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„Laß mich mit ihm sprechen“, bat Meta.

Kerk schob sie zur Seite und hielt das Mikrophon timklammert.

„Hör zu, Jason“, sagte er eisig. „Niemand von uns unterstützt deinen Plan. Du kannst ihn nicht vernünftig erklären, weil er unsinnig ist. Sobald Temuchin das Tiefland beherrscht, können wir ihn nie verdrängen und unser Bergwerk errichten. Rhes ist nach Ammh zurückgekehrt, um den Widerstand gegen die Eindringlinge zu organisieren. Einige von uns wollen sich ihm anschließen. Ich warne dich zum letztenmal: Hör auf, bevor es zu spät ist!“

„Kerk, ich habe Verständnis für deinen Standpunkt“, antwortete Jason ruhig, „aber die Entwicklung ist nicht mehr aufzuhalten. Temuchins Horden haben das Tiefland erreicht, und die Nomaden werden dort siegen. Wenn die letzte Schlacht geschlagen ist, herrscht Temuchin über und unter den Klippen, und ihr werdet sehen, daß schließlich doch alles zu unserem Besten ist.“

„Nein!“ rief Meta und entwand Kerk das Mikrophon.

„Jason, hör zu. Das kannst du uns nicht antun. Du bist zu uns gekommen und hast uns geholfen, und wir haben dir vertraut.

Du hast uns gezeigt, daß es mehr im Leben gibt, als zu töten und getötet zu werden. Wir wissen jetzt, daß der Kampf auf Pyrrus falsch war, und wir sind nun hierhergekommen, weil du uns darum gebeten hast.

Aber jetzt müssen wir glauben, du wolltest uns verraten. Du hast uns gezeigt, daß man überleben kann, ohne zu morden, und wir haben uns bemüht, deinem Beispiel zu folgen. Aber was du jetzt tust, ist schlimmer, viel schlimmer als unser Krieg auf Pyrrus. Dort haben wir wenigstens um unser Leben gekämpft. Du aber hast diesem Ungeheuer Temuchin den Weg gewiesen, damit er wieder Krieg führen und Menschen töten kann. Wie willst du dieses Verhalten rechtfertigen?“

Aus dem Lautsprecher drang nur ein gleichförmiges Rausdien, bis Jason nach längerer Zeit antwortete. Seine Stimme klang plötzlich müde.

„Meta… das alles tut mir leid. Ich wollte, ich könnte es dir erklären, aber es ist zu spät. Ich werde gesucht und muß das Funkgerät verstecken, bevor die Jäger kommen. Aber ich habe richtig gehandelt, das mußt du glauben. Jede gesellschaftliche Veränderung fordert Opfer, und ich bin mir darüber im klaren, daß meinetwegen Menschen verwundet werden und sterben.

Aber… hör zu, ich kann nicht weitersprechen. Sie sind draußen…“

Im Lautsprecher knackte es, dann herrschte wieder Schweigen.

Kerk und Meta starrten sich ratlos an.

„Hallo, Kontrollraum!“ sagte eine Stimme aus dem Deckenlautsprecher. „Hier ist der Nachrichtenraum. Eben ist eine Notmeldung von Pyrrus eingegangen.“

„Lies vor“, befahl Kerk.

Nach einer kurzen Pause las der unsichtbare Sprecher vor:

„An alle Stationen in Reichweite zur Übermittlung nach Felicity und Pugnacious, Kennung Ama Rona Pi, 290-633-087.

Nachricht folgt. Kerk, wir werden angegriffen. Von allen Seiten. Wir haben die Stadt zum größten Teil aufgegeben.

Niemand weiß, wie lange wir uns noch halten können. Brucco glaubt, daß konventionelle Waffen nichts dagegen ausrichten, weil es ganz neu ist Wir könnten die Feuerkraft eures Schiffs brauchen. Kommt nach Möglichkeit sofort Ende.“

Die Nachricht war über die Bordsprechanlage in sämtliche Räume des Schiffes übertragen worden, und als die Stimme verstummte, waren überall rasche Schritte zu hören. Als die ersten Männer in den Kontrollraum stürmten, richtete Kerk sich auf und erteilte seine Befehle.

„Alle Besatzungsmitglieder auf ihre Stationen. Wir starten so schnell wie möglich. Außenwachen hereinrufen, alle Gefangenen freilassen. Fertigmachen zum Start.“

Es gab keine andere Möglichkeit. Jeder Pyrraner hätte ähnlich reagiert. Ihre Stadt war in Gefahr, zerstört zu werden, war vielleicht bereits zerstört. Sie eilten auf ihre Posten.

„Rhes“, sagte Meta. „Wie können wir ihn erreichen?“

Kerk schüttelte den Kopf. „Gar nicht. Wir lassen die Pinasse für ihn auf der Insel zurück, auf der wir bereits mehrmals gelandet sind. Du sprichst eine Nachricht für ihn auf Tonband und läßt sie vom Sender der Pinasse automatisch ausstrahlen.

Sobald er zu seinem Funkgerät zurückkommt, kann er sie empfangen. Die Pinasse enthält alles, was er zum Leben braucht.“

„Das wird ihm nicht gefallen.“

„Mehr können wir nicht für ihn tun.“

Sie arbeiteten wie besessen. Zurück nach Pyrrus! Ihre Stadt war in Gefahr. Das Schiff startete mit 17 g, und Meta hätte noch stärker beschleunigt, wenn die Triebwerke mehr Leistung abgegeben hätten. Ihr Kurs durch den Hyperraum war der kürzeste — aber auch der gefährlichste —, der sich berechnen ließ. Die unvermeidbare Wartezeit verstrich unendlich langsam; die Pyrraner unterhielten sich nicht, sondern überprüften schweigend ihre Waffen und warteten auf das Ende des Fluges.

