16

Jemand rieb Jasons Gesicht mit Schnee ab, füllte ihm Nase und Mund damit und brachte ihn dadurch wieder zu Bewußtsein. Jason hustete und spuckte und schob die Hände von sich fort. Als er sich den Schnee aus den Augen gewischt hatte, sah er sich um und versuchte zu erkennen, was geschehen war.

Er kniete zwischen zwei Männern von Temuchins Leibwache. Sie hatten die Schwerter gezogen, und einer hielt eine Fackel in der linken Hand. Sie beleuchtete eine kleine Schneewehe und den Rand eines dunklen Abgrunds. Einzelne Schneeflocken verschwanden darin.

„Kennst du diesen Mann?“ fragte eine Stimme, die Jason als Temuchins erkannte. Zwei Männer tauchten aus der Nacht auf und blieben vor ihm stehen.

„Ja, Herr“, antwortete der zweite Mann. „Er ist der Fremde, der mit dem fliegenden Ding gekommen ist und der aus der Gefangenschaft entfliehen konnte.“

Jason warf einen prüfenden Blick auf das vermummte Gesicht des anderen und stellte zu seiner Überraschung fest, daß er den Jongleur Oraiel vor sich hatte.

„Ich habe diesen Mann noch nie gesehen. Er ist ein Lügner“, behauptete Jason, ohne auf seinen schmerzenden Hals zu achten.

„Ich erinnere mich noch gut an seine Gefangennahme, Herr, und er hat mich später überfallen und geschlagen. Du hast selbst mit ihm gesprochen.“

„Richtig“, stimmte Temuchin zu und trat näher. „Er ist es wirklich. Deshalb kam er mir gleich so bekannt vor.“

„Was sollen diese Lügen…“, begann Jason und richtete sich mühsam auf.

Temuchin hielt ihn an den Schultern fest und schob ihn zurück, bis er dicht am Abgrund stand.

„Sag mir die Wahrheit, wer du auch immer bist. Du stehst am Tor zur Hölle und kannst nicht mehr entfliehen. Aber ich lasse dich vielleicht laufen, wenn du die Wahrheit sagst.“ Jason konnte das Gesicht des Barbaren im Gegenlicht noch nicht klar erkennen; aber er wußte, daß er von Temuchin kein Mitleid zu erwarten hatte. Für ihn war der Kampf zu Ende. Er konnte nur noch versuchen, die Pyrraner zu schützen.

„Laß mich frei, dann sage ich die Wahrheit. Ich komme von einem anderen Planeten. Ich bin allein hierher gekommen, um dir zu helfen. Ich bin dem Jongleur Jason begegnet, der im Sterben lag, und ich habe seinen Namen angenommen. Er war schon so lange nicht mehr bei seinem Stamm gewesen, daß sein Name in Vergessenheit geraten war. Und ich habe dir geholfen. Laß mich frei, dann helfe ich dir weiterhin.“

Sein Dentiphon summte, dann fragte eine leise Stimme:

„Hörst du mich, Jason? Hier ist Kerk. Wo bist du?“ Das Dentiphon arbeitete also noch — er hatte eine letzte Chance.

„Warum bist du hier?“ fragte Temuchin. „Willst du den Tiefländern helfen, hier ihre Städte zu errichten?“

„Laß mich frei. Laß mich nicht ins Höllentor fallen, dann erzähle ich dir alles.“

Temuchin zögerte lange, bevor er wieder sprach.

„Du bist ein Lügner. Was du sagst, ist gelogen. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.“ Als er den Kopf zur Seite drehte, sah Jason, daß ein humorloses Lächeln um seinen Mund spielte.

„Ich lasse dich frei“, sagte er und ließ Jasons Schultern los.

Jason griff ins Leere, versuchte sich zu drehen, um die Felsen am Rand des Abgrundes zu erreichen, und stürzte in die Dunkelheit hinab.

Die Luft rauschte an ihm vorbei.

Ein Schlag an der Schulter, einer gegen den Rücken. Dann rutschte er eine schräge Felswand entlang und schlug die Hände vors Gesicht, um es zu schützen. Der rauhe Fels zerschliß seine Kleidung.

