7.

Es war eine unruhige Nacht gewesen. Er hatte geträumt - irgendwelches wirres Zeug, an das er sich beim Erwachen nicht erinnern konnte, das aber einen unangenehmen Nachgeschmack und einen dumpfen Druck wie von einer noch weit entfernten, aber bereits spürbaren Gefahr hinterließ. Ganz im Gegensatz zu seinen normalen Gewohnheiten blieb er noch ein paar Sekunden liegen, nachdem Herger ihn geweckt hatte. Vor dem Fenster herrschte noch Dunkelheit, aber über der gezackten Schattenlinie der Stadt zeigte sich bereits ein schmaler grauer Streifen. Kälte und Feuchtigkeit waren während der Nacht in das Haus gekrochen, und das Stroh, auf dem er lag, war klamm.

Herger runzelte mißbilligend die Stirn, als er sah, wie Skars Hand instinktiv zum Gürtel fuhr und nach dem Schwertgriff tastete. »Es ist noch da«, sagte er spöttisch. »Nicht einmal ich bin verrückt genug, ein Tschekal zu stehlen, obwohl ich es gerne einmal anfassen würde. Darf ich?«

Skar benötigte einige Sekunden, um zu begreifen, was Herger überhaupt wollte. Irgend etwas stimmte nicht mit seinem Kopf. Seine Gedanken bewegten sich nur träge, und er hatte Mühe, sich überhaupt darauf zu besinnen, wo er war.

Er setzte sich auf, legte die Unterarme auf die Knie und ließ die Hände herabsinken. Sein Rücken war steif, und er spürte schmerzhaft jeden einzelnen Strohhalm, auf dem er gelegen hatte. Er hatte Durst. »Was ist... mit Andred?« murmelte er verschlafen.

Hergers Gesichtsausdruck wurde eine Spur ernster. »Der Heiler war gestern nacht noch hier«, sagte er. »Er wird leben, aber die Hand bleibt steif. Ich fürchte, er wird nie wieder ein Schiff befehligen.« Er bewegte sich unruhig und mit den unsicheren kleinen Gesten eines Mannes, der vergeblich darum bemüht ist, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. »Ich habe ein Frühstück vorbereitet«, sagte er. »Und draußen im Stall steht ein Pferd für dich bereit. Hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?«

Skar fuhr sich müde mit den Händen über das Gesicht. »Was?« erwiderte er. »O ja - sicher. Wir... reden später darüber.« Er stand auf, sah - mehr aus Gewohnheit - aus dem Fenster und blickte einen Moment müde auf das Treiben draußen auf der Straße. In den meisten Häusern brannte - schon wieder oder noch immer - Licht, Männer hasteten vorbei, zum Teil nur als dunkle Umrisse und an ihren Bewegungen zu erkennen, zum Teil mit Fackeln oder kleinen, flackernden Öllampen ausgestattet. Anchor schien niemals ganz zur Ruhe zu kommen.

Eine seltsame Stimmung nahm von ihm Besitz. Obwohl er lange und trotz allem gut geschlafen hatte, ergriff ihn wieder Müdigkeit, eine Müdigkeit ganz eigener Art. Für einen kurzen Moment wurde er sich seines Körpers auf fast schmerzhafte Weise bewußt - er spürte jede Zelle, jeden Quadratzentimeter Haut, und er glaubte auch jeden Schritt zu fühlen, jeden Gedanken, den er seit seinem Weggang aus Ikne gedacht hatte.

Er straffte sich, drehte sich zu Herger herum und deutete mit einer übertrieben heftigen Kopfbewegung zur Tür. »Gehen wir«, sagte er. »Ich bin schon viel zu lange hier.«

Herger lächelte, öffnete die Tür und wartete, bis Skar an ihm vorbei aus dem Zimmer getreten war. Das Haus war so still wie am Vorabend, aber durch die dünnen Wände drang der Lärm der erwachenden Stadt herein, und ein schwacher Geruch nach gebratenem Fleisch hing in der Luft.

»Wie komme ich aus der Stadt?« fragte Skar, nachdem sie wieder den Geschäftsraum erreicht und Herger mit einer einladenden Geste auf die durchgesessene Couch gedeutet hatte.

»Es gibt ein schmales Fluchttor an der Westseite«, erklärte Herger. »Ich habe die Wache bestochen. Du wirst hindurchgelassen, ohne daß man Fragen stellt.«

»Bestochen?« fragte Skar Herger grinste. »Ich bin Geschäftsmann, Satai. Man muß investieren, wenn man Gewinn machen will.«

Skar setzte sich, griff nach dem Fleisch, das Herger ihm anbot, und begann zu essen. Er war nicht sehr hungrig, aber es konnte lange dauern, bis er wieder zum Essen kam. »Es wäre möglich, daß du ein Verlustgeschäft machst«, sagte er kauend.

Herger zuckte gleichmütig die Achseln. »Mal gewinnt man, mal verliert man, Skar. Und du hast noch nicht geantwortet.«

Skar sah auf. Herger hielt seinem Blick einen Moment lang stand und sah dann weg.

»Nein?« murmelte Skar. »Habe ich nicht?«

Herger lächelte unsicher. »O doch, du hast. Aber ich gebe nicht auf, weißt du? Wenn du irgendwann einmal Hilfe brauchst, dann erinnere dich an mich.«

Skar aß mit erzwungener Ruhe weiter, ohne zu antworten. Hergers Angebot war verlockend, trotz allem. Elay war weit, und wenn auch nur ein Bruchteil der Gerüchte, die über das Drachenland im Umlauf waren, zutrafen, dann würde der Weg dorthin schwerer werden, als es die Wanderung nach Combat und ihre Odyssee über die toten Ebenen von Tuan zusammen gewesen waren.

Aber dann fiel ihm Andred ein, und jeder Gedanke daran, Hergers Hilfsangebot anzunehmen, erschien ihm mit einemmal lächerlich. Er stellte den hölzernen Teller ab, spülte den letzten Bissen mit einem Schluck Wasser hinunter und stand mit einem Ruck auf. »Ich habe schon viel zu vielen Unglück gebracht«, sagte er. »Und ich bin viel zu lange hiergeblieben. Laß uns gehen.«

Herger zögerte. Er schien noch etwas sagen zu wollen, aber ein Blick in Skars Augen überzeugte ihn davon, daß jedes weitere Wort nur Zeitverschwendung war. »Vielleicht hast du recht«, murmelte er nach einer Weile. »Je eher du aus der Stadt heraus bist, desto besser. Für uns beide.« Er wandte sich um, hantierte eine Weile an einer offenstehenden Kiste herum und reichte Skar einen zusammengerollten dunkelbraunen Umhang. »Zieh das an«, sagte er.

Skar griff nach dem Mantel, wickelte ihn auseinander und betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Die Kleidung eines Sekal?« fragte er zweifelnd.

