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Jason war nur noch halb bewußtlos. Sein Kopf dröhnte heftig, und er sah rote Schleier vor den Augen; dabei hatte et das Gefühl, nur ganz aufwachen zu müssen, um alles in Ordnung bringen zu können. Aus irgendeinem unverständlichen Grund schwankte sein Kopf heftig, und er wünschte sich, diese Bewegung würde endlich aufhören.

Nach einiger Zeit wurde ihm klar, daß er diese Sekunden, in denen er Schmerz empfand, nach Möglichkeit ausnützen mußte, weil er nur dann halbwegs bei Bewußtsein war. Seine Arme waren irgendwie gefesselt — das spürte er, ohne sie zu sehen —, aber er konnte sie etwas bewegen. Der automatische Halfter war noch da, aber die Pistole sprang nicht in seine Hand. Jason erkannte den Grund dafür, als seine Finger das abgerissene Kabel berührten, das Halfter und Waffe miteinander verband.

Er versuchte zu überlegen. Ihm war etwas zugestoßen.

Jemand hatte ihn niedergeschlagen und ihm die Pistole fortgenommen. Was noch? Warum konnte er nichts sehen? Er sah nur rote Schleier, wenn er die Augen öffnete. Was war noch verschwunden? Bestimmt sein Gürtel mit den übrigen Ausrüstungsgegenständen. Seine Finger griffen ins Leere.

Dann berührten sie etwas. Der Medikasten war in seiner Halterung an der Hüfte zurückgeblieben. Jason drückte mit dem Handrücken dagegen, bis seine Haut die Sonde berührte.

Der Analysator summte, und Jason spürte nicht einmal, daß ein halbes Dutzend Injektionsnadeln in die Haut eindrangen. Dann begannen die Mittel zu wirken, und der Schmerz ließ nach.

Nun konnte er endlich einigermaßen klar denken und sich auf seine Augen konzentrieren. Sie ließen sich nicht öffnen; irgend etwas hielt sie geschlossen. Das konnte Blut oder etwas anderes sein. Wahrscheinlich Blut, wenn man die Art der Verwundung berücksichtigte.

Jason konzentrierte sich auf das rechte Auge, kniff es zu, bis das Lid schmerzte, und versuchte es dann ruckartig zu öffnen.

Beim zweitenmal hatte er Erfolg und starrte genau in die weiße Sonne, als er langsam das Auge öffnete. Er blinzelte und sah, daß die Sonne den Horizont berührte. Das konnte später wichtig sein; er mußte sich merken, daß die Sonne genau hinter ihm oder etwas rechts davon den Horizont berührte.

Rechts. Sonnenuntergang. Etwas weiter rechts. Die Drogen des Medikastens und der traumatische Schock bewirkten, daß Jason allmählich wieder das Bewußtsein verlor.

Als der letzte weiße Schimmer am Horizont verschwunden war, schloß Jason das schmerzende Auge und fiel dankbar in Ohnmacht.

„………!“ brüllte eine Stimme in einem unverständlichen Dialekt. Der stechende Schmerz in der Seite machte wesentlich mehr Eindruck, und Jason wich ihm aus, während er aufzustehen versuchte. Etwas Hartes traf seinen Rücken, und er fiel auf Hände und Füße zurück; er brachte es tatsächlich fertig und stellte fest, daß die Mühe sich nicht gelohnt hatte.

Die Stimme gehörte einem kräftig gebauten Mann, der eine zwei Meter lange Lanze in der Faust hielt, mit deren Spitze er Jason gekitzelt hatte. Als er merkte, daß Jason die Augen öffnete und sich aufsetzte, zog er die Lanze zurück, lehnte sich darauf und betrachtete seinen Gefangenen. Jason war sich über seine Position im klaren, als er merkte, daß er in einem glockenförmigen niedrigen Käfig hockte. Er lehnte sich gegen die Gitterstäbe und studierte den Mann.

Er hatte einen Krieger vor sich, das war auf den ersten Blick klar; der Mann war arrogant und selbstsicher von dem Tierschädel auf seinem Helm bis zu den nadelspitzen Sporen an seinen kniehohen Stiefeln. Sein Brustharnisch, der aus dem gleichen Material wie der Helm bestand, war mit häßlichen Darstellungen geschmückt, in deren Mittelpunkt ein Jason unbekanntes Tier stand. Der Krieger trug außer der Lanze ein kurzes Schwert ohne Scheide am Gürtel. Seine fettglänzende Haut war von Wind und Sonne gegerbt, und Jason roch deutlich, daß der andere sich nur selten oder nie wusch.

