sich in Temuchins Lager zum erstenmal völlig sicher.

Jason deutete auf Kerks Helm. „Ich sehe, daß ihr tatsächlich dem Adlerclan angehört, aber woher habt ihr die vielen Schädel? Das hat die Einheimischen ziemlich beeindruckt. Ich wußte gar nicht, daß es hier so viele Adler gibt.“

„Wahrscheinlich gibt es sie auch nicht“, antwortete Kerk, „aber wir haben einen geschossen und eine Gußform angefertigt. Alle anderen sind Plastikabgüsse.“ Kerk machte eine Pause. „Jetzt erzählst du uns hoffentlich, wie die Sache weitergehen soll.“

„Geduld“, mahnte Jason. „Das Ganze dauert seine Zeit, aber ich garantiere für Kämpfe, so daß jeder zufrieden sein kann.

Ich bin inzwischen nicht untätig gewesen und habe einiges festgestellt.

Temuchin hat die meisten Stämme der Hochebene hinter sich — zumindest die wichtigsten. Er ist ein verdammt intelligenter Bursche und ein geborener Feldherr, der intuitiv die meisten taktischen Grundregeln kennt. Man steht entweder auf seiner Seite oder ist sein Feind; niemand darf neutral bleiben. Obwohl die Nomaden eher dazu neigen, Bündnisse zu wechseln, wann es ihnen gefällt, hat Temuchin sie dazu gebracht, ihm treu zu bleiben.“

Kerk schüttelte den Kopf. „Wenn er die Stämme vereinigt hat, können wir nichts gegen ihn unternehmen.“

„Sollen wir ihn umbringen?“ schlug Meta vor.

„Seht ihr, welchen schlechten Einfluß die Barbaren auf dieses unschuldige Mädchen haben?“ meinte Jason. „Das klingt natürlich verlockend, wäre aber grundfalsch, weil Temuchin durch einen oder mehrere Führer ersetzt würde.

Außerdem hat er noch längst nicht alle Stämme vereinigt — in den Bergen gibt es einige, die stolz auf ihre Unabhängigkeit sind. Sie kämpfen gegeneinander und verbünden sich gegen gemeinsame Feinde. Temuchin will sie unterwerfen, und dann kommt unsere große Chance.“

„Wie?“

„Wir zeigen den Nomaden, daß wir diese Sache besser als er verstehen. Und wir sorgen dafür, daß Temuchin einige Fehler macht. Wenn wir es richtig anfangen, ist Kerk nach Abschluß des Feldzugs mit Temuchin gleichberechtigt. Hierzulande zählt nicht der Ruhm vergangener Taten, sondern nur der Erfolg in jüngster Zeit. Wir alle müssen dafür sorgen, daß Kerk nach oben kommt — nur Rhes nicht.“

„Warum ich nicht?“ fragte Rhes erstaunt.

„Du bist für den zweiten Teil des Plans verantwortlich“, erklärte Jason. „Wir haben das Tiefland bisher vernachlässigt, weil es dort keine Erzlagerstätten gibt, aber ich habe während unseres Ausflugs dorthin die Augen offengehalten und außer Schießpulver auch Steinschloßflinten, Kanonen, militärische Uniformen und Mehlsäcke gesehen. Das alles sind eindeutige Beweise.“

„Wofür?“ fragte Kerk irritiert.

„Ist das nicht klar? Das alles beweist die Existenz einer recht fortschrittlichen Zivilisation. Chemie, Ackerbau, Zentralregierung, Steuern, Gießereien, Schmieden, Webereien, Färbereien…“

„Woher weißt du das alles?“ erkundigte Meta sich verblüfft.