»Warum nicht? Auf diese Weise spricht dich wenigstens niemand an. Und wenn du aus der Stadt bist, kannst du ihn ja wegwerfen. Nun mach schon. Und gib acht, daß niemand deine Waffen sieht. Ein Sekal mit einem Schwert ...« Er grinste, lehnte sich gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. Das dünne Hemd spannte sich deutlich über seinen Muskeln. Er war kräftiger, als Skar bisher geglaubt hatte.

Skar legte den Mantel neben sich, schnallte - sichtlich zögernd - den Waffengurt ab und drehte ihn sorgfältig zusammen. Hergers Blick heftete sich auf sein Schwert.

»Darf ich es ... einmal in die Hand nehmen?« fragte er zögernd.

Skar sah ihn einen Herzschlag lang durchdringend an. Dann zog er die schlanke Klinge aus der Scheide und reichte sie Herger. Der Schmuggler griff zögernd nach dem Schwert, hielt es an Griff und Spitze und drehte es bewundernd. »Eine phantastische Waffe«, murmelte er. »Man sagt ihr wahre Wunderdinge nach. Stimmt es, daß sie Stahl schneidet?«

Skar mußte gegen seinen Willen lächeln. In diesem Moment kam ihm Herger wie ein großes Kind vor. »Eine Waffe ist immer nur so gut wie der Mann, der sie führt«, sagte er. »Aber du hast schon recht - es ist ein phantastisches Schwert. Es gibt nicht sehr viele davon.«

Herger nickte, faßte den Griff mit beiden Händen und täuschte einen Angriff vor. Die schlanke Klinge schnitt silberne Blitze aus der Luft.

»Es ist sehr leicht«, sagte Herger verblüfft. »Man spürt es kaum. Woraus ist es gemacht?«

Skar streifte den Mantel über, befestigte die schmucklose Metallspange vor der Brust und zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich ...« Er sprach nicht weiter. Für einen winzigen Moment sah er nicht mehr das Schwert in Hergers Hand, sondern eine andere, identische Klinge, schlank, silbern und zerbrochen, das schmale Heft geborsten wie Eis...

Er verscheuchte die Vision, zog den Umhang straff und schlug die Kapuze hoch.

»Es wird Zeit«, sagte er. »Gib mir das Schwert, und dann gehen wir.« Er hob die Hand, trat einen Schritt auf Herger zu - und erstarrte.

Herger wich mit einem blitzschnellen Schritt zurück, drehte die Waffe herum und richtete die Spitze der Klinge auf Skars Gesicht. »Nein, Skar«, sagte er.

Skar blinzelte, eher verblüfft als wirklich erschreckt.

»Was soll das heißen?«

Herger schluckte. In seinem Gesicht zuckte ein Nerv, aber sein Blick blieb fest. »Nein heißt nein«, wiederholte er. »Ich werde dir das Schwert nicht geben. Und wir werden auch nicht von hier weggehen. Es tut mir leid.«

Skar lachte, leise, unsicher und gekünstelt. »Mach dich nicht lächerlich, Herger«, sagte er. »Du weißt, daß du keine Chance gegen mich hast. Auch nicht mit einem Schwert.«

»Das braucht er auch nicht«, sagte eine Stimme hinter ihm. Ein Faustschlag zwischen die Schulterblätter hätte Skar nicht härter treffen können. Er kannte die Stimme, sie und den Mann, dem sie gehörte. Er hatte sie zweimal gehört, einmal draußen auf See, das andere Mal gestern abend, im Hafen.

Langsam, mit erzwungenen, steifen Bewegungen drehte er sich um und sah den Thbarg an. Gondered trug noch den gleichen Mantel wie am vergangenen Abend. Sein Goldhelm funkelte wie ein böses Dämonenauge.

»Sagte ich nicht, daß wir uns wiedersehen?« fragte Gondered mit einem dünnen, flüchtigen Lächeln. Skar blickte ihn sekundenlang durchdringend an und drehte sich dann wieder zu Herger um.

»Wieviel hat er dir bezahlt?« fragte er.

Hergers Blick flackerte unsicher. »Ich ... hatte keine Wahl«, sagte er. Seine Stimme klang leise, beinahe flehend, und das Schwert in seinen Händen begann unmerklich zu zittern. »Er hat mich gezwungen, Skar. Ich ... mußte dich ihm ausliefern, wenn ich Andreds Leben retten wollte.«

Skar lächelte böse. »Narr! Glaubst du wirklich, daß er dich oder Andred am Leben läßt? Ich hätte dich für klüger gehalten.« Herger erbleichte, und in seinem Blick erschien ein neuer Ausdruck - Zweifel, Furcht, aber auch allmählich aufdämmerndes Erkennen. »Du ...«

»Genug jetzt!« fiel ihm Gondered ins Wort. Er trat vollends hinter dem Kistenstapel, hinter dem er versteckt gewesen war, hervor, schlug mit einer raschen Bewegung seinen Mantel zurück und zog sein Schwert aus dem Gürtel. Sein Gesicht wurde hart. »Gibst du auf, oder soll ich dich gleich hier töten?« fragte er kalt.

Skar wich um eine Winzigkeit zur Seite, verlagerte sein Körpergewicht auf das linke Bein und spannte sich. Er hörte, wie Herger hinter ihm in Position ging.

»Du bist mutiger, als ich dachte, Gondered«, sagte Skar. »Ich hätte nicht geglaubt, daß du allein kommst.« Er spannte sich, langsam, damit die Bewegung nicht trotz des Mantels auffiel. Seine Hände pendelten lose vor dem Körper; eine harmlos, täuschend harmlose Haltung, die trotzdem jeden, der etwas von der Kampftechnik der Satai verstand, gewarnt hätte.

Aber Gondered gehörte entweder nicht zu diesen Menschen - oder er war noch überheblicher, als Skar bisher geglaubt hatte. Seine Lippen verzogen sich zu einem abfälligen Lächeln. Das Schwert in seiner Hand zuckte hoch und schnitt ein paarmal durch die Luft. Die Bewegung wirkte hölzern. Gondered hätte vermutlich selbst gegen einen Nicht-Satai keine sonderlich gute Figur abgegeben.

»Wer sagt dir, daß ich allein bin?«

Skar lächelte. »Oh, ich bin sicher, daß das Haus umstellt ist«, sagte er spöttisch. »Wie viele Männer hast du mitgebracht? Hundert? Oder noch mehr?«

»Genug«, sagte Gondered hart. »Jedenfalls genug, um mit dir fertig zu werden.«

»Du ... solltest nicht versuchen, dich zu wehren«, sagte Herger stockend zu Skar. »Du hast keine Waffe.«

Skar drehte sich beinahe gemächlich um, musterte Herger einen Sekundenbruchteil und trat einen Schritt auf ihn zu. Herger zuckte zusammen und brachte das Schwert hoch. Skar täuschte mit der Linken an, griff mit der anderen Hand zu und riß ihm die Waffe aus der Hand.

