18.

Draußen war es noch hell, aber in der Höhle herrschte noch immer das graue Zwielicht vom vergangenen Abend. Der Vorhang aus Pflanzenfasern sperrte das Tageslicht aus und schuf hier drinnen einen Bereich ewiger Dämmerung, den auch das Licht der unzähligen Pechfackeln nicht nennenswert aufhellen konnte. Der scharfe Raubtiergestank der Daktylen durchdrang die Luft, und ab und zu wehte der krächzende Schrei eines der Flugsaurier wie ein Laut aus einer fremden Welt herüber.

Skar fror. Er trug Stiefel, Lendenschurz und seinen ledernen Harnisch, darüber einen dünnen, schwarzen Mantel, den ihm Legis gegeben hatte. Aber das Kleidungsstück diente wohl eher zur Tarnung als zum Schutz vor der Kälte.

»Wir sind soweit«, sagte Legis.

Skar schrak aus seinen Gedanken hoch und wandte sich mit einer übertrieben hastigen Bewegung zu der Errish um. Herger und er waren am Eingang zurückgeblieben, während Legis und Mork zu den Daktylen in den hinteren Teil der Höhle hinübergegangen waren, um die Tiere für den Flug auszuwählen und vorzubereiten. »Sobald die Sonne untergeht, können wir aufbrechen«, setzte Legis hinzu.

»Wir?« fragte Herger lauernd. »Wer ist das?«

»Ihr zwei, ich, Mork und ein paar von unseren Männern.«

»Und wie viele Quorrl?«

Legis warf Skar einen hilfesuchenden Blick zu, aber Skar schwieg. Er hatte Herger mehr als deutlich gesagt, was er von seinem übersteigerten Mißtrauen hielt, und er hatte einfach keine Lust mehr, sich ständig für den Hehler zu entschuldigen. Wenn Herger es für gut befand, sich Ärger einzuhandeln, dann sollte er es tun. Skar hatte allmählich einen Punkt erreicht, an dem es ihm gleichgültig war, was mit Herger geschah.

»Fünf«, sagte Legis nach kurzem Zögern.

Herger schnitt eine Grimasse. »Ihr seid wirklich sehr um unsere Sicherheit besorgt«, murrte er. »Oder habt ihr vielleicht Angst, wir könnten es uns anders überlegen und unterwegs die Richtung wechseln?«

In Legis' Gesicht arbeitete es. Ihre Augen flammten, aber der Zornesausbruch, den Skar erwartete, blieb aus. Sie schüttelte bloß den Kopf, sagte ein leises, abfällig klingendes Wort, das weder Skar noch Herger verstand, und wandte sich abrupt ab, um zu den Daktylen zurückzugehen.

Skar folgte ihr, aber die Errish ging so schnell, daß sie den Verschlag mit den großen Flugechsen schon fast erreicht hatte, als er sie einholte.

»Ehrwürdige Frau«, sagte er, bewußt die offizielle, ehrenvolle Anrede wählend, »wartet.«

Legis blieb stehen, starrte einen Moment wortlos vor sich hin und drehte sich dann mit sichtlichem Widerwillen um.

»Es ... tut mir leid«, begann Skar unsicher. »Du darfst es Herger nicht übelnehmen. Er ...«

»Er hat Angst«, fiel ihm Legis ins Wort. »Und er hat recht - wenigstens von seinem Standpunkt aus. Das war es doch, was du sagen wolltest, oder?«

Skar war verwirrt. »Nun ...«

»Wir sind allein, Skar«, fuhr Legis fort. »Weder Laynanya noch Mork oder einer der anderen Quorrl ist in der Nähe. Du brauchst dich also nicht zu verstellen.« Sie lächelte flüchtig, aber es war eher eine Miene des Schmerzes. »Warum bist du nicht ehrlich, Satai? Du behauptest, nichts mit Herger zu schaffen zu haben, aber du vergißt, daß wir deine Gedanken kennen. In Wahrheit magst du ihn, weil er jemandem ähnelt, den du gekannt hast. Und in Wahrheit denkst du so wie er. Nur daß er den Mut - oder die Dummheit, das kommt darauf an - besessen hat, seine Gedanken laut auszusprechen.«

Skar atmete hörbar ein. Er war Legis gefolgt, um sich bei ihr zu entschuldigen, nicht aus Furcht oder Höflichkeit, sondern weil er spürte, daß die Errish vielleicht von allen im Lager die einzige war, die es wirklich ehrlich mit ihm meinte. Selbst bei Laynanya war er da nicht sicher. Aber er begann allmählich einzusehen, wie schwer es war, mit einem Menschen zu reden, der seine geheimsten Gedanken und Gefühle kannte.