„Das sage ich dir heute abend, wenn wir allein sind“, versicherte Jason ihr. „Ich möchte nicht angeben, aber ich weiß, daß ich die richtigen Schlüsse aus meinen Beobachtungen gezogen habe. Dort unten in der Tiefebene gibt es eine Mittelklasse, die unaufhaltsam nach oben drängt, und ich möchte wetten, daß Bankiers und Handelsherren am schnellsten aufsteigen. Rhes muß sich deshalb einen Platz an der Sonne erkaufen. Da er in einer landwirtschaftlich orientierten Zivilisation aufgewachsen ist, kommt er dort unten bestimmt gut zurecht. Und das hier ist sein Schlüssel zum Erfolg.“

Er nahm eine kleine Metallscheibe aus der Tasche, warf sie in die Luft, fing sie auf und gab sie Rhes. „Was ist das?“ fragte der Pyrraner. „Geld. Die Währung des Tieflands. Ich habe die Münze einem toten Soldaten abgenommen. Wir können die Zusammensetzung analysieren und einen Haufen Münzen prägen, die sogar besser als das Original sind. Dann nimmst du sie, etablierst dich als Handelsherr und wartest den nächsten Schachzug ab.“

Rhes betrachtete das Geldstück mißtrauisch. „Und jetzt soll ich wahrscheinlich fragen, woraus dieser Schachzug besteht.“

„Richtig. Du begreifst schnell. Wenn Jason spricht, hören alle anderen zu.“

„Du redest zuviel“, warf Meta ein.

„Ganz recht, aber das ist mein einziges Laster. Der nächste Schachzug besteht daraus, daß Kerk die Nomaden unter seiner Führung vereinigt und sie dazu bringt, Rhes freundlich zu empfangen, wenn er mit seinen Waren nach Norden segelt. Die Klippe ist ein fast unüberwindbares Hindernis, aber ich lasse mir nicht einreden, daß es hier im Norden keinen geeigneten Hafen geben soll. Die Nomaden sind einfach noch nie auf die Idee gekommen, Schiffe oder Boote zu bauen, und die Tiefländer hatten keine Ursache, einen Weg nach Norden zu suchen.

Aber das wird alles geändert. Unter Kerks Führung werden die Händler aus dem Süden freundlich empfangen. Damit beginnt ein neues Zeitalter, denn die Nomaden lernen, was man für ein paar alte Pelze einhandeln kann. Vielleicht können wir sie mit Tabak, Schnaps oder Glasperlen anlocken. Damit ist dann das Eis gebrochen. Zuerst landen die Händler nur mit ihren Waren an der Küste, dann stellen sie einige Zelte auf, um den Schnee abzuhalten. Später folgt eine ständige Ansiedlung und schließlich ein Handelszentrum — genau über unserer Mine.

Der nächste Schritt ist wohl offensichtlich.“

In der folgenden Diskussion wurde nur über Kleinigkeiten gesprochen; Jasons Plan war über jede Kritik erhaben. Er schien einfach und unkompliziert zu sein und wies allen Rollen zu, die sie gern spielten. Nur Meta hatte etwas daran auszusetzen. Sie hatte dieses primitive Leben allmählich satt, aber sie war eine echte Pyrranerin und schwieg deshalb.

Am nächsten Morgen begann der neue Feldzug. Temuchin hatte seine Befehle am Vorabend gegeben, und das Heer setzte sich bei Tagesanbruch in Bewegung. Frauen, Kinder und alle überzähligen Moropen blieben im Lager zurück; jeder Krieger brachte seine eigenen Waffen und Verpflegung für sich selbst mit und war für sich und sein Reittier verantwortlich. Der Aufbruch begann ungeordnet, aber die Krieger fanden sich bald in kleinen Gruppen zusammen, die in die gleiche Richtung ritten.

Jason ritt neben Kerk her; die 94 Pyrraner folgten in Doppelreihe. Er drehte sich nach ihnen um. Die Frauen waren zurückgeblieben, und Rhes hatte acht Männer mitgenommen, während die anderen das Schiff bewachen mußten. Folglich blieben 96 Männer übrig, die einen halben Kontinent erobern sollten, den die Nomaden besetzt hielten. Eine fast unmögliche Aufgabe — aber die Pyrraner ließen sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen.

Außerhalb des Lagers kam mehr Ordnung in das Gewühl.

Boten waren zu allen Stämmen unterwegs gewesen, um ihnen mitzuteilen, daß sie heute aufbrechen sollten. Die Horde versammelte sich. Von allen Seiten strömten Reiter heran, bis die Ebene bis zum Horizont voller Krieger war, die in Gruppen hinter ihren Anführern ritten. Jason erkannte in der Ferne Temuchins schwarzes Banner und machte Kerk darauf aufmerksam.