»Wie du siehst«, sagte Skar gelassen, »stimmt das nicht ganz.« Er schenkte Herger ein flüchtiges Lächeln, wandte sich dann wieder zu Gondered um und sah ihn mit einer Mischung aus Herablassung und Bedauern an.

»Ich fürchte, ich habe einen Fehler gemacht, Herger zu vertrauen«, sagte er im Plauderton. »Aber du auch, Gondered.« Gondered schwieg. Sein Gesicht blieb unbewegt, aber sein Blick hatte viel von seiner Selbstsicherheit verloren. Er zitterte.

»Vielleicht komme ich hier nicht mehr lebend raus«, fuhr Skar fort. »Und vielleicht erfüllt sich dein Wunsch, daß ich zur Hölle fahre, Thbarg - aber wenn, dann befinde ich mich in guter Gesellschaft dabei.«

Gondered wich einen halben Schritt zurück. Sein Blick irrte ungläubig zwischen Skars Waffe und Herger hin und her. Die spielerische Leichtigkeit, mit der Skar dem Hehler das Tschekal entrissen hatte, schien ihn mehr beeindruckt zu haben, als wenn er Herger getötet hätte.

Irgend etwas stimmt hier nicht, wisperte eine Stimme hinter Skars Gedanken. Gondered ist ein Feigling, vergiß das nicht. Er wäre nie allein hierher gekommen.

Gondered wich bis zur Wand zurück und hob das Schwert ein wenig höher. »Keinen Schritt näher!« sagte er drohend. »Du hast keine Chance.«

»Ach?« grinste Skar.

Gondered wollte etwas erwidern, aber er kam nicht mehr dazu. Skars Tschekal zuckte vor, hackte mit einer unglaublich schnellen Bewegung nach Gondereds Waffe und prellte sie ihm aus der Hand. Der Thbarg stieß einen krächzenden Laut aus, wich einen Schritt zur Seite und hob schützend die Unterarme vor das Gesicht.

Skar lachte leise.

»Sag mir einen Grund, Thbarg«, sagte er, »einen einzigen Grund, warum ich dich nicht töten sollte.«

Gondered nahm langsam die Hände herunter. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren, aber sein Blick wirkte noch immer hochmütig, ja beinahe spöttisch. Skars Mißtrauen wuchs.

»Vielleicht«, sagte Gondered betont ruhig, »weil du es nicht kannst.«

Skar schwieg. Seine Sinne arbeiteten plötzlich mit jener seltenen Schärfe, die sich nur im Moment der Gefahr und selbst dann nur für kurze Momente einstellte. Er sah und hörte alles mit phantastischer Klarheit - Gondereds Gesicht, jedes winzige Zucken eines Muskels oder Nervs, das Flackern in seinem Blick, Hergers Atemzüge, die leisen Geräusche der Männer, die draußen vor dem Haus Aufstellung genommen hatten.

Gondereds Gesicht begann zu zerfließen. Seine Gestalt flackerte, als stünde er hinter einer Wand unsichtbaren treibenden Nebels. Stoff raschelte. Sein Helm rutschte ein Stück nach vorne, als schrumpfe sein Kopf auf geheimnisvolle Weise zusammen. Er wankte, hob die Hände und schlug sie vor das Gesicht. Ein seufzender, fast schmerzhafter Laut kam über seine Lippen. Er taumelte, prallte gegen die Wand und rutschte an ihr herab.

Jedenfalls war es das, was Skar in der ersten Sekunde zu sehen glaubte. Aber dann erkannte er, daß er sich täuschte. Gondered brach nicht zusammen - er schrumpfte. Der ganze Vorgang nahm nicht mehr als zwei, allerhöchstens drei Sekunden in Anspruch, aber als Gondered die Hände herunternahm, waren es nicht mehr seine Hände, und als er triumphierend zu Skar hinaufstarrte, waren es nicht mehr seine Augen, deren Glitzern Skar zu verhöhnen schien.

»Tantor!« keuchte Skar.

Der Zwerg nickte. »So nannte man mich dann und wann«, sagte er. Seine Stimme schien sich verändert zu haben, seit Skar das letzte Mal mit ihm zusammengetroffen war. Sie klang schriller, deutlich härter, und in seinem Gesicht waren neue tiefe Linien erschienen, Spuren von Schmerz und erstarrtem Haß. Er sah nun vollends aus wie ein häßlicher, böser Gnom. »Es freut mich, daß du mich nicht ganz vergessen hast«, sagte er. »Zumindest an meinen Namen kannst du dich noch erinnern.« Er verzog das Gesicht, spuckte angewidert aus und kam mit kleinen, trippelnden Schritten auf Skar zu. Der Goldhelm wackelte auf seinem plötzlich viel zu kleinen Kopf, und der blaue Thbarg-Mantel, der wie eine Schleppe hinter ihm herschleifte, gab ihm das Aussehen einer Witzfigur. Trotzdem spürte Skar plötzlich Furcht, zum ersten Mal, seit er dem Zwerg begegnet war. Tantor hatte sich verändert. Er reichte Skar noch immer kaum bis zur Brust, aber wenn er bisher allenfalls ein wenig unheimlich und verschlagen erschienen war, so konnte Skar nun den Haß, der den Zwerg zerfraß, regelrecht sehen. Der Gnom war eine personifizierte Drohung.

»Eines muß man dir lassen, Skar«, sagte er. »Du bist von einer geradezu aufdringlichen Hartnäckigkeit. Du hättest die Chance nutzen und dich trollen sollen, irgendwohin ans andere Ende der Welt. Vielleicht wärst du dann vor mir sicher gewesen.«

Skar wich einen halben Schritt zurück, obwohl er sich dabei fast lächerlich vorkam. Er wußte, wie gefährlich Tantor war, aber er kannte auch die Grenzen seiner Macht. Er hatte ihn schon einmal besiegt.

»Du hast mich verraten, Skar«, zischte Tantor. »Ich habe mein Leben riskiert, um das deine zu retten, und als Dank hast du mich an Vela ausgeliefert.« Steine Stimme bebte. Seine Hände formten sich zu Krallen, als könne er nur noch mühsam dem Drang widerstehen, sich auf den fast doppelt so großen Satai zu stürzen. »Weißt du, was sie mit mir gemacht hat, Skar?« fuhr er fort. »Weißt du, was sie mir angetan hat?«

»Nicht genug, wie mir scheint«, sagte Skar. »Immerhin lebst du noch.«

Tantor erbleichte. »Ja«, zischte er. »Ich lebe noch. So wie du leben wirst, noch lange, lange Zeit. Aber du wirst mich anflehen, dich zu töten, Skar, das verspreche ich dir. Du ...«

Skar sprang. Sein Fuß traf Tantors Gesicht, schmetterte den Zwerg wie eine Stoffpuppe gegen die Wand und ließ ihn mit haltlos pendelnden Gliedern daran herabrutschen. Skar fiel, prallte ungeschickt mit der Schulter auf und kam mit einer Mischung aus Schmerzens- und Kampfschrei wieder auf die Füße. Sein Schwert beschrieb einen blitzenden, tödlichen Halbkreis und raste auf Tantors Schädel herab.

