»Er lebt immer noch«, sagte Herger leise. »Aber das dürfte er nicht.«
Skar zog den Sattelgurt fest, streichelte flüchtig die feuchten Nüstern des Pferdes und ging zweimal um die beiden Tiere herum, um sich vom ordentlichen Sitz der Zügel und Sättel zu überzeugen. Es wurde bereits hell. Im Osten zeigte sich ein dünner, flackernder grauer Streifen am Horizont, und der Schnee schien wie unter einem geheimnisvollen inneren Licht zu strahlen, so daß die Sicht bis hinunter zum Fluß klar war. Das Feuer brannte noch immer, aber die Flammen waren klein und gelb und spendeten kaum noch Wärme. Sie hatten fast das gesamte Holz aufgebraucht; ein kümmerlicher Rest hing zusammengeschnürt an Hergers Sattel, kaum genug für ein einstündiges Feuer. Sie würden dem Fluß wieder bis zu der Stelle zurück folgen müssen, an der sie zum ersten Mal auf ihn getroffen waren. Ein Ritt von zwei Tagen, um eine Distanz von hundert Schritt zu überwinden ... Aber es wurde auch nicht besser, wenn sie sich darüber beklagten.
Skar schnallte seinen Waffengurt ab, hängte ihn an den Sattelknauf seines Pferdes und ging zu Herger und dem Quorrl zurück. Der Schuppenkrieger hatte sich nicht mehr gerührt, sondern war wieder in ein tiefes Koma gesunken. Ein Schlaf, aus dem er wahrscheinlich nicht mehr erwachen würde. Trotzdem hatten sie - gewarnt durch das, was Skar passiert war - seine Hände und Füße mit kräftigen Lederstreifen zusammengebunden. »Was hast du gesagt?«
Herger sah auf. »Er dürfte nicht mehr leben«, wiederholte Herger. »Nicht bei diesen Verletzungen.«
Skar seufzte und unterdrückte ein Gähnen. Er war müde - weder er noch Herger hatten viel Schlaf gefunden. Er war erst gegen Morgen eingeschlafen, aber schon nach kurzer Zeit schweißgebadet und mit der dumpfen Erinnerung an einen Alptraum wieder aufgewacht.
Er nickte, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen und sah erst Herger, dann den Quorrl nachdenklich an. »Ich weiß«, sagte er. »Aber er weiß es anscheinend nicht.«
»Und was tun wir?«
»Ihn mitnehmen«, antwortete Skar gleichmütig. »Was sonst?«
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Herger erschrocken. »Du würdest ihn umbringen, wenn du ihn auf ein Pferd binden würdest.«
»Und was schlägst du vor?« gab Skar zurück. »Wenn wir ihn hierlassen, dann leidet er vielleicht noch Tage. Und wir können nicht bleiben, bis er sich erholt hat oder gestorben ist.« Skar hatte lange über die Frage nachgedacht, über diese und andere - die Nacht war lang genug gewesen. Der Gedanke gefiel ihm so wenig wie Herger, doch sie hatten kaum eine andere Wahl.
»Aber das ist Wahnsinn!« protestierte Herger. »Willst du ihn tagelang mitschleppen, bis er endlich stirbt?«
Skar sah Herger kühl an. »Ich werde ihn jedenfalls nicht hier zurücklassen, damit ihn die Geier bei lebendigem Leibe auffressen«, sagte er.
»Dann müssen wir ihn töten«, sagte Herger. »Wir können ihn nicht mitnehmen.«
Skar schwieg einen Moment. Herger hielt seinem Blick stand, aber Skar sah deutlich, welche Überwindung es ihn kostete. »Vielleicht hast du recht«, murmelte er. »Hier.« Er ging in die Hocke, zog den schmalen Wurfdolch aus dem Stiefel und hielt ihn Herger auffordernd hin.