»Er hat recht«, sagte Legis noch einmal. »Und du weißt es. Wenn du Erfolg hast, gewinnen wir. Wirst du getötet, verlieren wir nichts. Der Entschluß, euch dabei zu helfen, nach Elay zu kommen, war schon gefaßt, bevor du aufgewacht bist.« Sie seufzte. »Ich dürfte dir all das nicht sagen, aber ich glaube, du weißt es ohnehin.« Sie ging langsam weiter, tauchte unter den straff gespannten Seilen, die die Höhle in zwei Bereiche teilten, hindurch und blieb neben einer Daktyle stehen. Skar ging dicht neben ihr, obwohl ihn die Nähe der riesigen Sauriervögel noch immer mit einem vagen Gefühl der Furcht erfüllte. Etwas war in den winzigen Augen der Daktylen, das nicht dorthin gehörte. »Du bist nicht der einzige, der sich selbst belügt, Skar«, fuhr Legis fort. Sie sah ihn nicht an, sondern schien ganz darauf konzentriert, den schuppigen Hals der Echse zu streicheln. Sie sprach schnell, und Skar hatte den Eindruck, daß es weniger eine Antwort auf seine Frage war, sondern daß sie sich etwas von der Seele redete. Vielleicht hatte sie nur darauf gewartet, daß er ihr Gelegenheit gab, ihm all dies zu erzählen. »Wir belügen uns alle. Mit jedem Atemzug, den wir tun. Wir wiegen uns in Sicherheit und glauben, daß es genügt, die Augen zu schließen, um die Wahrheit zu verleugnen.« Sie schüttelte den Kopf, drehte sich nun doch zu ihm herum und lehnte sich mit einer erschöpften Bewegung gegen die Echse, die unwillig krächzte, aber stehenblieb.

»Ich nehme mich da nicht aus, Skar. Du hast Laynanya gehört. ›Wir wollen keinen Krieg, aber wir wehren uns, wenn man ihn uns aufzwingt...‹ Das ist Unsinn. Wir sind geflohen, Skar, aber sie weiß so gut wie ich oder irgendeiner hier im Lager, daß es zum Kampf kommen wird, und das bald.«

»Dann wißt ihr auch, daß ihr keine Chance habt«, sagte Skar hart.

Legis nickte. Ein Schatten schien über ihre Züge zu huschen. »Wenn wir es bis gestern nicht gewußt hätten, jetzt wissen wir es. Wir kämpfen nicht gegen einen Feind aus Fleisch und Blut, sondern gegen die Macht der Alten.«

»Vela ist noch immer ein Mensch«, widersprach Skar. »Einen Gegner zu überschätzen ist so gefährlich wie ihn zu unterschätzen, glaub mir.«

»Ein Mensch?« wiederholte Legis fragend. »Sicher. Aber ein Mensch, der mehr Macht in Händen hält als je ein einzelner Mensch zuvor. Nicht einmal die Alten selbst, Skar. Sie waren viele, ein ganzes Volk, und sie brauchten Äonen, um den Stein zu schaffen. Vela hat ihn erst seit wenigen Wochen, und doch ist sie schon mächtig genug, den Lauf der Jahreszeiten zu ändern und ein ganzes Volk unter ihren Willen zu zwingen. Die Quorrl sind nicht freiwillig in unser Land eingefallen.«

Skar zuckte mit den Achseln. Legis wollte nicht wirklich eine Antwort, das spürte er. Sie wollte reden, aber nicht mit ihm, sondern nur reden. Die Daktyle wäre ein genauso guter Zuhörer gewesen wie er. Trotzdem sagte er nach kurzer Überlegung: »Immerhin sind die Quorrl jetzt bei euch. So ganz scheint das mit der Beherrschung eines ganzen Volkes nicht zu klappen.« Er hatte absichtlich leichthin gesprochen, aber der lockere Tonfall verfehlte seine Wirkung. Legis wirkte im Gegenteil noch nachdenklicher. »Die wenigen, die noch am Leben sind, meinte ich, Skar. Sie waren mehr als fünftausend - fünftausend Krieger, und dazu kamen die Alten und die Kinder. Jetzt lebt nur noch eine Handvoll von ihnen. Die, die du hier siehst, und vielleicht noch einmal so viele, die in kleinen Gruppen durch das Land ziehen und verzweifelt versuchen, irgendwie zu überleben. Sie sind nicht mehr von Wert für sie, Skar. Sie hat erreicht, was sie wollte. Die paar, die übrig sind, hat sie weggeworfen wie ein Werkzeug, das nicht mehr richtig arbeitet.«

»Du sprichst sehr bitter über jemanden, von dem du vor ein paar Stunden nicht einmal wußtest, daß es ihn gibt«, sagte Skar leise.