Jedenfalls hätte es es tun sollen.

Irgend etwas geschah. Eine unsichtbare, unwiderstehliche Gewalt schien Skar zu ergreifen, zurück- und herumzuschleudern und ihm die Luft aus den Lungen zu pressen. Er schrie auf, ließ sein Schwert fallen und brach mit einem erstickten Keuchen in die Knie. Etwas preßte seine Arme mit mörderischer Kraft gegen seinen Leib. Er sah an sich herab, rang verzweifelt nach Luft und schrie erneut und diesmal vor Schreck auf, als er sah, was geschehen war. Der braune Sekal-Mantel schien zu bizarrem Leben erwacht zu sein. Seine Falten zuckten und bebten, zitterten wie die Haut eines lebenden Wesens. Eine rasche, wellenförmige Bewegung lief durch den braunen Stoff, mehr zu ahnen als wirklich zu sehen, während er sich enger und enger um Skars Körper schmiegte, sich zusammenzog wie nasses Leder, das in der Sonne trocknete, Skars Arme an seinen Leib und die Luft aus seinen Lungen preßte. Skar keuchte, bäumte sich auf und spannte jeden einzelnen Muskel, aber seine Anstrengungen schienen den irrsinnigen Druck eher noch zu verstärken. Der Würgegriff wurde unerträglich. Skar bekam keine Luft mehr. Langsam kippte er zur Seite, schlug schmerzhaft zu Tantors Füßen auf dem Boden auf und warf sich herum. Der Mantel zog sich enger zusammen; der Griff einer unsichtbaren stählernen Klaue, der das Leben aus seinem Körper herauspreßte. Sein Rippen knackten hörbar, während er sich langsam wie eine Feder, die von einer unwiderstehlichen Gewalt zusammengepreßt wird, krümmte.

Tantor schleuderte Helm und Mantel mit einer ungeduldigen Bewegung von sich, kam mit kleinen, trippelnden Schritten auf Skar zu und stemmte die Fäuste in die Hüften. Skar drehte mit letzter Kraft den Kopf und sah zu ihm empor. Das Gesicht des Zwerges hing wie eine häßliche Dämonenmaske über ihm, halb verborgen hinter einem Schleier aus Blut und Schmerzen.

»Er stirbt«, sagte Herger. Seine Stimme klang erschrocken. »Der Mantel erwürgt ihn.«

Tantor nickte. Ein dünnes, böses Lächeln spielte um seine Lippen. »Ich sollte ihn verrecken lassen«, sagte er, »so wie er mich den Geiern zum Fraß vorgeworfen hat.« Er trat zurück, schnippte mit den Fingern und stieß ein halblautes, kompliziertes Wort hervor.

Der Druck auf Skars Brust verschwand so plötzlich, daß es fast schmerzte. Skar schrie auf, warf sich herum und schlug die Hände gegen den Hals. Tantor wich rasch einen Schritt zurück und hob die Hand. »Versuch keine Dummheiten«, warnte er ihn.

Skar blieb sekundenlang reglos liegen, rang keuchend nach Atem und suchte den grausamen Schmerz in seinen Lungen zu bekämpfen. Vor seinen Augen tanzten bunte Kreise und Flecken. Er wälzte sich herum, stemmte sich mühsam auf Hände und Knie hoch und sah Tantor an. Ohne Mantel und Helm wirkte Tantor noch dürrer und bemitleidenswerter als sonst. Seine Gestalt wirkte irgendwie ... verzerrt, und die Haut seiner Hände war grau wie die Haut eines Toten.

Tantor bemerkte seinen Blick. »Sieh mich nur an«, zischte er. »Das ist dein Werk, Satai. Das habe ich bekommen, zum Dank dafür, daß ich dir zur Flucht verholfen habe.« Seine Stimme zitterte, und in den Worten schien ein schwaches Echo des Schmerzes mitzuschwingen, den er empfunden haben mußte. Plötzlich spürte Skar nur noch Mitleid mit ihm.

»Du ... du hast immer noch Angst vor mir, wie?« sagte er keuchend. »Warum tust du dich nicht mit mir zusammen und rächst dich an Vela?«

Tantor lachte, aber es war ein schriller, beinahe hysterischer Laut, der wohl eher an ein Schreien erinnerte.

»Mit dir?« keuchte er. »Danke, Skar - ich habe eine Kostprobe deiner Hilfe bekommen. Wenn ich die Wahl zwischen zwei Verrätern habe, dann bleibe ich lieber auf der Seite des Stärkeren.« Skar richtete sich schwankend auf die Knie auf. Tantor wich einen weiteren Schritt zurück. »Keine Bewegung!« zischte er. »Der Mantel ist aus Seide. Selbst wenn du mich tötest, würde er dich hinterher erwürgen. Er ist auf mich fixiert.«

Skar lächelte. »Du hast dich in Unkosten gestürzt, wie? Hast du solche Angst vor mir?«

Tantor antwortete nicht, aber sein Blick glühte vor Haß. Skar resignierte innerlich. Wenn er jemals eine Chance gehabt hatte, Tantors Vertrauen zu gewinnen, dann hatte er sie an der Grenze des Kristallwaldes verspielt.

»Was hast du jetzt mit mir vor?« fragte er. »Willst du mich zu Vela bringen?«

Tantor schüttelte den Kopf. »Damit du unterwegs eine Gelegenheit findest zu entkommen?« fragte er. »O nein, Skar. Ich gebe zu, daß ich dich unterschätzt habe - wir alle haben dich unterschätzt. Aber ich mache einen Fehler grundsätzlich nur einmal. Du wirst hingerichtet, noch heute. Du wirst ganz offen auf dem Marktplatz von Anchor hingerichtet.«

»Hingerichtet?« wiederholte Skar zweifelnd. »Ihr wollt einen Satai hinrichten lassen?«

Tantor gab ein abfälliges Geräusch von sich. »Satai!« Er spie das Wort aus, als handele es sich um eine Beschimpfung. »Du wirst es nicht mehr erleben, Skar, aber ich kann dir versichern, daß es bald keine Satai mehr geben wird. Ihr haltet euch für den Gipfel von Macht und Weisheit, wie? Ihr glaubt, die Welt würde ohne euch nicht mehr funktionieren, in Barbarei verfallen - ha! Es wird Zeit, daß ihr Satai von eurem hohen Roß heruntergeholt werdet!« Skar setzte zu einer Antwort an, schwieg dann aber. Irgend etwas sagte ihm, daß Tantors Worte ernst gemeint waren. Und es war nicht nur der Haß, der aus ihm sprach.