Dann rutschte er nicht mehr, sondern fiel wieder Hals über Kopf durch die Dunkelheit. Er fiel unendlich lange, bis sein Fall plötzlich abrupt gebremst wurde.

Er starb nicht, was ihn selbst verblüffte. Er wischte sich etwas aus dem Gesicht und merkte, daß es Schnee war. Eine Schneewehe am Boden des Abgrundes. Eine Schneewehe in der Hölle — und er war darin gelandet.

„Wo es Leben gibt, gibt es Hoffnung, Jason“, murmelte er vor sich hin. Aber was hatte er hier im Abgrund zu hoffen?

Kerk und die Pyrraner würden ihn herausholen. Aber dann spürte er Metallsplitter im Mund und tastete mit der Zunge danach. Er hatte sein Dentiphon zerbissen.

„Du bist also wieder einmal auf dich allein gestellt, Jason“, sagte er laut. Was hatte er gerettet? Er suchte nach seinem Medikasten. Verschwunden. Die Geldtasche steckte noch im Gürtel, aber das Messer war aus dem Stiefel gefallen. Er entdeckte eine fingerdicke Röhre in der Gürteltasche. Was?

Natürlich die Taschenlampe, die er eingesteckt hatte, nachdem die Kapsel gelandet war.

Brannte sie noch? Wahrscheinlich nicht, wenn man sein bisheriges Pech berücksichtigte. Zu seiner Überraschung flammte sie jedoch sofort auf. Licht! Jason fühlte sich sofort besser, obwohl seine Lage dadurch nicht ernstlich geändert war. Nun konnte er sich in seinem Gefängnis umsehen: eine ebene Talsohle, die mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt war. Noch immer fielen einzelne Flocken lautlos durch den Lichtkreis seiner Lampe und verschwanden. Der Schnee war unterhalb der dunklen Felswände vom Wind zusammengetrieben und aufgehäuft worden. Die Felsen über Jason bildeten einen gewaltigen Überhang, der den Himmel verdeckte. Er mußte diese schräge Fläche hinabgerutscht und wie ein Projektil in diese Schneewehe geschossen sein. Ein glücklicher Zufall hatte ihm das Leben gerettet.

Jason hörte einen klagenden Schrei über sich und sah einen dunklen Schatten von oben herabkommen. Die Gestalt schlug kaum zehn Meter von ihm entfernt auf der Talsohle auf.

Dort waren die Felsen nur mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt, und der Mann hatte den Aufprall nicht überlebt. Jason erkannte seinen Verräter, den Jongleur Oraiel.

„Was soll das? Beseitigt Temuchin Augenzeugen? Das sieht ihm nicht ähnlich.“ Der Mund des anderen stand offen, aber Oraiel würde nie wieder sprechen.

Jason kletterte aus seiner Schneewehe und marschierte über den Talboden, der hier auffällig eben war. Das fiel ihm jedoch erst ein, als er ein Knistern unter sich hörte. Als er einen Schritt zurücktrat, zersplitterte das Eis, und Jason fiel ins Wasser.

Der Schock nahm ihm fast den Atem, aber er hielt den Mund fest geschlossen und biß sich dabei in die Unterlippe.

Gleichzeitig hielt er seine Taschenlampe fest umklammert, denn er wußte, daß er ohne sie das Loch im Eis nie wiederfinden würde.

Unmittelbar darauf spürte er festen Boden unter den Füßen und stieß sich ab. Im Licht der wasserdichten Lampe glitzerte das Eis wie ein Spiegel über ihm, und als er es mit der Handfläche nach oben zu drücken versuchte, gab es nicht nach.

Jason spürte, daß seine Finger übers Eis glitten — er wurde von einer raschen Strömung mitgerissen. Das Loch im Eis mußte bereits weit hinter ihm liegen.

Unter dem Eis am Boden dieses unzugänglichen Lochs gefangen! Nun wäre es Zeit gewesen, den aussichtslosen Kampf aufzugeben, aber Jason dinAlt dachte keine Sekunde daran. Er hielt verzweifelt die Luft an; er versuchte zur Seite zu schwimmen, wo er vielleicht durch das Eis brechen konnte; er suchte mit der Taschenlampe nach einer Öffnung in der Eisdecke.