„………!“ brüllte der Krieger und schüttelte die Lanze.

„Das ist doch keine Sprache!“ antwortete Jason ebenso laut.

„…………!“ rief der Mann diesmal mit schriller Stimme.

„Und das ist nicht viel besser.“

Der Krieger räusperte sich und spuckte vor Jason aus. „Hör zu, Bowab“, sagte er, „sprichst du wenigstens die Zwischensprache?“

„Schon besser“, meinte Jason zufrieden. „Eine Abart des Englischen. Wahrscheinlich als zweite Sprache geläufig.

Vielleicht erfahren wir nie, wer diesen Planeten ursprünglich besiedelt hat — aber es müssen englisch sprechende Siedler gewesen sein. Im Laufe der Zeit sind hier örtlich verschiedene Dialekte entstanden, aber die Eingeborenen haben sich die Erinnerung an eine gemeinsame Ursprache bewahrt. Man muß sich nur einfach genug ausdrücken, um verstanden zu werden.“

„Was sagst du?“ knurrte der Mann und schüttelte den Kopf.

Jason deutete auf sich und antwortete: „Klar, ich spreche die Zwischensprache so gut wie du.“

Das schien den Krieger zufriedenzustellen, denn er wandte sich ab und verschwand in der Menge. Nun hatte Jason Gelegenheit, die Vorübergehenden zu studieren, die er bisher nur undeutlich wahrgenommen hatte. Er sah nur Krieger, die alle ähnlich bewaffnet und ausgerüstet waren; manche trugen jedoch keine Lanze, sondern dafür einen kurzen Bogen. Auf allen Seiten standen halbkugelige Zelte, die sich kaum von ihrer Umgebung abhoben, weil sie gelbgrün wie das spärliche Gras gefärbt waren. Als die Männer vor einem Reiter auswichen, erkannte Jason eines der Tiere, von denen die Überlebenden des Massakers gesprochen hatten.

Es erinnerte in vieler Beziehung an ein Pferd, war jedoch doppelt so groß und mit zottigem Fell bedeckt. Der Pferdekopf war im Verhältnis zum übrigen Körper winzig und saß auf einem langen Hals; die Vorderbeine waren deutlich länger, so daß der Rücken stark abfiel, bis er in einem winzigen Schwanz auslief. Der Reiter saß auf einem Höcker zwischen Hals und Schultergelenk.

Dann ertönte ein Horn, und als Jason sich umdrehte, sah er zwei Männer inmitten einer Gruppe von Leibwächtern auf seinen Käfig zugehen. Drei Soldaten mit gesenkten Lanzen bahnten ihnen einen Weg durch die Menge. Unmittelbar hinter ihnen folgte ein Krieger, der eine Art Standarte trug. Weitere Krieger mit gezückten Schwertern bewachten die beiden Männer. Jason erkannte den Mann mit der Lanze, der ihn so rauh geweckt hatte. Der andere war einen Kopf größer, trug einen goldenen Helm und einen juwelenbesetzten Brustharnisch aus dem gleichen Material.

Aber er besaß noch mehr, erkannte Jason, als der Mann seinen Käfig erreichte. Er war ein geborener Führer, und er wußte es auch. Seine rechte Hand ruhte auf dem Knauf des Schwerts an seinem Gürtel, während er sich den rötlichen Schnurrbart mit der narbenbedeckten Linken strich. Er blieb dicht vor dem Käfig stehen und starrte Jason forschend an, der seinen Blick vergeblich ebenso durchdringend zu erwidern versuchte.

„Mach deinen Kniefall vor Temuchin“, befahl einer der Soldaten Jason und stieß ihm das stumpfe Ende seiner Lanze in den Magen.

Jason krümmte sich zusammen, behielt jedoch den Kopf oben und starrte den Mann an.

„Woher kommst du?“ fragte Temuchin, und seine Stimme klang so befehlsgewohnt, daß Jason unwillkürlich antwortete.