»Du ... hast Befehl, mich zu töten?« murmelte er.

Tantor nickte. »Was dachtest du? Hast du geglaubt, wir bringen dich im Triumphzug nach Elay?« Er lachte leise, wandte sich um und ging zur Tür. »Wir brauchen dich nicht mehr, Skar«, sagte er, während er ächzend den schweren Riegel zurückschob. »Du warst ein notwendiges Übel, aber jetzt bist du nur noch überflüssig. Und lästig.« Die Tür wurde von außen aufgestoßen. Flackernder roter Fackelschein fiel durch den breiter werdenden Spalt. Skar konnte an Tantor vorbei einen Blick auf ein Dutzend Bewaffneter erhäschen, das draußen vor dem Haus Stellung bezogen hatte. Der Zwerg öffnete die Tür vollends und rief ein paar Worte in einer raschen, unverständlichen Sprache hinaus. Drei der blaugekleideten Krieger lösten sich aus der Gruppe und traten an Tantor vorbei ins Haus. Es waren Thbarg, die gleichen Krieger, die am vergangenen Abend draußen am Kai gewesen waren. Sie gingen rasch an Tantor vorbei, zogen ihre Waffen und nahmen im Kreis um Skar Aufstellung. Skar fiel auf, daß sie sich krampfhaft zu bemühen schienen, den Zwerg nicht direkt anzublicken. Sie wirkten nervös.

»Weißt du, was man mit jemandem macht, der lästig wird?« fuhr Tantor fort, nachdem er die Tür wieder geschlossen und den Riegel vorgelegt hatte. »Man beseitigt ihn.«

»Ihr habt mir versprochen, ihn nicht zu töten«, sagte Herger. Skar drehte den Kopf und sah den jungen Schmuggler an. Hergers Gesicht hatte alle Farbe verloren. Sein Blick irrte immer wieder zwischen Skar und Tantor hin und her, und das Schwert in seiner Hand wirkte deplaciert. Er schien nicht so recht zu wissen, was er überhaupt mit der Waffe sollte.

Tantor wischte seinen Einwand mit einer ungeduldigen Geste beiseite. »Versprochen«, sagte er. »Frag deinen Freund Skar, wie er seine Versprechungen hält.«

»Aber du ...«

»Genug!« fauchte Tantor. »Sei still und bedanke dich lieber bei deinen Göttern, daß ich es mir nicht anders überlege und dich dafür bestrafe, daß du ihm Unterschlupf gewährt hast.«

Herger wurde sichtlich noch bleicher. Die Drohung in Tantors Stimme war nicht zu überhören. »Und ... Andred?« fragte er stockend.

Tantor runzelte in gespieltem Nichtverstehen die Stirn. »Was soll mit ihm sein?« fragte er überrascht. »Er ist ein Verräter wie Skar und wird mit ihm gehenkt. Wenn du willst, lasse ich dir einen Platz in der vordersten Reihe reservieren. Du kommst doch zur Hinrichtung, oder?«

Herger keuchte, machte einen halben Schritt und hob das Schwert. Einer der Thbarg-Krieger vertrat ihm drohend den Weg. Tantor lachte leise. »Du bist und bleibst ein Idiot, Herger«, sagte er gleichmütig. »Aber ich will großzügig sein. Ich habe lange auf diesen Tag warten müssen, weißt du ? Behalte das Schwert und den Waffengurt des Satai. Wer weiß, vielleicht wird das Zeug einmal wertvoll - für einen Trödler. Ich glaube ...«

Von draußen drang ein gellender, schriller Schrei herein. Tantor zuckte zusammen, sah erschrocken zur Tür und gab den drei Thbarg einen Wink. Die Krieger traten näher an Skar heran. Der Schrei wiederholte sich; höher, schriller und verzweifelter diesmal, dann drang ein dumpfes, dröhnendes Geräusch durch das dünne Holz der Tür, ein Laut, als schlüge Fels gegen Metall. Skar richtete sich weiter auf und versuchte auf die Füße zu kommen. Tantor fuhr herum und hob die Hand. Der Mantel zog sich mit einem schmerzhaften Ruck enger um Skar zusammen und ließ ihn erneut auf die Knie sinken.

Der Lärm vor der Tür verstärkte sich. Waffen klirrten, ein Mann schrie in Todesangst. Dann traf irgend etwas gegen die Tür, zerschmetterte den Riegel und das morsche Holz und brach in einem Wirbel von Kalk und fliegenden Holzsplittern in den Raum.

Skar reagierte um den Bruchteil einer Sekunde schneller als seine Bewacher. Er ließ sich zur Seite fallen, zog die Knie an den Körper und stieß mit aller Macht zu. Seine gefesselten Füße trafen Tantor vor die Brust, schleuderten ihn gegen die Wand und ließen ihn halb bewußtlos zu Boden sinken. Jemand schrie. Etwas Gewaltiges, Schwarzes setzte über Skar hinweg, brach wie ein tödlicher Sturmwind aus schwarzem Granit und reißenden Fängen über die drei Thbarg-Krieger herein und riß sie von den Füßen. Es ging zu schnell, als daß Skar wirklich Einzelheiten erkennen konnte. Eine Woge von Schwarz erfaßte die Krieger, rollte über sie hinweg und hinterließ nichts als drei zerschmetterte, blutige Bündel, die kaum mehr als menschliche Wesen zu erkennen waren. Herger stieß einen krächzenden, ungläubigen Schrei aus, wich zur Wand zurück und starrte aus weitaufgerissenen Augen auf das schwarze, steinerne Monstrum. Auch Skar versuchte sich hochzustemmen, aber der Mantel hatte sich so eng um seinen Körper geschlungen, daß er kaum mehr zu einer Bewegung fähig war.