Das Wasser war kalt; es lahmte ihn förmlich und riß ihn mit sich. Aber das Feuer in seinen Lungen war am schlimmsten.

Jason wußte, daß in seinem Körper genug Sauerstoff für einige Minuten gespeichert war. Aber der Atemreflex in seiner Brust kümmerte sich nicht um solche Überlegungen. Schließlich konnte er ihn nicht mehr unterdrücken, ließ sich nach oben treiben und holte in der Dunkelheit tief Luft.

Er brauchte lange, bis er begriff, was sich ereignet hatte.

Dann schleppte er sich an das dunkle, steinige Ufer und blieb dort zur Hälfte im Wasser liegen wie ein gestrandeter Wal. Er hatte nicht die Kraft, sich weiter zu bewegen, aber als die Kälte ihm noch stärker zusetzte, wurde ihm klar, daß er sich entweder bewegen oder hier sterben mußte. Aber wo war hier?

Jason zog sich langsam aus dem Wasser, schaltete seine Taschenlampe ein und beleuchtete seine Umgebung. Er sah Wasser und an drei Seiten nur Felsen. Kein Schnee?

Allmählich wurde ihm klar, was das bedeutete.

„Eine Höhle.“

Nachträglich wurde ihm alles klar. Das Höllentor war ein enges Tal, das im Laufe der Jahrtausende von einem Flüßchen in den Fels gegraben worden war. Das Wasser floß unterirdisch ab — und Jason war mitgerissen worden. Er war also noch nicht verloren, denn er brauchte nur diesem Wasserlauf zu folgen, um wieder ans Tageslicht zu kommen. Dann fiel ihm ein, daß der Fluß irgendwo in tieferen Felsschichten versickern könnte, aber er weigerte sich, diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht zu ziehen.

Jason raffte sich auf, folgte dem Strom flußabwärts und sah plötzlich Fußabdrücke, die aus dem Wasser kamen und in die gleiche Richtung liefen.

War also noch jemand hier? Die Spuren waren deutlich zu erkennen und offenbar erst vor kurzem entstanden. Vielleicht gab es einen Zugang zu diesen Höhlen, der allgemein bekannt war. Jason brauchte nur den Spuren zu folgen. Und solange er sich bewegte, würde er trotz seiner durchnäßten Kleidung nicht erfrieren. Die Luft hier unten war kühl, aber längst nicht so kalt wie draußen im Freien.

Als die Spuren das sandige Ufer verließen, wurden sie undeutlicher und waren bald nicht mehr zu erkennen. Jason fluchte leise vor sich hin, während er nacheinander die einzelnen Gänge absuchte, die von hier aus in verschiedenen Richtungen abzweigten. Die meisten führten nur ans Wasser zurück, andere endeten im Fels, aber Jason fand immer einen, der nicht als Sackgasse aufhörte, sondern die Verbindung zu weiteren Höhlen herstellte.

Als er in einen neuen Gang einbog, fand er den Mann, dem er gefolgt war. Der andere trug Pelze wie Jason und schlief auf dem Boden. Jason näherte sich ihm vorsichtig und sah, daß es ein Schlaf für die Ewigkeit war. Der Mann konnte seit Jahren tot in dieser trockenen, kalten und bakterienarmen Umgebung liegen. Sein Gesicht war eingeschrumpft und vertrocknet; die gelblichen Zähne grinsten Jason entgegen. Neben den Fingern der ausgestreckten Hand lag ein Messer, das nur mit einer hauchdünnen Rostschicht bedeckt war.

Jason tat, was er tun mußte, um zu überleben: Er zog dem Toten den schweren Pelz aus, den dieser über seiner Lederkleidung trug. Dann streifte er seine nassen Kleidungsstücke ab und hüllte sich in den trockenen Pelz.

Er breitete seine Kleidung zum Trocknen aus, suchte sich einen halbwegs bequemen Platz, ließ die Taschenlampe dunkel glühen — und schlief augenblicklich ein.

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