Herger betrachtete die Waffe stirnrunzelnd. »Was soll ich damit?«
»Ihn töten«, antwortete Skar. »Das wolltest du doch, oder?« Herger wich instinktiv zurück und besah den Dolch mit einer Mischung aus Schrecken und Abscheu. »Aber ...«
»Wenn du der Meinung sein solltest, daß es meine Aufgabe ist, ihn umzubringen, täuschst du dich«, sagte Skar hart. »Es war deine Idee - also nimm ihn.« Er winkte mit dem Dolch. »Nimm ihn und schneide ihm die Kehle durch. Ich werde dich nicht hindern. Und ich werde auch kein Wort darüber verlieren. Aber verlang nicht von mir, daß ich es tue. Ich habe lange genug die Drecksarbeit für andere verrichtet.« Er stand mit einem Ruck auf, schleuderte Herger die Waffe vor die Füße und ging zu den Pferden zurück. Er beherrschte sich nur noch mit Mühe. Hergers Verhalten hatte ihn in eine rasende, grundlose Wut versetzt - obwohl er ganz genau gewußt hatte, was passieren würde. Aber er wollte einfach nicht mehr. Er hatte geglaubt (nein, nicht geglaubt - sich einzureden versucht), daß Herger anders war als die anderen, daß er in ihm nicht nur einen gedungenen Mörder sehen würde. Aber natürlich war es nicht so. Für Herger war dies alles hier nichts als ein Abenteuer, etwas, in das er halb freiwillig, halb gegen seinen Willen hineingeschlittert war und aus dem er das Beste zu machen versuchte. Für Herger war er nichts als ein Satai, ein Mann, vor dem man Furcht oder bestenfalls jene Art von Respekt, die auf Furcht basierte, empfand, und von dem man annahm, daß das Töten für ihn etwas Alltägliches war. Gab es denn niemanden auf dieser Welt, der begriff, daß er ein Mensch war, der Schmerz und Trauer und Mitleid empfinden konnte wie alle anderen auch? Aber das Gefühl verging so rasch, wie es gekommen war. Er benahm sich kindisch. Vielleicht war ein vier Zentner schwerer Quorrl-Krieger nicht der rechte Anlaß, Mitgefühl zu demonstrieren. Aber vielleicht war es gerade ein solcher Anlaß.
Nach einer Weile trat Herger neben Skar, der den Kopf drehte und den Hehler durchdringend ansah.
»Es tut mir leid«, murmelte Herger niedergeschlagen. Er trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, senkte den Blick und drehte den Dolch unbehaglich in den Händen. »Du hast recht, Skar. Wir können ihn nicht seinem Schicksal überlassen. Hier.« Er gab Skar das Messer zurück, lächelte unsicher und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Pferde. »Wir müssen eine Bahre für ihn bauen«, sagte er.
»Eine Trage«, korrigierte Skar mit einem gutmütigen Lächeln. »Auf einer Bahre transportiert man nur Tote.«
Herger sah ihn einen Herzschlag lang verwirrt an und lachte dann unsicher. »Gut, dann eine Trage. Glaubst du, daß es die Pferde schaffen?«
Skar sah nach Osten. »Ich denke schon«, antwortete er. »Wenn wir uns dicht am Ufer halten, dann ist das Gelände gar nicht so unwegsam.«
Natürlich würden sie noch mehr Zeit verlieren auf diese Weise. Aber es war nicht nur Barmherzigkeit, die Skar bewogen hatte, den Quorrl mitzunehmen. Die Schlacht lag noch nicht lange zurück, und die Toten bewiesen nicht, daß es nicht noch mehr Quorrl in der Nähe gab. Aber das sprach Skar lieber nicht laut aus. Herger war auch so schon nervös genug.
»Machen wir uns an die Arbeit«, sagte Skar. »Ich möchte fertig sein, wenn die Sonne aufgeht.«
Gemeinsam gingen sie an die Arbeit. Es war nicht sehr schwer, eine Trage anzufertigen - das Schlachtfeld bot genug Baumaterial, und sie hatten schon nach kurzer Zeit eine zwar primitive, aber haltbare Konstruktion zusammengebastelt, die selbst dem Gewicht des Quorrl gewachsen sein mußte. Vorsichtig spannten sie die Trage zwischen die Pferde, zurrten sie fest und hoben den reglosen Körper hinauf. Die Tiere begannen unruhig mit den Hufen zu scharren, als der fremde Geruch des Wesens in ihre Nüstern stieg.