Der Wolf wandte langsam den Kopf. Sein schwarzer Leib glitzerte wie ein Stück lebendig gewordener Nacht. Etwas Dunkles, Körperloses schien das Tier einzuhüllen, eine Aura von Macht und Gewalttätigkeit, die den Wolf begleitete wie ein letzter Hauch der fremden Welt, aus der er gekommen war. Skar versuchte vergeblich dem Blick seiner dunklen, lichtlosen Augen standzuhalten. Er spürte plötzlich, daß es nichts gab, was dem Blick dieser steinernen Pupillen verborgen bleiben konnte. Er spürte auch, daß das Tier so mühelos auf den Grund seiner Seele blickte wie er durch eine Glasscheibe, und daß es all seine Gefühle, Gedanken und Wünsche kannte, über jeden seiner Schritte Bescheid wußte, noch bevor er ihn tat. Der Wolf war vom ersten Tag an auf seiner Fährte gewesen, und er hatte diese Spur nicht für eine Sekunde verloren. Er hatte mit ihm gespielt, ihn gehetzt, so wie ein wirklicher Wolf seine Beute hetzt, bis sie müde und erschöpft ist und er sie ohne große Gefahr schlagen kann. Er hatte zugesehen, wie alles um ihn herum zerbrach, wie jeder Mensch, den er liebte oder dem er wenigstens Sympathie entgegenbrachte, auf die eine oder andere Weise zugrunde ging. Es war nicht so sehr eine Jagd über eine räumliche Entfernung hinweg gewesen, sondern vielmehr eine Hatz durch seine Gefühle, eine Jagd zum Ende der Verzweiflung. Der Tod war nicht genug für die Schmach, die Skar ihm zugefügt hatte. Combats Wächter wollte Rache, und er hatte sie bekommen. Er hatte den Skar, der in die brennende Stadt gekommen und seinen Schatz geraubt hatte, vernichtet, nicht ein-, sondern ein dutzendmal, hatte ihn gehetzt, bis seine Welt, sein Leben, Stück für Stück zerbrochen war, bis aus Skar, dem Satai, ein Mann geworden war, der sich selbst verachtete, haßte.

All dies lag in diesem einen kurzen Blick, dies und noch viel, viel mehr. Die Jagd war zu Ende, hier und jetzt. Skar hatte ihm allen Schmerz zugefügt, den er ihm zufügen konnte, hatte ihn gequält, ohne daß Skar bis jetzt begriffen hatte, wer sein wirklicher Gegner war.

Jetzt würde der ihn töten.

Langsam, aber mit einer Eleganz, die der scheinbaren Schwerfälligkeit seines aus Granit gemeißelten Körpers spottete, drehte sich das gewaltige Tier herum, machte einen Schritt in Skars Richtung und blieb abermals stehen. Sein Rachen öffnete sich. Der Atem der Hölle schien Skar zu streifen.

Es war Tantor, der Skar das Leben rettete. Der Zwerg hatte sich unbemerkt aufgerichtet und einen Beutel aus dem blauen Mantel hervorgeholt. Sein Gesicht war blutüberströmt und geschwollen, und dort, wo er gegen die Wand geprallt war, war ein schmieriger roter Fleck zurückgeblieben. Doch von alldem schien er kaum etwas zu bemerken. Wankend, aber trotzdem hochaufgerichtet und mit festen Schritten trat er über Skar hinweg, breitete die Arme aus und verstellte dem Wolf den Weg.

Das Tier zögerte. Der Blick seiner schwarzen, grundlosen Augen glitt über Tantors Gestalt, taxierte den neuen Gegner. Ein dumpfes Knurren drang aus der gewaltigen Brust des Wolfes. »Sharagey«, sagte Tantor. »Sharagey tehm!«

Waren die Worte Skar auch fremd, so schien der Wolf ihre Bedeutung - oder zumindest ihren Sinn - doch zu verstehen. Seine Ohren zuckten. Skar sah, wie sich die gewaltigen Muskeln des Tieres zum Sprung spannten.

»Nein!« schrie Tantor. »Laß ihn! Er gehört mir!« Mit einem gellenden Schrei warf er sich dem Wolf entgegen, riß die Hand hoch und warf das Pulver, das er bisher darin verborgen gehalten hatte.

Für eine halbe Sekunde schien der Wolf hinter einer glitzernden weißen Wolke zu verschwinden. Eine unsichtbare Woge mörderischer, beißender Kälte rollte über Skar hinweg und ließ seine Haare und Augenbrauen gefrieren. Die Luft war plötzlich von Dampf und knisternder Kälte erfüllt. Auf dem Boden und an den Wänden bildete sich Eis, eine hauchdünne, blitzende Schicht, schimmernd wie millionenfach geborstenes Glas. Die Atemluft schien in Skars Kehle zu gefrieren, und sein Gesicht brannte plötzlich wie Feuer. Der Sekal-Mantel zuckte, zog sich noch einmal wie unter einem gewaltigen Krampf um Skars Körper zusammen und zerbrach wie Glas, als Skar sich instinktiv dagegenstemmte. Skar warf sich herum, hörte Herger schreien und schlug schützend die Hände vor das Gesicht, als ihn eine zweite Kältewelle wie ein Axthieb traf. Tantors Gestalt schien in einen Mantel aus blitzenden Eiskristallen eingehüllt zu sein. Er schrie, aber auch seine Stimme war wie Glas, spröde und geborsten. Der Wolf taumelte. Tantors Zauberpulver hatte seinen Körper erstarren lassen und das matte Schwarz des Granits mit milchig-blinkendem Weiß überzogen und seine Augen in geborstene Spiegelscherben verwandelt. Seine Bewegungen wurden langsamer, eckig, erstarrten schließlich in glitzerndem, gesprungenem Weiß.

Aber nur für einen Moment. Noch bevor Skar sich vollends aus den Resten des Mantels befreit und auf die Füße gestemmt hatte, ging der schwarze Dämon aus Combat zum Gegenangriff über. Winzige gelbe Flammen züngelten aus seinen Nüstern, ließen Eis zu Wasser und Wasser zu Dampf werden, hüllten sein Maul, den Kopf und dann, mit rasender Geschwindigkeit um sich greifend und gleichzeitig wachsend, seinen gesamten Leib ein. Ein berstender Schlag ließ das Gebäude in den Grundfesten erbeben. Von einer Sekunde auf die andere verwandelte sich der Wolf in ein waberndes, flammengekleidetes Schemen, unerträgliche, sengende Hitze verbreitend. Skar taumelte zurück, senkte den Kopf und schlug abermals die Hände vor das Gesicht. Seine Kleider begannen zu schwelen. Er hörte Schreie von Herger und Tantor, aber auch seine eigenen, sah ein glosendes Etwas auf sich zutaumeln und erkannte Tantor, Tantor, der brannte, schrie, seine verkohlten Hände betrachtete und in blindem Schmerz zurücktaumelte. Skar reagierte instinktiv. Mit einem verzweifelten Satz warf er sich zur Seite, wankte an den beiden brennenden, ineinander verbissenen Schemen vorbei und taumelte zur rückwärtigen Wand des Raumes. Von draußen drangen jetzt gedämpfte Schreie herein, das Trappeln zahlreicher Füße, aufgeregte Rufe, das Klirren von Waffen. Skar wurde es plötzlich bewußt, daß seit dem Auftauchen des Wolfes erst wenige Sekunden vergangen waren. Das Erscheinen des Monsters mochte Tantors Männer überrascht und für Augenblicke gelähmt haben, aber schon in kurzer Zeit würde es hier drinnen von Kriegern wimmeln.

