27.

Sie hob die Hand mit dem Stein hoch über den Kopf. Ihr Gesicht verzerrte sich. »Sieh hin, Skar«, keuchte sie noch einmal. »Und dann sag mir, ob es das wert war.«

Der Stein begann zu glühen, rot zuerst, dann gelb und weiß, in einem grausamen, unerträglichen Licht. Skar schrie vor Schmerzen, aber der Hornkrieger hielt ihn unbarmherzig fest und zwang ihn, weiter hinzusehen. Der Kristall loderte wie eine Sonne in Velas Hand, und seine Glut steigerte sich immer weiter, wurde greller, gleißender, bis das Fleisch ihrer Hand durchsichtig wurde und er die Knochen darunter sehen konnte.

Ein dumpfer Schlag ging durch den Boden. Die Erde stöhnte, und irgendwo unter Skars Füßen baute sich ein machtvolles, drohendes Knistern auf. »Sieh es dir an, Skar«, keuchte Vela. »Sieh zu, wie deine Freunde sterben.«

Skar starrte aus schreckensweiten Augen ins Tal hinab. Die Schlucht bebte. Gewaltige Risse und Sprünge durchzogen ihre Wände, und von ihren Rändern lösten sich in immer rascherer Folge Steine und Felsbrocken und regneten auf Menschen und Tiere herab. Hier und da glaubte Skar dunkle, lodernde Rotglut zu erkennen. Ein tausendstimmiger Schrei des Entsetzens wehte durch das Grollen der gemarterten Erde zu ihm herauf. Aus dem geordneten Truppenaufmarsch wurde eine blinde, kopflose Flucht. Es roch plötzlich nach brennendem Stein, und Skar erinnerte sich wieder des unguten Gefühls, das er gehabt hatte, als er unten in den Höhlen gewesen war. Das unterirdische Labyrinth war durch Vulkanismus entstanden. Diese Gänge hatte Feuer gegraben, eine Glut, die längst nicht erloschen war, sondern nur schlief, vielleicht seit Äonen.

Und dann war es vorbei.

Die Erde hörte auf zu zittern, und die Sonne in Velas Hand erlosch wie eine Kerzenflamme, die der Wind ausgeblasen hat. Die Errish stieß einen ungläubigen Laut aus, wankte wie unter einem Hieb und umklammerte den Stein mit beiden Händen.

Er war tot. Das Feuer in seinem Inneren war erloschen, und von einem Moment zum anderen hielt Vela nichts als ein Stück wertlosen Kristalls in Händen.

Ihr Blick bohrte sich in den Skars. »Was hast du getan?« keuchte sie. »Du ...« Ihre Stimme versagte. Sie zitterte, krümmte sich wie unter Schmerzen und warf plötzlich den Kopf in den Nacken. »Tötet ihn!« schrie sie. »Tötet ihn!«

Aber die beiden gewaltigen schwarzen Krieger hinter Skar rührten sich nicht. Ihre Hände lagen noch immer wie stählerne Klammern auf Skars Schultern, doch es war kein Leben mehr in ihnen. Sie waren erstarrt, tot wie der Stein, den Vela in Händen hielt.

Skar streifte die Klauen der schwarzen Giganten ab, ging langsam auf die Errish zu und nahm ihr den Stein aus den Fingern. Sie wehrte sich nicht mehr. Mit dem Feuer in ihrer Hand war auch ihre Kraft erloschen.

Er richtete sich auf, drehte den glitzernden Kristall nachdenklich in der Hand und wandte sich um. Es war alles so schnell gegangen, so einfach und undramatisch, daß er ... ja - er war beinahe enttäuscht. Aber er fühlte keine Angst. Es war vorbei, und in ihm war nur jene betäubende, schmerzhafte Leere, die er oft nach einem Kampf oder einer verlorenen Schlacht verspürt hatte. Vor ihm begann sich ein Schatten zu formen: Nebel, die aus dem Nichts kamen, einen gewaltigen schwarzen Umriß bildeten und zu einem Körper wurden. Es sah aus wie ein Erscheinen aus dem Nichts, aber es war nicht so. Er war die ganze Zeit bei ihm gewesen, unsichtbar und wachsam. Er hatte gelauert, aber nicht auf ihn, sondern auf das, was jetzt geschehen war, auf seine Chance, auf die Möglichkeit, seine und Skars Kräfte zu vereinen. Auf einen Moment der Unaufmerksamkeit.