»Wir sollten ihn festbinden«, sagte Herger. »Vorsichtshalber. Wenn er aufwacht und um sich schlägt...«
Skar nickte. Er hatte am eigenen Leib erlebt, welche Kraft das Wesen hatte; sein Arm war noch jetzt taub, und wenn er ihn zu rasch bewegte, schoß ein pochender Schmerz durch den Muskel. Er bückte sich, hob die Lederriemen auf, mit denen sie die Trage zusammengebunden hatten, und warf sie nach kurzem Überlegen wieder fort. »Ich suche etwas Festeres«, sagte er. »Die hier zerreißt er wie Papier. Sieh dich inzwischen hier um - vielleicht findest du etwas, das wir gebrauchen können.«
Natürlich war das sinnlos - sie hatten die Trümmer schon am vergangenen Abend nach Lebensmitteln durchsucht, und das wenige, das sie gefunden hatten, war entweder verbrannt oder auf andere Weise verdorben gewesen. Auch die Quorrl mußten gehungert haben. Aber Skar hielt es einfach für besser, Herger auf die eine oder andere Weise beschäftigt zu wissen. Wer etwas zu tun hat, der grübelt weniger.
Skar sah sich unschlüssig um. Er wußte selbst nicht so recht, was er suchte - einen Gürtel, einen ledernen Waffenriemen, irgend etwas, das geeignet war, dem Toben eines Wesens standzuhalten, das fünfmal so stark wie ein normal gewachsener Mann war. Der Kampfplatz bot eine reichliche Auswahl aller möglichen Dinge - die Quorrl mußten eine geradezu unglaubliche Masse von Gepäck mit sich geschleppt haben; Waffen vor allem, aber auch Hausrat, Schmuck, Kleider und Geräte, wie man sie braucht, um Land zu bestellen. Vielleicht waren sie auf einem Beutezug gewesen, als der Tod nach ihnen gegriffen hatte. Aber es war nichts darunter, was für seine Zwecke geeignet war.
Ein paarmal kniete er nieder, nahm dies und das zur Hand und warf es jedesmal fort, um weiterzugehen. Schließlich, schon auf halbem Wege zum Fluß hinunter, fand er das, wonach er gesucht hatte: einen handbreiten, mit metallenen Gliedern verstärkten Gürtel, der stabil genug erschien, einen Ochsen zu halten. Er hob ihn auf, wischte mit dem Handrücken Schnee und verklumpten Matsch von den blinkenden Kupfergliedern und warf ihn sich mit einem zufriedenen Nicken über die Schulter.
Als er sich umdrehte, um zu Herger zurückzugehen, sah er die Spur.
Sie begann am Fluß und war eine schnurgerade Doppellinie, die aus dem Wasser hervorkam, wenige Schritte neben ihm vorbeiführte und dann, einen sanften, nach Westen geneigten Bogen schlagend, hinter den Hügeln jenseits ihres Lagers verschwand. Es war keine menschliche Spur - die Abdrücke waren groß wie eine Hand, aber viel tiefer, als sie selbst ein schwerbeladenes Packpferd hätte hinterlassen können, und ihre Ränder waren seltsam verwaschen, als wäre der Schnee halb geschmolzen und unter dem eisigen Wind sofort wieder erstarrt. Wäre sie kleiner gewesen, hätte es die Spur eines Hundes sein können.
Skars Herz schien einen schmerzhaften Sprung zu machen. Für den Bruchteil einer Sekunde stieg Panik in ihm auf, eine graue, unbezwingbare Furcht, die jeden Ansatz klaren Denkens hinwegspülte. Er fuhr herum, drehte sich ein-, zweimal um seine Achse und griff instinktiv zum Gürtel, ehe ihm einfiel, daß der Waffengurt mit dem Tschekal am Sattel seines Pferdes hing, nur ein paar Schritte entfernt, aber trotzdem unerreichbar.
Der Gedanke brachte ihn wieder in die Realität zurück. Die Spur war mehrere Stunden alt. Wenn der Wolf gekommen wäre, um ihn zu töten, dann wäre er jetzt schon lange nicht mehr am Leben. Trotzdem blieb die Furcht; eine unsichtbare eisige Faust, die ihn umklammert hielt und ihm den Atem abschnürte. Er atmete ein paarmal tief ein, ballte die Fäuste, so fest er konnte, und versuchte das Gefühl zurückzudrängen. Aber sein Herz hämmerte weiter, und das eisige Gefühl in seinem Magen schien eher schlimmer zu werden. Er mußte sich mit aller Macht dazu zwingen, sich herumzudrehen und der Fährte zu folgen.