»Du täuschst dich, Skar. Wir wußten ihren Namen nicht, und wir wußten nicht, wer sie ist. Aber wir wußten, daß auf dem Thron von Elay nicht mehr die sitzt, die wir gewählt haben.«

Skar schwieg eine Sekunde lang. Da war etwas an Legis' Worten, das ihn störte, ein Fehler in ihrer Argumentation, der ihm schon während seines Gespräches mit Laynanya aufgefallen war, ohne daß er ihn wirklich erkannt hatte.

»Wieso ... hat es außer euch niemand gemerkt?« fragte er. »Ob die Margoi für euch eine Göttin ist oder nicht - euch ist aufgefallen, daß etwas mit ihr nicht mehr stimmt, und ...«

»Und den anderen nicht, meinst du?« Legis machte eine undefinierbare Geste, stieß sich von der Daktyle ab und trat mit vor der Brust verschränkten Armen auf ihn zu. Skar unterdrückte den Impuls, die gleiche Entfernung zurückzuweichen. Was zwischen ihnen war, war noch lange kein Vertrauen, aber wenigstens eine Vorstufe davon. Er wollte es nicht durch eine unbedachte Geste zerstören. »Wir alle«, sagte Legis betont, »haben es nicht gemerkt. Es war Laynanya - sie ist... etwas Besonderes, weißt du. Wäre das alles nicht passiert, dann ... dann wäre sie wahrscheinlich die neue Ehrwürdige Mutter geworden. Sie ist so talentiert wie die Margoi, vielleicht noch talentierter. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.«

»Wegen des Kindes?« fragte Skar.

Legis nickte. »Ja. Sie ist entehrt. Jedenfalls würdest du es so nennen. Selbst wenn wir siegen und Elay wieder frei wird, wird sie nie wieder die sein, die sie war.«

Skar zögerte. »Warum ... warum macht sie es nicht weg?« fragte er.

Legis erschrak sichtlich. »Du ...« Sie stockte, suchte für die Dauer eines Atemzuges nach den richtigen Worten und schüttelte dann entschieden den Kopf. »Wir Errish retten Leben«, sagte sie mit vollkommen veränderter Stimme. »Wir vernichten es nicht.«

»Auch unerwünschtes Leben nicht?«

»Es gibt kein unerwünschtes Leben«, widersprach Legis. »Das Kind, das sie in sich trägt, mag ein Kind der Gewalt sein, ein Bastard, der gegen ihren Willen gezeugt wurde - aber es ist ein unschuldiges Wesen, Skar. Wir haben nicht das Recht, ihm sein Leben zu nehmen, bevor es begonnen hat.« Es war ein eingelernter Text, irgendeine Strophe aus irgendeinem ihrer komplizierten Gesetze, die sie vor Jahrzehnten vielleicht einmal auswendig gelernt hatte und herunterbetete, ohne wirklich noch darüber nachzudenken; das spürte Skar. Aber es war auch Wahrheit darin, und er widersprach nicht, obwohl ihm die Entgegnung auf der Zunge lag. Er war beinahe froh, als hinter ihnen schwere, stampfende Schritte laut wurden und Morks Erscheinen ihr Gespräch unterbrach. Der Quorrl trug noch immer Rüstung und Waffen, hatte sich aber - wie sie alle - zusätzlich in einen nachtschwarzen, dünnen Mantel gehüllt. Das Kleidungsstück schien die düstere Ausstrahlung, die von seinem Reptiliengesicht ausging, noch zu unterstreichen.

»Wir sind bereit«, sagte er übergangslos. »Die Sonne geht unter, und der Weg nach Elay ist weit.«

Legis nickte. »Gut. Die Tiere sind gefüttert?«

Mork lächelte knapp und neigte in einer spöttisch übertriebenen Verbeugung das Haupt. »Selbstverständlich, Ehrwürdige Frau«, sagte er. »Aber ich würde vorschlagen, daß wir nicht noch mehr Zeit mit Reden verschwenden, sondern jetzt aufbrechen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, gab er einem seiner Männer einen Wink und rief ein Wort in seiner dunklen, gutturalen Sprache. Skar sah sich unwillkürlich nach Herger um. Der Hehler war hinter dem Eingang stehengeblieben; zu weit, als daß Skar sein Gesicht erkennen konnte. Aber er war nervös. Nervös und ängstlicher, als er zugeben wollte. Und auch Skar selbst erging es kaum anders, aber er konnte sich wenigstens einreden, daß es die Vögel und der Gedanke an den stundenlangen Flug durch die Nacht waren, die ihm Unbehagen bereiteten.