Skar war weder überrascht noch erschrocken. Er hatte es gewußt im gleichen Moment, in dem er begriffen hatte, daß die Hornkrieger nicht mehr kommen würden. Sekundenlang blieb er reglos stehen und musterte den gewaltigen schwarzen Wolf. Es war das erste Mal, daß er das Tier wirklich sah. Damals in Combat hatte er nicht mehr als einen flüchtigen Blick erhascht, und später war er ihm nur als Schatten, als huschender Schemen in der Nacht und dunkler Todesbote begegnet. Jetzt, als sie sich gegenüberstanden, sah er, daß er schön war. Sein schwarzes Fell glänzte wie polierter Marmor, und unter der Haut zeichneten sich perfekt geformte, kräftige Muskeln ab. Skar war niemals einem Wesen begegnet, bei dem sich Kraft und Eleganz auf solch perfekte Weise vereinigt hätten.

Er verspürte weder Furcht noch Schrecken, als er sich dem Wolf näherte. Das Tier stand reglos vor ihm, ein Gigant aus Muskeln und ungebändigter Kraft, starr, ohne zu atmen, ohne auch nur die winzigste Bewegung zu machen. Sein Henker, der ihn gehetzt hatte bis ans Ende der Welt und ihn jetzt gestellt hatte. Aber das einzige, was Skar fühlte, war Erleichterung. Er betrachtete den Tod jetzt nur noch als Erlösung.

Zwei Schritte vor dem Wolf blieb er stehen, legte den Stein ins Gras und richtete sich wieder auf. Es war nicht mehr als ein Symbol. Combats Wächter hatte die Macht, die der Stein gehabt hatte, längst wieder an sich genommen, und der Stein war jetzt nicht mehr als ein glitzerndes, wertloses Ding.

Der Wolf kam langsam näher. Die mächtige schwarze Schnauze senkte sich, berührte den Stein und rollte ihn wie ein Spielzeug durch das Gras. Der Blick der dunklen Augen des Wolfes bohrte sich in den Skars. Und hinter Skars Stirn begann eine Stimme ein lautloses Wort zu formen, ein Wort in einer Sprache, die so alt war wie diese Welt und das er trotzdem verstand. Es war nur dieses eine Wort, aber es erklärte alles: HERR Und jetzt, endlich, begriff er.

Vela lag im Gras und weinte, als er zu ihr zurückkehrte. Sie war verkrümmt, als hätte sie Schmerzen. Die Hände lagen schützend auf ihrem Leib. Skar kniete neben ihr nieder, hob sie vorsichtig auf und legte die Hand unter ihr Kinn. Sie machte eine schwache Abwehrbewegung, fast als hätte sie Angst, daß er sie schlagen könnte. Ihr Blick flackerte, als sie die Augen öffnete und ihn ansah.

Skar spürte wieder jenes seltsame zärtliche Gefühl in sich und widerstand im letzten Moment der Versuchung, die Hand zu heben und ihre Wange zu streicheln. Er wußte jetzt, daß es nichts als Mitleid war. Es war niemals mehr gewesen.

»Es ist vorbei«, sagte er.

Velas Blick löste sich von seinem und richtete sich auf den Wolf. Skar sah den Schrecken in ihren Augen und spürte, wie sich ihre Fingernägel in seine Haut gruben.

»Keine Angst«, murmelte er. »Er wird dir nichts tun.« Jetzt nicht mehr, fügte er in Gedanken hinzu. Das Ding, das von Vela Besitz ergriffen hatte, war vernichtet. Weder seine Kraft noch die Macht Combats allein hatten ausgereicht, den unseligen Geist der Vergangenheit, den Vela heraufbeschworen hatte, zu bezwingen. Skar hatte es nicht gewußt, aber sie waren die ganze Zeit Verbündete gewesen, er und Combat, der Geist dieser Stadt, der Geist der Alten, der sich in diesem gewaltigen schwarzen Wolf manifestiert hatte. Aber sie hatten erst vereint sein müssen, um die Macht des Steines zu brechen. Er hatte nicht einmal etwas von dem Kampf gespürt; vielleicht ein blitzschnelles Gefühl, als griffe etwas in ihn hinein, bediente sich seiner Kraft; Kräfte, die ihm selbst nicht zur Verfügung standen.