Herger wich mit einem gleichermaßen erschrockenen wie ungläubigen Keuchen zurück, als Skar auf ihn zutaumelte. Er hob das Schwert und versuchte ungeschickt, nach Skar zu schlagen, aber der Hieb hätte nicht einmal einem Kind gefährlich werden können. Skar schlug ihm die Waffe aus der Hand, packte ihn grob bei der Schulter und warf ihn gegen die Wand. »Gibt es einen Hinterausgang?« keuchte er.

Herger nickte verkrampft. Der Widerschein der Flammen ließ sein Gesicht noch blasser erscheinen, als es ohnehin war. Skar packte ihn ohne ein weiteres Wort, riß ihn herum und stieß ihn vor sich her. Der Vorhang an der Tür fing Feuer, als sie hindurchrannten.

Skar warf einen Blick über die Schulter zurück. Der Raum hatte sich in ein Chaos aus Flammen verwandelt, aus brodelndem Feuer, das wie unzählige Glieder eines weißglühenden, lodernden Tieres nach Decke und Wänden und den aufgestapelten Waren griff. Irgendwo in seinem Zentrum waren zwei Schatten, dunkle, zu einem unentwirrbaren Knäuel verbissene Körper, die einzeln nicht mehr zu erkennen waren.

»Weiter!« keuchte Skar, als Herger stehenbleiben wollte. Der Schmuggler stolperte blindlings weiter, wich vor dem Raum, in dem Skar die Nacht verbracht hatte, zur Seite und deutete auf eine weitere, nur angelehnte Tür. Das Schreien und Waffenklirren hinter ihnen wurde lauter, und als Skar sich abermals umblickte, sah er lodernden Feuerschein durch die Tür brechen. In wenigen Augenblicken würde das Haus einem brennenden Scheiterhaufen gleichen. Die Flammen fanden in dem Gerümpel, das Herger über Jahre geduldig gesammelt hatte, reichliche Nahrung und fraßen sich fast mit der Geschwindigkeit einer Explosion weiter.

Sie durchquerten einen niedrigen Raum, der wie der Rest des Hauses bis unter die Decke mit Kisten und Ballen vollgestopft war, liefen durch einen kurzen Flur und standen plötzlich vor einer nur halbhohen verschlossenen Tür. Herger streckte die Hand nach der Klinke aus, führte die Bewegung jedoch nicht zu Ende, sondern prallte mit einem halb überraschten, halb erschrockenen Laut zurück. »Der Schlüssel!« keuchte er. In seiner Stimme schwang Panik mit. »Ich habe den Schlüssel nicht...«

Skar stieß ihn grob beiseite und trat die Tür kurzerhand ein. Das morsche Holz gab schon unter dem ersten Ansturm nach. Die Tür bebte, neigte sich langsam nach außen und schlug krachend auf dem Boden auf. Skar versetzte Herger einen Stoß, der ihn mehr aus dem Haus fallen als aus eigener Kraft gehen ließ, setzte mit einem kraftvollen Sprung nach und ließ sich zur Seite fallen. Seine Vorsicht war nicht übertrieben gewesen. Der Hof war voller Männer. Skars plötzliches Auftauchen schien sie zu überraschen, aber allein ihre gewaltige Übermacht machte diesen geringen Vorteil mehr als nur wett.

Skar rollte herum, parierte einen Schwerthieb und duckte sich, als er sah, wie einer der Krieger seinen Bogen hochriß. Der Pfeil zischte eine knappe Handbreit über Skars gekrümmtem Rücken durch die Luft und zerbrach an der Wand. Ein zweiter Pfeil zischte aus der entgegengesetzten Richtung heran, riß eine blutige Schramme in Skars Oberarm und ließ ihn zurücktaumeln.

Dann waren sie über ihm - sieben, acht von Tantors Männern, die gleichzeitig und wild entschlossen auf ihn eindrangen und ihn zurücktrieben. Skar wehrte sich verzweifelt, aber er spürte, daß er kaum eine reelle Chance hatte. Seine Gegner waren keine gedungenen Mörder und Straßenräuber, sondern Krieger, Männer, die fast ebenso gut mit ihren Waffen umzugehen wußten wie er und genau wußten, wie gefährlich der Mann war, dem sie gegenüberstanden. Und er hatte einfach nicht genug Platz, um seine überlegene Kampftechnik so anzuwenden, wie es notwendig gewesen wäre.

Schritt für Schritt wurde er zurückgedrängt. Die Hiebe und Stiche prasselten immer rascher auf ihn herab, und mehr als einer durchbrach seine Deckung. Schon nach wenigen Sekunden blutete er aus zahlreichen schmerzenden Wunden. Er spürte bereits, wie seine Kräfte nachließen. Er schlug zu, duckte sich, parierte mit einer verzweifelten Bewegung drei, vier Hiebe gleichzeitig und tötete mit einem blitzschnellen Konter einen Krieger, dessen Platz aber beinahe augenblicklich von einem anderen eingenommen wurde. Schließlich stand er mit dem Rücken zur Wand, eingekreist von fast einem Dutzend Thbarg. Seine Hände zitterten. Ein Stich hatte seine Seite aufgerissen; der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen.

»Gib auf, Satai!« keuchte einer der Thbarg. Die Männer wichen zurück - kaum mehr als einen halben Schritt, gerade genug, um aus der Reichweite seines Schwertes zu sein -, aber der Halbkreis aus Schwertern und Dolchen, in dessen Zentrum er sich befand, lockerte sich nicht.

»Gib auf!« sagte der Mann noch einmal. »Du hast keine Chance mehr!«

Skar rang keuchend nach Atem. Das Gesicht des Mannes war bleich. Er blutete aus einem häßlichen gezackten Schnitt auf der Wange, und das Schwert in seinen Händen zitterte. Er hatte Angst. Aber Gegner, die Angst haben, das hatte Skar in langer schmerzlicher Erfahrung erlernt, waren die gefährlichsten.

Aus dem Haus drang ein gellender Schrei, ein Laut, wie ihn Skar schon unzählige Male gehört hatte, ohne daß er jemals seinen Schrecken verloren hätte. Der Todesschrei eines Menschen. Tantors Schrei.

Für eine endlose, schreckliche Sekunde legte sich Schweigen wie ein erstickender Mantel über den winzigen Hinterhof. Selbst das Atmen der Männer war nicht mehr zu hören. Der Thbarg erbleichte noch mehr, sah unsicher zu der zerborstenen Tür, durch die Skar gekommen war, und senkte das Schwert um eine Winzigkeit. Ein dumpfes, polterndes Krachen ließ das Haus erbeben, ein Geräusch, als breche etwas Gewaltiges, Großes rücksichtslos durch Wände und Balken. Ein Teil des Daches sackte lautlos nach innen, und der Himmel flammte plötzlich im grellroten Widerschein lodernden Feuers. Der Boden zitterte.

Skar ließ sich einfach zur Seite fallen. Zwei, drei der Krieger rissen in einer instinktiven Bewegung ihre Waffen hoch und drangen erneut auf ihn ein, aber ihre Reaktion kam zu spät.