Er straffte sich, fuhr in einer nervösen, überflüssigen Geste glättend über seinen Mantel und wandte sich an den Quorrl. »Können die Tiere das Gewicht von zwei Menschen eine so weite Strecke tragen?«

»Nein«, sagte Mork ungerührt. »Wir werfen euch unterwegs ab, wenn die Last zu groß wird.« Er bleckte in einer erschreckenden Imitation eines menschlichen Grinsens sein Raubtiergebiß und deutete mit der Linken zum Ausgang. »Wir warten auf euch.« Er wandte sich ab und wollte gehen, aber Skar hielt ihn grob am Arm zurück. »Ich bin nicht Herger«, sagte er wütend. »Du kannst deine Scherze mit ihm treiben, wenn es dir beliebt, aber nicht mit mir. Also?«

Mork starrte ihn einen Augenblick wortlos an, riß plötzlich seinen Arm los und legte die Linke auf den Schwertgriff.

»Die Daktylen tragen euer Gewicht, Skar« grollte er. »Und wir werden Reservetiere mitnehmen - für den Rückweg. Ist deine Frage damit beantwortet?« Legis berührte Skar am Arm und warf ihm einen warnenden Blick zu, aber er ignorierte sie.

»Nein«, sagte er. »Es sei denn, du sagst mir endlich, was ich von dir zu halten habe, Quorrl. Ich reise nicht gern mit Männern, von denen ich nicht weiß, ob sie Verbündete oder Feinde sind.«

»Das eine schließt das andere nicht aus, oder?« entgegnete Mork. »Aber ich will dir deine Frage beantworten, Satai: Ich bin ein Quorrl, und du bist ein Mensch. Menschen haben meinen Stamm ausgelöscht, und Menschen haben mein Volk unterdrückt, solange ich denken kann. Erwartest du Zuneigung von mir?«

»Und trotzdem kämpfst du jetzt gemeinsam mit Menschen -«

»Gegen Menschen«, fiel ihm Mork erregt ins Wort. »Auch der Löwe und die Antilope flüchten gemeinsam, wenn die Steppe brennt, erinnerst du dich? Wir werden beide bedroht, aber das macht uns nicht zu Brüdern. Ich habe mit angesehen, wie mein Vater und mein Weib erschlagen wurden, von Menschen, Skar. Ihr haltet uns für Tiere und werft uns Brutalität vor, aber ich habe Dinge mit ansehen müssen, die kein Tier einem anderen antun würde, Dinge, die Männer deines Volkes getan haben, Satai.« Er schwieg einen Moment, atmete hörbar ein und krampfte die Hand noch fester um den Schwertgriff. Sein Atem ging schneller, und Skar konnte fühlen, wie erregt der riesige Quorrl war, auch wenn er sich alle Mühe gab, beherrscht zu wirken.

»Ich glaube nicht, daß es dir oder mir nutzt, wenn wir uns jetzt gegenseitig Vorwürfe machen. Auch ich habe Greuel gesehen, die von Quorrl begangen wurden.«

»Wer hat mehr getötet, Skar?« fragte ihn Mork. »Quorrl Satai oder Satai Quorrl?« Er schnaubte. »Du wolltest wissen, was du von mir zu halten hast - jetzt weißt du es. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir euch beide getötet, als wir euch draußen auf der Ebene getroffen haben. Aber diese Arbeit nehmen uns jetzt andere ab.«

Er fuhr herum und stapfte davon. Skar sah ihm nach, bis er die Höhle verlassen hatte, schüttelte den Kopf und blickte Legis an. »Ich wollte dich warnen, Skar«, sagte die Errish. »Aber...« Skar winkte ab. »Mir ist ein Feind, den ich kenne, lieber als einer, von dem ich nicht weiß, was ich von ihm zu halten habe«, sagte er.

»Er ist nicht dein Feind«, widersprach Legis. »Er ist... verbittert, aber nicht böse. Sein Stamm wurde vernichtet. Vielleicht werden wir alle so wie er, wenn wir uns noch lange hier verkriechen müssen. Vielleicht sind wir es auch schon und haben es nur noch nicht gemerkt.«

Diesmal, das spürte Skar, erwartete sie eine Antwort; Widerspruch. Aber diesmal schwieg er.

Die Stadt war ein Schatten; ein Gebirge aus Dunkelheit und zu Materie gewordener Nacht, das in unbestimmbarer Entfernung vor dem Himmel aufwuchs und das Land in weitem Umkreis beherrschte. Skar schätzte, daß sie noch mehr als drei Meilen von der ersten der drei hintereinander gestaffelten Mauern entfernt waren, aber er hatte trotzdem bereits das Gefühl, von den gewaltigen Mauern und Türmen erdrückt zu werden. Elay war groß, ungeheuer groß; keine Festung, sondern eine Stadt, die als Festung angelegt und erbaut war. Selbst Ikne hätte gegen dieses Gebirge aus Stein und Dunkelheit wie ein Bauernhof gewirkt.