Er erhob sich und sah ins Tal hinunter. Reiter kamen näher, Dutzende, wenn nicht Hunderte. An ihrer Spitze galoppierte eine breitschultrige, in mattes Schwarz gekleidete Gestalt.

»Kannst du aufstehen?« fragte Skar.

Vela nickte, aber er mußte ihr die Hand halten, damit sie wirklich auf die Füße kam und aus eigener Kraft stehen konnte. Ihr Blick folgte dem seinen.

»Keine Angst«, sagte er. »Sie werden dir nichts tun. Ich werde ihnen alles erklären.«

»Sie werden mir nichts tun?« fragte Vela ungläubig. »Und du? Du wirst mich nicht... nicht töten?«

Skar schüttelte traurig den Kopf. Sie hatte nichts verstanden, gar nichts. Es gab keinen Grund, sie zu töten. Der Stein war nicht die Macht, sondern der Fluch Combats gewesen, nicht sein Schatz, sondern sein Gefangener, die Essenz alles Bösen, alles Schlechten, das es jemals in dieser Stadt gegeben hatte, und kein Mensch konnte die Kraft aufbringen, mit dem dunklen Erbe eines ganzen Volkes zu ringen und diesen Kampf zu gewinnen. Warum sollte er sie töten? Sie hatte alles verloren, woran sie jemals geglaubt hatte, und sie würde nie wieder dieselbe sein, als die er sie kennengelernt hatte, damals in Ikne. Vela, die Hexe, existierte nicht mehr. Sie war so tot wie dieser vermeintliche Stein der Macht, und die Frau neben ihm war nichts als ein blasses Abbild von ihr, geschlagen, besiegt, für immer zerbrochen.

»Nein«, sagte er nach einer Weile. »Ich werde dich nicht töten, Vela. Niemand wird das tun. Ich werde die Sumpfmänner bitten, dich zum Berg der Götter zu bringen. Der Rat der Satai wird am besten wissen, was mit dir geschehen soll. Und mit dem ... Kind«, fügte er nach einem unmerklichen Zögern hinzu.

Vela nickte, aber er glaubte nicht, daß sie seine Worte wirklich verstanden hatte. »Der Stein«, sagte sie plötzlich. »Was wirst du damit tun?«

»Nichts«, antwortete er. »Es gibt nichts mehr zu tun, Vela. Wir haben uns getäuscht, von Anfang an. Es war nie das, was wir alle darin gesehen haben. Der Schlüssel zur Macht der Alten ist mit ihnen untergegangen, und es ist gut so. Der Stein der Macht hat niemals existiert. Es war Combats Fluch, Vela. Aber er ist besiegt.« Er sah sie einen Moment ernst an, schloß die Hand um den Stein und atmete hörbar ein.

Irgendwo in seiner Seele war plötzlich ein leises, wohlvertrautes Flüstern, eine Stimme, die ihm sagte, daß er sich irrte, daß in dem Stein noch immer Macht war, und daß er sich ihrer bedienen konnte, wenn er es wollte. Und er spürte, daß sie recht hatte. Sowenig, wie es so etwas wie das Böse an sich wirklich gab, sowenig würde der Kampf dagegen jemals ganz gewonnen werden können. Der Stein lebte noch immer, irgendwie, hatte noch immer Macht, nicht mehr jene Art von Macht, die Vela in ihm gesehen hatte, aber eine andere, vielleicht stärkere.

Skar schloß die Hand um den Stein und drückte mit aller Gewalt zu. Als er sich wenige Augenblicke später umdrehte, war der Platz neben ihm leer. Der Wolf war verschwunden.

»Komm«, sagte er. Er ergriff Vela am Arm, drehte sich herum und ging Del und den anderen entgegen. Während sie den Hügel hinunterschritten, öffnete er die Faust.

Zwischen seinen Fingern rieselte feiner weißer Staub hervor und verwehte im Wind.


ENDE der Trilogie um den ›Stein der Macht‹

Загрузка...