„Aus weiter Ferne, von einem Ort, den du nicht kennst.“

„Von einer anderen Welt?“

„Ja. Weißt du von anderen Welten?“

„Nur aus den Gesängen der Jongleure. Bis das erste Schiff kam, habe ich sie für Märchen gehalten. Aber sie sind wahr.“

Er streckte die Hand aus, und einer seiner Männer reichte ihm ein verbogenes und geschwärztes Lasergewehr. „Kannst du das wieder Feuer spucken lassen?“ wollte Temuchin wissen.

„Nein.“ Das mußte eine Waffe der ersten Expedition gewesen sein.

„Wie steht es damit?“ Temuchin hielt diesmal Jasons Pistole hoch.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Jason mühsam beherrscht.

„Ich muß es erst aus der Nähe sehen.“

„Verbrennt es“, befahl Temuchin und ließ die Waffe fallen.

„Weshalb seid ihr hier, was wollt ihr hier Fremder?“

„Meine Leute wollen Metalle aus der Erde holen“, antwortete Jason laut. „Wir schaden niemand, wir bezahlen sogar dafür und…“

„Nein“, sagte Temuchin nur und wandte sich ab.

„Warte, du hast noch nicht alles gehört.“

„Das genügt“, erklärte Temuchin ihm. „Wenn ihr grabt, entsteht dort eine Stadt mit Gebäuden und Zäunen. Die Ebene ist immer frei gewesen.“ Dann fügte er im gleichen Tonfall hinzu:

„Tötet ihn.“

Als die Leibwache Temuchin folgte, kam der Standartenträger am Käfig vorbei. Jason sah einen menschlichen Schädel auf der Lanze stecken; das Banner selbst bestand aus Hunderten von menschlichen Daumen, die getrocknet und aneinandergeknotet worden waren.

„Warte!“ rief Jason hinter Temuchin her. „Ich kann dir alles erklären! Wir…“

Aber der Herrscher ließ sich nicht aufhalten. Eine Gruppe Soldaten umringte den Käfig, und einer der Krieger löste den Verschluß, so daß der Käfig sich zurückklappen ließ. Jason kauerte sich zusammen, sprang über die ersten Männer hinweg, die sich bückten, um nach ihm zu greifen, und prallte schwer mit einem anderen Krieger zusammen. Der Ausgang des Kampfes war gewiß, aber Jason grinste zufrieden, als er umringt und fortgeführt wurde. Ein Soldat lag bewußtlos vor dem Käfig, ein anderer hockte in seiner Nähe und hielt sich den Kopf mit beiden Händen.

„Wie lange bist du hierher unterwegs gewesen?“ fragte eine Stimme neben ihm.

„Ekmortu!“ murmelte Jason und spuckte aus.

„Wie ist das Klima auf deinem Heimatplaneten? Heißer oder kälter?“

Jason, der mit dem Gesicht nach unten getragen wurde, drehte den Kopf nach links und erkannte, daß der Fragesteller ein alter Mann war, dessen zerrissene Lederkleidung früher einmal grün und gelb gefärbt gewesen war. Hinter Ihm stolperte ein verschlafen aussehender Jüngling her, der ähnlich gekleidet war.

„Du weißt soviel“, flehte der Alte. „Du mußt mir etwas erzählen.“

Die Krieger stießen die beiden fort, bevor Jason ihnen einige Flüche an den Kopf werfen konnte, die er ebenfalls wußte.

Jason konnte sich nicht dagegen wehren, als die Männer ihn zu einem Eisenpfahl schleppten, der auf einem freien Platz stand.

Dort versuchten sie, ihm die Jacke über den Kopf zu zerren, die ihren plumpen Fingern Widerstand leistete, bis einer der Krieger seinen Dolch zog und das Metallgewebe damit zersägte, ohne darauf zu achten, daß er auch Jasons Haut zerschnitt. Als die Soldaten ihm endlich die Jacke vom Leib gerissen hatten, blutete er aus einem Dutzend Wunden und war kaum noch bei Bewußtsein. Er wurde zu Boden gestoßen und mit einem Lederseil gefesselt, das an dem Pfahl befestigt war.

Die Außentemperatur betrug kaum null Grad, obwohl die Sonne noch hoch am Himmel stand. Als Jasons Oberkörper nicht mehr von der Isolierkleidung bedeckt war, brachte ihn der eisige Wind sofort wieder zu Bewußtsein.