»Nun?« fragte Legis neben ihm. »Bist du beeindruckt?«

»Eher überrascht«, antwortete er leise. Obwohl sie noch weit von der Stadt entfernt waren und die Nacht und das klagende Geräusch des Windes ihnen Deckung genug gaben, senkte er unwillkürlich die Stimme. Dabei hatte er aber nicht Angst davor, von den Posten oben auf den Wehrgängen oder von einer Patrouille entdeckt zu werden; diese Gefahr bestand kaum. Die Daktylen hatten die letzten Meilen im Tiefflug zurückgelegt, eine Schwadron gewaltiger, lautloser Schatten, die nur mannshoch über dem Boden dahingestrichen und mit der Nacht verschmolzen gewesen waren. Von Legis wußte er außerdem, daß es so etwas wie Patrouillen kaum gab. Es war eher, als befürchte er, die Stadt selbst zu erwecken. Elay war mehr als eine Ansammlung von Häusern und Türmen, und es war nicht nur ihre Größe, die diesen Eindruck hervorrief. Er konnte die Stadt selbst jetzt nicht deutlich erkennen trotz ihrer gewaltigen Ausmaße. Ihre Umrisse schienen beständig zu fließen, auf und ab zu wogen wie nachtdunkle Nebelschwaden, und ein kaum spürbarer Hauch unseliger schwarzer Magie streifte Skars Seele, als er den Panzer, den er um seine Gefühle gelegt hatte, für einen Moment öffnete. Es war, als würde die Stadt leben, als wäre sie nichts als ein gewaltiges, schlafendes Tier. Er begriff plötzlich, warum die Errish ausgerechnet hier ihr Heiligtum errichtet hatten, und warum Elay auch die Verbotene Stadt genannt wurde.

»Überrascht?« Legis' Stimme riß ihn abrupt in die Wirklichkeit zurück. »Du hast es dir anders vorgestellt?«

»Ich habe es mir überhaupt nicht vorgestellt«, sagte Skar. »Aber so auf keinen Fall. Es ist so ...«

»Düster«, half Legis aus. Sie nickte. »Mir ging es ebenso, als ich die Stadt zum ersten Mal sah. Elay erschreckt jeden, der zum ersten Mal herkommt. Sie wurde nicht von Menschen erbaut. Es ist eine Stadt der Alten. Die letzte, die es noch gibt.«

Skar wußte, daß das nicht stimmte. Elay war weder eine Stadt jenes Volkes, das Combat errichtet hatte, noch war es die letzte ihrer Art. Er hatte schon einmal eine solche Stadt gesehen, einen steingewordenen Alptraum aus Schwarz und Fremdartigkeit; aber das war lange her: ein Jahr und ein Leben. Und er hatte plötzlich das Gefühl, der Lösung des Rätsels ganz nahe zu sein.

Doch er sagte nichts von alledem, sondern wandte sich wortlos um und ging zu der Baumgruppe zurück, in deren Schutz die Daktylen gelandet waren. Legis folgte ihm. Sie hatten zwei von Legis' Männern als Kundschafter zur Stadt geschickt. Bis sie zurückkommen würden, konnten sie nichts anderes tun als warten.

Skar mußte wieder die Disziplin bewundern, die die gewaltigen Flugwesen an den Tag legten. Starr wie riesige lederne Statuen saßen sie da, in einem perfekten, nur an einer Stelle offenen Kreis, der eine lebende Schutzmauer für die Menschen und Quorrl in seinem Inneren bildete. Keine der Daktylen gab auch nur das leiseste Geräusch von sich. Die Leistung, die die Quorrl mit der Dressur dieser Bestien vollbracht hatten, stand der der Errish und ihrer Feuerechsen kaum nach.