Der Faustschlag eines zornigen Gottes traf das Gebäude. Die Rückwand barst in einer Explosion von Steinen, Kalk, Holzsplittern und Flammen auseinander. Die Männer schrien auf, brachen, von wirbelnden Trümmerstücken oder Flammen getroffen, zusammen oder suchten ihr Heil in der Flucht. Ein flammenspeiendes schwarzes Ungeheuer brach aus dem Gebäude hervor, ein zorniger Gott, gekleidet in einen Mantel aus Haß und dem Feuer der Sterne. Skar schlug schützend den Unterarm vor die Augen, als der Wolf mit einem gewaltigen Satz über ihn hinwegsprang. Der Boden dröhnte, als das steinerne Ungeheuer zwischen den Kriegern aufprallte. Ein Ring aus Flammen strebte mit trügerischer Langsamkeit von dem Wolf weg über den Hof, erfaßte zwei, drei Thbarg und verwandelte sie in lebende Fackeln. Skar tastete blind nach seinem Schwert, stemmte sich hoch und wankte los. Die Hitze schlug wie eine glühende Pranke nach ihm und ließ ihn aufschreien.

»Skar! Hierher!«

Hergers Stimme ging im Schreien der Männer und dem Brüllen der Flammen beinahe unter. Skar blieb stehen, sah sich gehetzt um und erkannte den Schmuggler am gegenüberliegenden Rand des Hofes. Herger stand geduckt unter einer niedrigen, halb offenstehenden Tür, gestikulierte verzweifelt mit beiden Händen und schrie etwas, das Skar nicht verstand. Ein Thbarg taumelte auf ihn zu, brennend, brach in die Knie und starb, ehe er die halbe Strecke zurückgelegt hatte.

Skar erwachte endlich aus seiner Erstarrung. Hinter ihm wütete der Wolf wie ein blutrünstiger Todesengel unter den Thbarg, die seinem ersten Ansturm entgangen waren, aber der Kampf konnte nur noch Sekunden dauern. Skar rannte los. Herger fuhr herum und verschwand im Dunkel hinter der Tür. Skar erreichte den Durchgang, warf sich mit einem verzweifelten Sprung hindurch und glitt auf dem nassen Kopfsteinpflaster aus.

»Zum Stall, Skar!« brüllte Herger verzweifelt. Skar erkannte ihn nur als undeutlichen Schemen im grauen Licht der heraufziehenden Dämmerung. Er sprang wieder auf, hetzte, ohne sich noch ein weiteres Mal umzublicken, hinter ihm her und holte ihn mit wenigen Schritten ein.

Herger deutete auf ein flaches, strohgedecktes Gebäude zwanzig Meter vor ihnen. Skar nickte, lief schneller und warf sich mit aller Macht gegen die Tür. Ein betäubender Schmerz zuckte durch seine Schulter, aber der Riegel gab unter dem ungestümen Anprall nach und zerbrach; die Tür flog krachend nach innen und prallte gegen die Wand. Skar taumelte, vom Schwung seiner eigenen Schritte vorwärtsgerissen, ein Stück weit in den Stall hinein, versuchte stehenzubleiben und glitt ein weiteres Mal aus. Der Stall roch nach Heu und Schweiß und Pferdemist, und die Tiere, die beiderseits der Tür in schmalen, hölzernen Verschlagen untergebracht waren, begannen unruhig zu schnauben und mit den Hufen zu stampfen.

Herger langte keuchend neben der Tür an, griff mit der Linken nach dem Pfosten und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Verschlag direkt neben dem Eingang. »Die ... die beiden dort«, stieß er schweratmend hervor.

Skar sprang auf, verlor erneut das Gleichgewicht und fing den Sturz im letzten Moment ab. Für einen zeitlosen, schrecklichen Augenblick begann sich der Stall vor seinen Augen zu drehen; Übelkeit und Schwindel ergriffen ihn. Er wankte, griff haltsuchend um sich und bekam etwas Warmes, Weiches zu fassen. »Warte«, keuchte Herger, »ich helfe dir.«

Das Schwächegefühl wurde stärker. Skars Knie drohten nachzugeben. Er merkte kaum, wie Herger den Verschlag aufriß und die beiden Pferde ungeduldig an den Zügeln hervorzerrte. Eine Hand berührte ihn an der Schulter, riß ihn mit erstaunlicher Kraft auf die Füße und stieß ihn vorwärts. Das Pferd tauchte wie ein massiger schwarzer Schatten aus den wallenden Nebelschwaden vor seinen Augen auf. Er griff blind nach dem Sattelknauf, zog sich mit letzter Kraft empor und tastete nach den Zügeln. Das Pferd scheute, warf den Kopf zurück und schlug aus. Seine Hufe trafen das Holz eines Verschlages und zerschmetterten es. »Skar!« Hergers Stimme zitterte vor Panik, überschlug sich fast. »Verdammt noch mal, reiß dich zusammen!«

Skar hob mühsam den Kopf und sah Herger an. Der Hehler war ebenfalls in den Sattel gestiegen und deutete wild nach draußen. Sein Gesicht war verzerrt; eine entstellte Grimasse, die kaum mehr Ähnlichkeit mit einem menschlichen Gesicht zu haben schien. Skar hörte die Worte, aber es dauerte lange, endlos lange, bis ihm ihr Sinn klarwurde.

»Wir müssen weg!« keuchte Herger.

Skar nickte, aber die Bewegung war nur ein blinder Reflex seines Körpers. Das wattige Grau der Dämmerung vor der Stalltür wich allmählich flackerndem, blutigem Feuerschein. Ein gellender Schrei wehte zu ihnen herein. Über dem Hof von Hergers Haus lag ein lodernder Schirm aus weißer und gelber Helligkeit; Feuerschein, der direkt aus den tiefsten Schlünden der Hölle emporzuwabern schien. Das Feuer Combats, dachte Skar, von seinem Wächter hierher, ans andere Ende der Welt getragen, um ihn zu verbrennen ...

Der Gedanke riß ihn endgültig aus seiner Lethargie. Er richtete sich im Sattel auf, sammelte noch einmal alle Kraft und preßte dem Pferd die Schenkel in die Seiten. Das Tier schnaufte erschrocken, machte einen Satz und preschte los.

Seite an Seite jagten sie aus dem Stall hinaus.

Hinter ihnen griffen die Flammen allmählich auf die benachbarten Häuser über. Als sie aus der Gasse hervorbrachen und auf die Hauptstraße Anchors hinausgaloppierten, sah Skar sich noch einmal um. Hergers Haus brannte wie eine Fackel. Und davor, vor dem Hintergrund der lodernden Feuerwand überdeutlich auszumachen, stand ein zottiger schwarzer Schatten.

Загрузка...