Die weitere Entwicklung war klar abzusehen. Jasons Handgelenke waren mit einem etwa drei Meter langen Seil an den Pfahl gefesselt. Er stand allein im Mittelpunkt einer Art Arena. Überall waren Krieger zu sehen, die eifrig ihre Reittiere sattelten. Der erste Mann stieß einen schrillen Schrei aus, legte seine Lanze ein und griff Jason an. Sein Tier raste erschreckend schnell auf den Pfahl zu.

Jason reagierte automatisch; er zog sich auf die andere Seite des Pfahls zurück. Der Angreifer stach nach ihm, traf jedoch nur Eisen.

Jason verdankte es nur einer instinktiven Reaktion, daß er mit dem Leben davonkam, denn der zweite Reiter griff von hinten an. Jason nahm wieder rechtzeitig hinter dem Pfahl Deckung. Aber der erste Mann wendete bereits, und Jason sah, daß eben ein weiterer Reiter in den Sattel stieg. Diese Zielübungen konnten nur ein Ende nehmen: Jason war jedenfalls nicht imstande, jedem Angriff auszuweichen.

„Dann müssen die Aussichten eben besser werden“, murmelte er vor sich hin und bückte sich. Das Messer steckte noch in seinem rechten Stiefel.

Als der dritte Mann angriff, hielt Jason sein Messer zwischen den Zähnen und sägte das Lederseil mit der scharfen Klinge durch. Dann kauerte er hinter dem Pfahl, um der Lanze zu entgehen. Der Angreifer galoppierte weiter, und Jason ging selbst zum Angriff über.

Er hielt den Reiter am Stiefel fest und versuchte ihn aus dem Sattel zu reißen. Das Tier bewegte sich jedoch zu schnell, und Jason mußte sich an seinem Pelz festklammern. Als der Reiter sich im Sattel umdrehte und nach ihm stechen wollte, holte Jason aus und bohrte sein Messer in den Rücken des Reittiers.

Offenbar hatte er eine empfindliche Stelle getroffen, denn das große Tier bäumte sich auf und schoß davon. Der Reiter wurde abgeworfen und verschwand; Jason hielt sich mit letzter Kraft fest und brachte es fertig, die beiden ersten großen Sätze zu überstehen. Beim dritten Sprung wurde er jedoch ebenfalls abgeworfen, flog mit dem Kopf voraus durch die Luft und landete mit einer Schulterrolle zwischen zwei Zelten. Er richtete sich auf, sah keine Verfolger und rannte weiter.

Die halbkugelförmigen Zelte bildeten hier eine weite Gasse, und Jason bog bei nächster Gelegenheit nach rechts ab, als er an Speerspitzen zwischen den Schulterblättern dachte.

Wütende Schreie hinter ihm zeigten, daß seine Verfolger nicht viel von seiner Flucht hielten. Bisher hatte er seinen Vorsprung halten können, aber er fragte sich, wie lange ihm das noch glücken würde.

Eines der Zelte vor ihm wurde geöffnet, und ein grauhaariger Mann warf einen Blick ins Freie — der gleiche Mann, der Jason zuvor Fragen gestellt hatte. Er schien sofort zu erfassen, was sich ereignete, und winkte Jason zu sich heran. Nun war ein rascher Entschluß fällig. Jason sah sich um, erkannte keine Verfolger hinter sich und schlüpfte ins Zelt.

Dann fiel ihm auf, daß er noch immer das Messer in der Hand trug. Er setzte es dem Alten auf die Brust.

„Keinen Laut, sonst bist du tot!“ zischte er.

„Warum sollte ich dich verraten?“ fragte der andere. „Ich habe dich selbst hereingeholt Ich riskiere alles, um mehr zu lernen. Zurück, damit ich den Eingang verschließen kann!“

Jason sah sich rasch in dem dunklen Zelt um und erkannte den schläfrigen jungen Mann wieder, der vor einem kleinen Feuer hockte. Ober dem Feuer hing ein Topf, in dem eine runzlige Alte herumrührte. Die beiden schienen gar nicht gemerkt zu haben, was sich am Eingang abspielte.

„Zurück!“ drängte der Mann und stieß Jason von sich fort.