„Temuchin läßt das Schießpulver auf zwei Moropen transportieren und hat mich aufgefordert, in seiner Nähe zu bleiben. Er hat euch absichtlich nicht erwähnt, aber wir bleiben bei ihm, ob es ihm paßt oder nicht. Nur ich kann mit dem Pulver umgehen — und ich bleibe bei meinem Stamm. Dagegen kann er nichts ausrichten.“

„Das werden wir bald merken“, stellte Kerk fest und trieb sein Morope an. Die Pyrraner folgten ihm, als er auf Temuchin zuritt. Jason wollte sich dem Nomadenführer nähern, um sein Argument vorzutragen, aber das war überflüssig. Temuchin warf den Pyrranern einen kurzen Blick zu und wandte sich ab, ohne Jason zu Wort kommen zu lassen.

„Sieh nach, ob deine Bomben gut festgebunden sind“, befahl er Jason. „Du bist für sie verantwortlich.“

Als die Truppen versammelt waren, formierte Temuchin sie mit Hilfe von Hornsignalen und Winkzeichen zu einer kilometerbreiten Linie und ließ sie auf ganzer Front gleichzeitig vorrücken. Dieser Vormarsch, der im Morgengrauen begonnen hatte, dauerte bis zum frühen Nachmittag ohne Rast und Unterbrechung an. Die ausgeruhten Moropen waren ohne weiteres dazu imstande, doch sie mußten mit Sporen vorangetrieben werden. Das unablässige Geschaukel störte die Nomaden nicht, die praktisch im Sattel aufgewachsen waren, aber Jason war bald wundgeritten und müde. Die Pyrraner ließen sich nicht anmerken, ob ihnen der Ritt etwas ausmachte.

Kleiner Trupps ritten dem Heer voraus, und am späten Nachmittag stießen die Invasoren auf die Opfer dieser Vorhut.

Zuerst lag nur ein einzelner Mann neben seinem toten Reittier, dann war es eine Familie, die das Unglück gehabt hatte, den Pfad der heranrückenden Armee zu kreuzen. Temuchin führte einen totalen Krieg und ließ kein lebendes Wesen hinter sich zurück. Sein Gedankengang war brutal einfach. Wer Krieg führt, will siegen. Was den Sieg fördert, ist vernünftig. Es ist vernünftig, einen Dreitagesritt in einem Tag zurückzulegen, wenn der Feind dadurch überrascht wird. Es ist vernünftig, unterwegs alle Fremden zu töten, damit sie den Gegner nicht warnen können, und es ist vernünftig, ihr Eigentum zu zerstören, damit die Krieger sich nicht mit Beute beladen können, die nur hinderlich wäre.

Die Wahrheit dieser Überlegungen des Heerführers zeigte sich, als seine Truppen kurz vor Einbruch der Abenddämmerung eine größere Siedlung der Wiesel an den Ausläufern des Gebirges überfielen.

Als die Reiter auf dem letzten Hügel erschienen, wurde im Dorf Alarm gegeben, aber diese Warnung kam zu spät Die beiden Enden der Schlachtlinie trafen hinter dem Lager zusammen, obwohl Jason gesehen zu haben glaubte, daß einige Moropen in letzter Sekunde entkommen waren. Das überraschte ihn, denn er hätte gedacht, daß Temuchin bessere Arbeit leisten würde.

Der Rest war logisch vorauszusehen. Die Verteidiger wurden mit einem Pfeilhagel überschüttet und schon beim ersten Angriff erheblich dezimiert. Dann folgte die Attacke der Reiter mit eingelegten Lanzen. Die Pyrraner griffen gemeinsam mit den Nomaden an.

Jason wollte sich ihnen nicht anschließen. Er blieb bei den beiden mißmutigen Männern zurück, die seine Bomben zu bewachen hatten, und zupfte die Saiten seiner Laute, während er ein neues Lied für diese Gelegenheit komponierte. Bei Anbruch der Dunkelheit war die Schlacht geschlagen, und Jason ritt langsam durch das zerstörte Lager, wo er einem Reiter begegnete, der nach ihm suchte.

„Temuchin wünscht dich zu sehen. Komm mit“, befahl ihm der Mann. Jason war zu müde und angewidert, um sich eine passende Antwort einfallen zu lassen.