Dann kam der Obertritt in den Normalraum. Die Pugnacious raste weiter auf Pyrrus zu und tauchte in die Atmosphäre ein.

Ihr Rumpf erhitzte sich gefährlich, und die Klimaanlage war dieser gewaltigen Belastung kaum noch gewachsen. Die Pyrraner an Bord schwitzten, ohne die Hitze wahrzunehmen.

Alle Bildschirme zeigten, was die Bugkameras aufnahmen.

Dichter Dschungel zog unter dem Schiff vorbei, dann war in der Ferne eine kilometerhohe Rauchwolke zu erkennen. Das Schiff stieß wie ein Raubvogel darauf herab.

Der Dschungel überwucherte jetzt die gesamte Stadt. Ein großer Kreis, der von unzähligen Pflanzen, Ranken und Kriechgewächsen bedeckt war, zeigte noch an, wo der einst unüberwindbare Schutzwall gestanden hatte. Als sie tiefer flogen, sahen sie dornige Lianen, die durch alle Fenster der Gebäude wuchsen. Tiere bewegten sich langsam auf den Straßen, die einst von Menschen bevölkert gewesen waren. Auf dem zentralen Lagerhaus saß ein Klauenhabicht, und das Mauerwerk bröckelte unter seinem Gewicht ab.

Als sie weiterflogen, erkannten sie auch, daß die Rauchwolke von den Trümmern eines Raumschiffs aufstieg.

Anscheinend war es auf dem Raumhafen beim Start überrascht und am Boden festgehalten worden. Die gewaltigen Ranken, die es dort fesselten, waren rauchgeschwärzt und teilweise verbrannt.

Nirgendwo in der zerstörten Stadt zeigte sich menschliches Leben. Nur die Tiere und Pflanzen der Todeswelt waren sichtbar; sie bewegten sich eigenartig langsam und zögernd, seitdem ihr einziger Feind tot war, dessen Haß ihnen neues Leben eingehaucht hatte. Als das Schiff über ihnen hinwegflog, gerieten sie wieder in Bewegung, denn die Gefühle der überlebenden Pyrraner glichen denen der Toten.

„Sie können doch nicht alle tot sein“, meinte Tecca mit erstickter Stimme. „Wir müssen nur richtig suchen.“

„Ich suche die ganze Stadt ab“, versicherte Meta ihm.

Kerk konnte den Anblick dieser Zerstörung kaum ertragen, und als er sprach, schien er mit sich selbst zu reden.

„Wir wußten, daß es eines Tages so enden würde. Deshalb haben wir einen neuen Anfang auf einem anderen Planeten zu machen versucht. Aber wissen und sehen sind zwei verschiedene Dinge. Unsere Freunde und Kameraden haben dort unten gelebt, wir haben dort fast unser ganzes Leben verbracht. Und jetzt ist alles zerstört.“

„Landen wir doch!“ schlug Clon vor. „Wir können angreifen und kämpfen!“

„Wir haben keinen Grund mehr dazu“, erklärte Tecca. „Kerk hat recht — die Stadt ist rettungslos vernichtet.“

Das Mikrophon am Bug nahm Gewehrfeuer auf, und sie steuerten die Stelle an. Aber ihre Hoffnungen wurden enttäuscht — unter ihnen schoß nur ein automatisches MG, das bald keine Munition mehr haben und für immer schweigen würde.

Dann drang eine Stimme aus dem Deckenlautsprecher.

„Pugnacious, hier ist Naxa. Hört ihr mich?“

„Naxa, hier ist Kerk. Wir sind über der Stadt. Wir sind… zu spät gekommen. Was ist geschehen?“

„Viel zu spät“, bestätigte Naxa. „Sie wollten nicht auf uns hören. Wir haben ihnen angeboten, sie an einen sicheren Ort zu bringen, aber sie haben abgelehnt. Nachdem der Schutzwall gefallen war, haben die Überlebenden sich in einem Gebäude verschanzt. Wir konnten einfach nicht länger untätig zusehen.

Jeder hat sich freiwillig gemeldet. Die besten Männer sind mit den Panzerwagen vom Bergwerk in die Stadt gefahren. Wir haben die Kinder gerettet, sie mußten einfach mit, und einige der Frauen, Und die bewußtlosen Verwundeten. Die anderen sind geblieben. Wir sind gerade noch rechtzeitig herausgekommen.

Als alles ruhig geworden war, bin ich mit einigen anderen Rednern in die Stadt zurückgegangen. Wir sind über Leichen hinweggestiegen, bis wir das Gebäude erreicht hatten. Die Zurückgebliebenen waren alle im Kampf gefallen. Wir konnten nur Bruccos Aufzeichnungen retten.“

„Sie wollten es nicht anders“, sagte Kerk. „Wo sind die Überlebenden? Wir müssen sie abholen.“

Naxa gab ihm die Koordinaten und fragte: „Was wollt ihr jetzt tun?“

„Wir melden uns wieder. Ende.“

„Was sollen wir tun?“ erkundigte sich Tecca. „Hier haben wir nichts mehr verloren.“

„Auf Felicity sind wir hilflos, solange Temuchin herrscht“, stellte Kerk fest.

„Wir können ihn umbringen“, schlug Tecca vor.

„Nein, das ist ausgeschlossen“, antwortete Kerk geduldig.

„Darüber sprechen wir später. Wir müssen erst die Überlebenden an Bord nehmen.“

„Wir haben auf der ganzen Linie verloren“, sagte Meta und drückte damit aus, was alle in diesem Augenblick dachten.

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