„Sie sind bald hier. Aber sie dürfen dich nicht finden.“

Draußen ertönten jetzt Schreie, und Jason hielt den Plan des Alten für vernünftig. Er ließ sich möglichst weit vom Eingang entfernt nieder und erhob keine Einwände, als der Alte ihm einige Felle umhängte, ihm eine Pelzkappe aufsetzte, deren herabhängender Schirm sein Gesicht halb verdeckte, und ihm eine übelriechende Tonpfeife zwischen die Zahne schob.

Weder die alte Frau noch der junge Mann achteten auf ihn.

Die beiden sahen nicht einmal auf, als ein Krieger das Zelt öffnete und den Kopf ins Innere steckte. Der Eindringling sah sich um und brüllte eine Frage. Der Alte mit dem grauen Bart grunzte verneinend — und das war alles. Der Krieger verschwand, und die Alte watschelte zum Eingang, um ihn wieder zu verschließen.

Jason dinAlt hatte im Laufe seines Lebens gelernt, nie auf selbstlose Wohltätigkeit zu vertrauen. Deshalb hielt er das Messer noch immer stoßbereit. „Warum hast du mir geholfen?“ erkundigte er sich mißtrauisch.

„Ein Jongleur riskiert alles, um zu lernen“, antwortete Graubart und ließ sich am Feuer nieder. „Ich stehe über den kleinlichen Zwistigkeiten der Stämme. Ich heiße Oraiel, und du nennst am besten gleich deinen Namen.“

„Riverboat Sara“, erwiderte Jason und legte das Messer lange genug fort, um das Oberteil seines Anzugs nochzuziehen und seine Arme in die Ärmel zu stecken. Er log instinktiv, obwohl keine Bedrohung sichtbar war. Die Alte rührte in ihrem Kessel; der junge Mann hockte hinter Oraiel. „Von welcher Welt kommst du?“

„Himmel.“

„Gibt es viele bewohnte Welten?“

„Mindestens dreißigtausend, obwohl niemand die genaue Zahl angeben kann.“

„Wie sieht es auf deiner Welt aus?“ Jason runzelte die Stirn.

Ihm war eingefallen, daß er noch weit davon entfernt war, mit heiler Haut aus dieser Falle zu entkommen.

„Wie sieht es auf deiner Welt aus, Alter?“ erkundigte er sich deshalb. „Ich tausche Informationen gegen Informationen.“

Oraiel warf ihm einen forschenden Blick zu und nickte langsam. „Einverstanden. Ich beantworte deine Fragen, wenn du meine beantwortest.“

„Gut, aber du beantwortest zuerst meine, weil ich mehr zu verlieren habe, falls wir unterbrochen werden. Bevor wir unser Frage-und-Antwort-Spiel beginnen, muß ich zunächst Inventur machen. Dazu war ich bisher zu beschäftigt.“

Jason stellte fest, daß die Krieger gute Arbeit geleistet hatten. Nur sein Medikasten war ihnen entgangen, als sie ihn durchsuchten; offenbar hatte er darauf gelegen. Und das Funkgerät! In der Dunkelheit hatten sie den flachen Behälter unter seiner Achsel übersehen. Das Funkgerät besaß keine große Reichweite, aber vielleicht konnte er trotzdem mit der Pugnücious in Verbindung treten und Hilfe…

Er holte es aus der Tasche und starrte trübselig das zertrümmerte Gehäuse an, in dem es hörbar klapperte.

Irgendwann mußte ihn genau an dieser Stelle ein Schlag getroffen haben. Er schaltete das Gerät ein — nichts, nicht einmal ein Rauschen.

Die Tatsache, daß sein Chronometer, das an der Innenseite des Gürtels befestigt war, die genaue Zeit anzeigte, tröstete ihn wenig. Es war zehn Uhr morgens. Das Chronometer war nach der Landung auf den 20-Stunden-Tag von Felicity umgestellt worden.