Ein seltsames Gefühl machte sich in Skars Innerem breit, als er in den Kreis trat und sich wortlos neben Herger zu Boden sinken ließ - keine Erregung, wie es normal gewesen wäre, sondern beinahe das Gegenteil, eine dumpfe, betäubende Entspannung. Er war sich plötzlich seines Körpers so bewußt wie selten zuvor in seinem Leben. Er fühlte jeden Muskel, jeden einzelnen Nerv in seinem Leib; eine Empfindung, die wie eine warme, einschläfernde Woge durch seinen Körper strömte, ein Gefühl, wie er es manchmal schon, wenn auch noch nicht annähernd so stark, vor einem Kampf gehabt hatte. Und ein Gefühl des Endgültigen. Seine Irrfahrt war vorbei. Vela war hier, noch wenige Kilometer entfernt, und er wußte einfach, daß die Entscheidung jetzt fallen würde. Ganz egal, wie dieser ungleiche Kampf ausging - er würde enden, noch bevor die Sonne das nächste Mal unterging. Skar versuchte noch einmal, sich alle Stationen seines Weges vor Augen zu führen, aber seine Gedanken weigerten sich, in geordneten Bahnen abzulaufen, und echte Erinnerungen begannen sich mit Traum und Furcht zu vermischen.

Er schüttelte die Bilder ab, beugte sich vor und nahm etwas von dem kalten Fleisch, das Mork Herger und ihm gegeben hatte. Er war nicht hungrig, aber er würde seine Kräfte dringend brauchen, und sie würden kaum mehr zum Essen oder Trinken kommen, wenn sie erst einmal in der Stadt waren.

Unwillkürlich sah er sich nach Legis um. Weder Laynanya noch sie oder Mork hatten auch nur mit einer Andeutung verraten, wie sie in die Stadt hineingelangen wollten, und Skar hatte bisher stillschweigend angenommen, daß es ein geheimes Tor oder etwas Ähnliches geben würde, durch das er sich einschleichen konnte. Aber jetzt, nachdem er die Stadt gesehen hatte, wußte er, daß das nicht der Fall war.

»Wonach suchst du?« fragte Herger, der seinen Blick bemerkt hatte.

Skar überging die Frage. »Unsere Wege trennen sich hier«, sagte er.

Herger ließ das Stück Fleisch, das er gerade zum Mund führen wollte, verblüfft sinken und starrte ihn an. »Wie meinst du das?« fragte er.

»So wie ich es gesagt habe«, antwortete Skar. Er war nicht zum Reden gekommen während des Fluges. Der eisige Wind und die Furcht hatten seine Lippen gelähmt, aber er hatte Zeit gehabt nachzudenken. Er wußte jetzt, daß es ein Fehler gewesen war, sich nicht schon früher von Herger zu trennen. Eigentlich hatte er es die ganze Zeit über gewußt. Es war nur bequemer gewesen, mit ihm zu reiten.

Er deutete mit einer Kopfbewegung in die Richtung der Stadt. »Wir sind am Ziel«, sagte er. »Du wolltest mich nach Elay bringen, und wir sind da.«

»Und jetzt erwartest du, daß ich hierbleibe und warte, bis du zurückkommst oder auch nicht?« fragte Herger. Seine Stimme zitterte.

»Natürlich nicht«, entgegnete Skar. »Aber -«

»Du irrst dich, Satai«, fiel ihm Herger ins Wort, »wenn du denkst, daß die Sache damit erledigt ist. Ich werde dich begleiten, und wenn du geradewegs in die Hölle marschieren solltest. Du bist mein Kapital, vergiß das nicht. Alles, was ich noch habe, bist du.« Skar schüttelte geduldig den Kopf. »Hör mit diesem Unsinn auf, Herger«, sagte er ruhig. »Ich weiß, daß ich in deiner Schuld stehe, aber -«

»In meiner Schuld?« unterbrach ihn Herger erneut. »Du bist zu bescheiden, Satai. Du gehörst mir - ich habe alles, was ich habe, auf dich gesetzt: mein Leben, mein Vermögen, meinen Ruf. Ich müßte irrsinnig sein, wenn ich dich jetzt gehen ließe.« Er schüttelte entschieden den Kopf, setzte sich gerade auf und wies nach Norden. »Du willst in diese Stadt vordringen. Gut. Ich werde dich nicht daran hindern. Aber ich werde mitkommen.«

Skar wollte auffahren, beherrschte sich aber im letzten Moment. »Du weißt, was mich dort drüben erwartet«, sagte er. »Ich war ehrlich zu dir. Meine Chance, lebend aus Elay herauszukommen, ist nicht sehr groß. Es wäre Selbstmord von dir, mitzukommen. Und es wäre gefährlich für mich.«

»Es war auch gefährlich für mich, dir zu helfen. Und Selbstmord?« Er stieß ein abgehacktes, häßliches Lachen aus. »Du hast es vielleicht noch nicht begriffen, Skar, aber ich bin schon tot. Ich war es in dem Moment, in dem ich dir Unterschlupf gewährte. Du bist der einzige, der mich wieder zum Leben erwecken kann.« Skar seufzte, senkte den Blick und fuhr mit den Fingerspitzen durch den lockeren Sand des Bodens. »Ich kann dich zwingen hierzubleiben«, sagte er nach einer Weile. »Ich -«

»Nein, Satai, das kannst du nicht!«

Skar fuhr überrascht herum. Ein gewaltiger, graugeschuppter Schatten wuchs hinter ihm empor. Skar hatte nicht gehört, daß Mork näher gekommen war. Der Quorrl mußte sich lautlos wie eine Katze angeschlichen haben.