Sie führte knapp an ihrem Lager vorbei, bog dann nach Westen ab und verschwand hinter den Hügeln. Herger rief etwas, als Skar an ihm vorbeiging, aber er, Skar, achtete gar nicht auf die Worte, sondern ging mit erzwungen ruhigen Schritten weiter, erklomm den Hügel und blieb auf seiner Kuppe stehen.
Er empfand nicht einmal Schrecken - allerhöchstens so etwas wie Verwunderung darüber, daß er nicht von selbst darauf gekommen war.
Die Wolfsfährte ging vor ihm weiter - in direkter Linie den Hügel hinab und den nächsten wieder hinauf. Es sah aus, als hätte das Ungeheuer nicht einmal im Schritt verharrt, um die beiden Krieger zu töten.
Sie lagen in seltsam verrenkter Haltung im Schnee, zwei mehr als zwei Meter große Giganten, in schwarze, stachelbewehrte Hornpanzer gekleidet. Velas Krieger. Tuans Fluch, den sie heraufbeschworen und mit hierhergebracht hatten. Keine Menschen, sondern ... Dinger, leblose Scheusale, deren äußere Form allein deshalb der menschlichen zu ähneln schien, um ihre Vorbilder zu verspotten. Skar hatte es geahnt, als er das Schlachtfeld gesehen hatte, die Spuren eines Kampfes, der nur auf einer Seite Verluste forderte, und er hatte es gewußt, als er den Quorrl von Dämonen hatte reden hören.
Aber er war ein Narr gewesen, sich im Ernst einzubilden, daß sie keinen Wächter zurücklassen würde. Welchen Auftrag hatten sie gehabt? Den, ihn zu töten? Oder nur den, ihn zu beobachten und jeden seiner Schritte zu registrieren? Aber eigentlich blieb es sich gleich - Vela wußte jetzt, daß er hier war; spätestens jetzt. Diese beiden Krieger dort unten waren mehr als ihr verlängerter Arm - sie waren ihre Augen und Ohren gewesen, zwei von Hunderten, die über das gesamte Land verstreut sein mochten und nach ihm Ausschau hielten.
Er atmete tief ein, pumpte die Lungen mit der schneidend kalten Luft voll und versuchte an nichts zu denken. Aber als er die Augen schloß, sah er ein Gesicht vor sich - ein schmales, von glattem, dunklem Haar eingerahmtes Gesicht, dessen Augen ihn spöttisch anblickten. O nein - sie hatte diese beiden Hornkrieger nicht hier zurückgelassen, um ihn zu töten. Noch nicht. Sie mußte gewußt haben, daß er hier war, genau hier, so, wie sie wahrscheinlich die ganze Zeit über genau gewußt hatte, wo er sich aufhielt. Sie spielte noch immer mit ihm. Und vielleicht war auch das, genau dieser Gedanke, den er jetzt dachte, nur ein weiterer Teil dieses grausamen Spieles, vielleicht sollte er glauben, das System durchschaut zu haben, nur um in eine weitere, noch teuflischere Falle zu tappen. Das Spiel wurde ernster und der Einsatz höher. Sie schonte ihn nicht mehr, so wie sie es zuvor getan hatte, aber sie schlug noch nicht mit aller Macht zu. Vielleicht sah sie ihn auch jetzt, beobachtete ihn durch die Augen eines weiteren Dämons, der hinter einem der unzähligen Hügel verborgen sein mochte, und amüsierte sich über seine Hilflosigkeit, den ohnmächtigen Zorn, der seine Seele zerfraß.
»Siehst du mich?« fragte er. Und dann, plötzlich, schrie er mit aller Macht: »Hörst du mich, Vela? Ich weiß, daß du mich hörst und siehst. Ich komme, so wie du es gewollt hast, du Hexe! Ich komme, und ich schwöre dir bei meinem Leben, daß ich dich vernichten werde!«
Natürlich bekam er keine Antwort. Die schneebedeckte Weite vor ihm blieb stumm; unbeteiligt, wie sie es seit Äonen gewesen war.
Nur der Wind heulte leise um die Hügel. Und irgendwo, nicht sehr weit von der einsamen Gestalt auf der Hügelkuppe entfernt, zog ein gewaltiger schwarzer Wolf seine Spur durch den Schnee.