Jason machte es sich am Feuer gemütlich und deckte sich mit Fellen zu. „Schön, jetzt können wir anfangen, Oraiel. Wer ist der Boß hier, der meine Hinrichtung befohlen hat?“

„Er ist Temuchin der Krieger, der Furchtlose, der Stählerne Arm, der Zerstörer, der…“

„Schon verstanden. Er gibt hier also den Ton an. Was hat er gegen Fremde — und Gebäude?“

„Das erklärt das ›Lied der Freien‹ am besten“, antwortete Oraiel und gab seinem Lehrling einen Stoß. Der junge Mann grunzte, raffte sich auf und brachte eine Art Laute mit zwei Saiten zum Vorschein, auf der er sich selbst begleitete, während er mit hoher Stimme sang:

Frei wie der Wind,

Frei wie die Ebene, auf der wir wandern;

Ohne ein Heim,

Nur in Zelten, Unsere Freunde,

Die Moropen,

Die uns in den Kampf tragen,

Zerstören die Gebäude

Der anderen, die uns festhalten würden…

So ging es endlos weiter, bis Jason einzunicken drohte. Er unterbrach schließlich den jungen Mann und stellte Oraiel einige Fragen. Allmählich erfuhr er, wie die Menschen auf dieser Hochebene lebten.

Von den Meeren in Ost und West und von der Großen Klippe im Süden bis zu den Bergen im Norden gab es keine einzige ständige Ansiedlung von Menschen. Die Nomadenstämme wanderten frei und ziellos über die Ebene, befehdeten einander und verbündeten sich gelegentlich gegen gemeinsame Feinde.

Früher hatte es hier Städte gegeben, denn aus dieser Zeit stammte der Haß der Nomaden gegen alles, was an feste Plätze erinnerte. Auf dieser Hochebene gab es nur Raum für Seßhafte oder Nomaden, und die Nomaden waren in erbitterten Kämpfen Sieger geblieben. Sie hatten so gründliche Arbeit geleistet, daß keine Spur ihrer Feinde zurückgeblieben war.

Die Barbaren zogen in Stämmen und Clans über die Ebene, blieben, wo es ihnen gefiel, und zogen weiter, wenn ihr Vieh keine Nahrung mehr fand. Die Jongleure, die als einzige überall willkommen waren, schlossen sich einzelnen Stämmen an und waren Sänger, Alleinunterhalter, Hofnarren und Nachrichtenübermittler zugleich. In diesem Klima gediehen keine Bäume mehr, so daß Werkzeuge und andere Gegenstände aus Holz unbekannt waren. Im Norden wurden Kohle und Eisenerz abgebaut, die zur Stahlgewinnung dienten.

Gekocht wurde über getrocknetem Dung; Tierfett füllte die Lampen. Das Leben war meistens häßlich und kurz.

Jeder Stamm besaß traditionelle Weidegründe, deren Grenzen jedoch nie genau festgelegt worden waren, so daß es ihretwegen ständige Kämpfe gab. Die halbkugelförmigen Zelte, die Camachs, bestanden aus zusammengenähten Fellen, die über Eisenstangen gezogen wurden. Wenn der Stamm sein Lager abbrach, wurden die Camachs und andere Haushaltsgegenstände auf niedrige Wagen, Escungs, verladen, die von Moropen gezogen wurden. Die Moropen waren im Gegensatz zu Rindern und Ziegen einheimische Pflanzenfresser; sie konnten bis zu zwanzig Tage ohne Wasser auskommen, ertrugen die Kälte auf der Hochebene gut und dienten ihren Besitzern als Zug- und Reittiere.

Mehr gab es eigentlich nicht zu erzählen. Die Stämme wanderten und kämpften, jeder sprach seinen eigenen Dialekt und gebrauchte die Zwischensprache nur, wenn eine Unterhaltung mit Fremden unumgänglich war. Die Stämme verbündeten sich und brachen ihre Bündnisse wieder, wenn sie sich davon Vorteile versprachen. Ihr Lebenswerk war der Krieg, den sie in jeder Phase beherrschten.

Als Jason vorläufig zufriedengestellt war, begann Oraiel seine Fragen zu stellen. Der Jongleur und sein Lehrling hörten aufmerksam zu. Jason bemühte sich, ihre Fragen ausführlich zu beantworten; gleichzeitig überlegte er jedoch, wie er am besten fliehen und zum Schiff zurückkehren konnte. Es war bereits später Nachmittag, als Oraiel ihm endlich Gelegenheit zu einigen Zwischenfragen gab.

„Wie viele Männer gibt es hier im Lager?“ wollte Jason wissen.

Der Jongleur nahm einen Schluck Achadh, gegorene Morope-Milch, und breitete die Arme aus. „Ihre Zahl verdunkelt die Ebene, und ihr Anblick erzeugt Angst und…“

„Ich will nicht die Stammesgeschichte, sondern eine runde Zahl hören“, warf Jason ein.