»Ich wüßte nicht, was es dich angeht«, sagte Skar verärgert. »Aber trotzdem - was meinst du?«

»Er wird nicht hierbleiben, weil keiner von uns hierbleibt«, erwiderte Mork ruhig. »Wir gehen alle.« Er schlug seinen Mantel zurück, zog sein Schwert eine Handbreit aus der Scheide und deutete mit dem anderen Arm zur Stadt hinüber. »Ich traue dir nicht, Satai, und ich traue auch diesen Errish nicht. Ich will sehen, was du dort tust, und ich will dabeisein, um es selbst zu tun, wenn du versagst.«

Skar stand langsam auf. Die Spannung, die plötzlich zwischen ihnen lag, war überdeutlich zu spüren. Aber der Quorrl hielt seinem Blick gelassen stand. Seine Schuppen schimmerten im blassen Licht der Sterne wie mattes Metall, und er erinnerte Skar mehr denn je an ein Bündel ungestümer, nur scheinbar gezähmter Kraft.

»Weder Herger noch du oder irgendein anderer werden mich begleiten«, sagte Skar. »Was ich dort drüben zu tun habe, ist allein meine Sache - Quorrl«, fügte er, in absichtlich beleidigendem Tonfall, hinzu.

»Das ist es schon lange nicht mehr, Satai«, erwiderte Mork auf die gleiche Weise. »Du hast unsere Hilfe angenommen hierherzukommen. Und wenn du die Wahrheit gesprochen hast, gibt es vielleicht nur noch diese eine Chance, diese machtbesessene Errish zu töten. Was erwartest du? Daß ich hierbleibe und die Zukunft meines Volkes in deine Hände lege? Wenn du das wirklich glaubst, dann bist du ein Narr, Satai.«

Ihre Stimmen waren immer lauter geworden, und Skar sah sich plötzlich von einem halben Dutzend schweigender Quorrl umringt. Sein Blick huschte nervös über die Reihe breitschultriger, geschuppter Körper und kehrte zurück zu Mork.

Der Quorrl lächelte kalt. »Ich würde es nicht tun, Skar«, sagte er. »Du kannst mich vielleicht töten, aber nicht uns alle.«

Skars Hand krampfte sich um den Schwertgriff. Aber er wußte, daß er tot sein würde, bevor er die Waffe auch nur halb gezogen hätte. Würde er es mit einem Menschen zu tun haben, hätte er vielleicht eine winzige Chance gehabt - aber bei Mork an Ritterlichkeit oder Ehre zu appellieren, war sinnlos. Der Quorrl wußte genau, was er wollte. Er hatte es von Anfang an so geplant. Skar verdammte sich im stillen für seine Gutgläubigkeit. Schon als er Mork das erste Mal gesehen hatte, hätte er gewarnt sein müssen. Der Quorrl hatte ihn nicht hierhergebracht, weil er Skar einen Gefallen tun wollte oder weil es Laynanyas Wille war. Er hatte sofort erkannt, daß ihm mit Skar die Möglichkeit in den Schoß gefallen war, endlich selbst nach Elay zu kommen und den Krieg dorthin zurückzutragen. Laynanya hätte einem direkten Angriff auf die Verbotene Stadt niemals zugestimmt.

»Du weißt, daß das gegen unser Abkommen verstößt«, mischte sich Legis ein.

Der Quorrl lachte leise. Seine Schuppen knirschten wie trockenes Holz, als er sich umwandte und mit zwei, drei raschen Schritten auf die Errish zutrat. »Welches Abkommen?« fragte er höhnisch. »Als wir zusammenkamen, waren wir Gejagte, ihr und wir. Abkommen - ha! Unser Abkommen bestand bisher darin, uns gemeinsam unter der Erde zu verkriechen und darauf zu warten, daß ein Wunder geschieht, Errish.«

Legis fuhr auf. »Ich dulde es nicht, daß -«

»Daß Quorrl mit ihrer Anwesenheit die Heilige Stadt besudeln?« fiel ihr Mork ins Wort. »So, wie es Laynanya all die Zeit nicht geduldet hat? Ihr habt euch geweigert, uns den geheimen Weg nach Elay zu verraten - habt ihr wirklich geglaubt, daß ich das stillschweigend hinnehme? Ich werde nicht zusehen, wie dieser Satai vielleicht unsere einzige Chance vergibt, Rache für die Vernichtung unseres Volkes zu üben, Errish.«