Sie ritten langsam durch das eroberte Lager, und ihre Moropen stiegen vorsichtig über die vielen Leichen hinweg.

Jason sah angestrengt geradeaus. Erstaunlicherweise waren nicht alle Camachs verbrannt oder zerstört worden, und Temuchin hielt im größten eine Besprechung ab. Alle Offiziere waren versammelt — nur Kerk fehlte —, als Jason das Zelt betrat.

„Wir beginnen“, verkündete Temuchin und ließ sich mit untergeschlagenen Beinen auf einem Fell nieder. Die anderen warteten, bis er saß, bevor sie seinem Beispiel folgten. ›Was wir heute erreicht haben, ist nur ein Anfang, östlich von hier liegt ein wesentlich größeres Lager der Wiesel, und wir marschieren morgen dorthin, um es anzugreifen. Ich möchte, daß unsere Krieger der Meinung sind, wir wollten das Lager angreifen, und die Späher auf den Hügeln sollen den gleichen Eindruck haben. Einige durften entkommen, damit sie unsere Bewegungen beobachten können.“

Das war also der Grund für die Verzögerung, durch die einigen Nomaden die Flucht gelungen ist, dachte Jason. Das hätte ich mir eigentlich denken können. Temuchin muß diesen Feldzug bis in alle Einzelheiten geplant haben.

„Heute sind unsere Männer weit geritten und haben gut gekämpft. Alle Krieger, die nicht Wache stehen müssen, dürfen Achadh trinken und die gefundenen Lebensmittel essen.

Morgen stehen wir erst spät auf, nehmen die unbeschädigten Camachs mit und zerstören die übrigen. Wir reiten nicht lange und schlagen unser Nachtlager früh auf. Die Camachs werden errichtet, Kochfeuer brennen überall, und unsere Streifen dringen weit bis in die Hügel vor, damit die Späher des Gegners abgehalten werden.“

„Und das ist alles nur ein Trick“, stellte Ahankk grinsend fest. „Wir greifen nicht im Osten an?“

„Richtig.“ Die Offiziere beugten sich unwillkürlich vor, als Temuchin weitersprach. „Bei Einbruch der Dunkelheit reiten wir nach Westen, bis wir nach einer Nacht und einem Tag die Schlucht erreichen, die mitten ins Land der Wiesel führt. Wir greifen die Verteidiger mit unseren Bomben an und erobern ihre Befestigungen, bevor Verstärkung eintrifft.“

„Dort kämpft es sich schlecht“, murmelte ein Offizier und betastete eine Narbe am Unterkiefer, die ein Säbelhieb zurückgelassen hatte. „Und es lohnt sich nicht, dort zu kämpfen.“

„Natürlich gibt es dort nichts zu erbeuten, du Narr!“

antwortete Temuchin so wütend, daß der andere zusammenfuhr. „Aber die Schlucht ist der Weg ins Land unserer Feinde. Einige hundert Soldaten können dort eine ganze Armee aufhalten, aber sobald wir dieses Hindernis überwunden haben, sind die Wiesel verloren. Wir vernichten ihre Stämme nacheinander, bis der Wieselclan nur noch in den Liedern der Jongleure existiert. Erteilt jetzt eure Befehle und ruht euch aus. Wir reiten morgen abend und greifen am Tag darauf an.“

Als die anderen hinausgingen, hielt Temuchin Jason am Arm zurück.

„Wie steht es mit den Bomben?“ fragte er besorgt.

„Explodieren sie wirklich jedesmal?“

„Selbstverständlich“, versicherte Jason ihm zuversichtlich.

„Darauf kannst du dich verlassen.“

Er machte sich keine Sorgen wegen der Bomben — er hatte sie bereits erheblich verbessert, ohne Temuchin etwas davon zu erzählen —, aber wegen des bevorstehenden Ritts, der länger als der erste sein würde. Die Nomaden würden ihn schaffen, das stand fest, und die Pyrraner würden ebenfalls durchhalten.

Aber er selbst?

Ja, er würde es scharfen. Vielleicht mußte er sich im Sattel festbinden und Aufputschmittel nehmen, aber er würde es schaffen. Er wagte nur nicht, daran zu denken, in welchem Zustand er ankommen würde.

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