„Das wissen nur die Götter. Vielleicht sind es hundert, vielleicht sind es eine Million.“

„Wieviel ist zwanzig und zwanzig?“ fragte Jason.

„Ich gebe mich nicht mit solchen Kleinigkeiten ab.“

„Das hätte ich mir denken können“, murmelte Jason vor sich hin. Er ging zum Zelteingang und sah durch einen Spalt hinaus.

Ein eisiger Luftzug trieb ihm das Wasser in die Augen.

Wolkenfetzen zogen über den Himmel, und die Schatten wurden bereits merklich länger.

„Trink“, forderte Oraiel ihn auf und streckte ihm die Lederflasche Achadh entgegen. „Du bist mein Gast und mußt trinken.“

Das Schweigen wurde nur von einem Kratzen unterbrochen, als die Alte den Kochtopf ausscheuerte. Der Lehrling hatte den Kopf gesenkt und schien zu schlafen.

„Ich trinke immer gern“, sagte Jason, ging auf den Alten zu und nahm ihm die Flasche aus der Hand. Als er sie an den Mund setzte, sah die alte Frau kurz zu ihm auf und beugte sich wieder über ihre Arbeit. Jason hörte ein Rascheln runter sich.

Er warf sich zur Seite, ließ das Trinkgefäß fallen und spürte einen Schlag, der sein Ohr streifte und seine Schulter traf.

Jason holte aus und traf den Lehrling mit dem Fuß in den Magen. Der andere klappte wie ein Taschenmesser zusammen und ließ seinen Morgenstern fallen.

Oraiel zog ein langes Schwert unter seinem Pelz hervor und schwang es drohend. Der Keulenhieb hatte Jasons rechten Arm gelähmt, so daß er jetzt schlaff an seiner Seite hing — aber sein linker Arm war noch in Ordnung. Jason warf sich über den Jongleur und drückte ihm mit Daumen und Zeigefinger die Halsschlagader ab. Der Alte zuckte krampfhaft mit den Beinen und wurde ohnmächtig.

Jason war sich darüber im klaren, daß er mit einer Bedrohung von der Flanke her rechnen mußte, deshalb hatte er versucht, die Alte im Auge zu behalten. Sie brachte jetzt ein scharfes Messer zum Vorschein — der Camach war das reinste Waffenlager — und wollte in den Kampf eingreifen. Jason ließ den Jongleur fallen und schlug der Alten das Messer aus der Hand.

Das alles hatte etwa zehn Sekunden gedauert. Oraiel und sein Lehrling lagen bewußtlos übereinander; die Alte hockte am Feuer und hielt sich wimmernd ihr Handgelenk.

„Vielen Dank für die Gastfreundschaft“, murmelte Jason und massierte seinen rechten Arm. Als er die Finger wieder einigermaßen bewegen konnte, fesselte und knebelte er die alte Frau. Dann waren die beiden anderen an der Reihe; schließlich lagen die drei säuberlich nebeneinander aufgereiht. Oraiel wachte auf und starrte Jason haßerfüllt an.

„Wie ihr sät, so werdet ihr ernten“, erklärte Jason ihm und beugte sich über die Pelze. „Man kann eben nicht alles gleichzeitig haben — Informationen und die Belohnung, die Temuchin vermutlich ausgesetzt hat. Aber ich weiß, daß dir die Sache jetzt leid tut und daß du mir ein paar Felle, diese alte Pelzkappe und einige Waffen schenken willst.“

Oraiel knurrte irgend etwas Unverständliches.

„Du sollst nicht fluchen“, mahnte Jason. Er zog sich die Pelzmütze tief ins Gesicht und nahm den Morgenstern auf, den er in ein Stück Leder gewickelt hatte. „Ihr könnt euch bestimmt selbst befreien, auch wenn es einige Zeit dauert. Seid lieber froh, daß ich keiner von euch bin, sonst wäret ihr jetzt schon tot.“ Er nahm die Lederflasche auf und warf sie sich über die Schulter.

Da niemand in Sicht war, als er den Kopf aus dem Zelt steckte, trat er ins Freie und verschnürte den Eingang wieder.

Dann schlurfte er mit gesenktem Kopf durchs Lager der Barbaren davon.

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