»Elay ist heilig!« widersprach Legis erregt. »Niemand darf die Stadt betreten, der ...«

»Niemand, mit Ausnahme eines Satai, der seine beschmutzte Ehre wiederherstellen will, nicht?« unterbrach sie Mork abermals höhnisch. Legis wollte widersprechen, aber Mork brachte sie mit einer wütenden Geste zum Schweigen. »Ich will diesen Unsinn nicht mehr hören! Euer Gerede von Ehre und Heiligtümern und Gesetzen! Ihr habt mehr als eines unserer Heiligtümer geschändet, und ihr tretet unsere Gesetze mit Füßen. Wir sind Verbündete, und wenn ihr meint, euer Teil des Bündnisses bestünde im Stillhalten und Beten, soll es mir recht sein.« Er schlug wuchtig mit der flachen Hand gegen sein Schwert. »Wir sind in euren Augen vielleicht nicht mehr als Tiere, aber wir sind Tiere, die sich wehren, wenn man sie schlägt. Mit Beten ist noch kein Krieg gewonnen worden, Legis. Mit euren Hexenkünsten vielleicht, aber darauf verstehe ich mich nicht. Worauf ich mich verstehe, das ist das Schwert. Und ich werde es benutzen.«

Skar sah sich unauffällig um. Rechnete er Herger und Legis nicht dazu, dann waren die Kräfte genau gleich verteilt. Die Errish hatte fünf von ihren Männern mitgebracht, und auch Mork gebot über fünf Krieger. Aber es waren fünf Quorrl - gewaltige, schuppige Kampfmaschinen, von denen es eine einzige mit einem halben Dutzend Männer aufnehmen konnte. Er verwarf den Gedanken an einen überraschenden Angriff wieder. Selbst wenn es ihm gelänge, einen oder zwei der Quorrl auszuschalten, ehe sich die anderen von ihrer Überraschung erholt hätten, wäre eine Attacke aussichtslos. Mork hatte alle Trümpfe auf seiner Seite. Und er war bereit zu kämpfen, während Skar - so oder so - bei einem Kampf nur verlieren konnte.

»Laß ihn, Legis«, sagte er. »Du wirst ihn nicht überzeugen. Er hat von Anfang an auf einen Moment wie diesen gewartet.« Sein Blick suchte den des Quorrl.

Mork nickte ungerührt. »Seit der ersten Stunde«, bestätigte er. »Und du wirst mich töten müssen, um mich von meinem Entschluß abzubringen.«

Skar lächelte, nahm in einer betont langsamen Bewegung die Hand vom Schwertgriff und schüttelte den Kopf. »Wenn wir beide morgen noch leben«, sagte er, »reden wir noch einmal darüber. Jetzt sollten wir gehen. Es wird bald hell. Wie kommen wir in die Stadt?«

Legis starrte ihn ungläubig an. »Auf dem gleichen Wege, auf dem wir geflohen sind«, sagte sie. »Aber du willst doch nicht...«

»Was ich will«, unterbrach sie Skar, »spielt im Moment keine Rolle. Zwölf Schwerter können mehr ausrichten als eines.«

»Aber das ist Irrsinn!« begehrte Legis auf, obwohl sie längst eingesehen haben mußte, daß sie Mork nicht mehr von seinem Entschluß abbringen konnte. Ihr Protest war nur noch ein Zeichen ihrer Verzweiflung. »Wir müssen durch die Drachenhöhlen. Die Tiere werden die Quorrl wittern und Alarm schlagen. Ein einzelner Mann hat eine viel größere Chance, unbemerkt einzudringen.«

Skar schüttelte nur schweigend den Kopf.

Eine der Daktylen gab einen halblauten, krächzenden Ruf von sich. Mork sah auf, starrte eine Sekunde lang aus zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit und straffte sich. »Die Kundschafter kommen zurück«, sagte er.

Skar lauschte angestrengt, hörte aber nichts. Der Quorrl mußte über weitaus schärfere Sinne verfügen als ein Mensch.

»Dann sollten wir aufbrechen«, sagte Skar. »Es ist eine Stunde bis zur Stadt, und die Sonne geht bald auf.«

Legis' Lippen begannen zu zittern. Aber sie sagte nichts. Nur ihre Hände gruben sich in einer Geste hilfloser Verzweiflung tief in den schwarzen Stoff ihres Mantels.

Skar schlug die Kapuze seines Mantels hoch, überprüfte ein letztes Mal den Sitz seines Harnisches und des Waffengurtes und setzte sich ohne ein weiteres Wort in Bewegung.

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