Andred saß noch in der gleichen Stellung da, in der Skar ihn zurückgelassen hatte, zusammengesunken und reglos, als hätte er sich die ganze Zeit über nicht bewegt, und sein Blick war so leer wie zuvor. Als Skar neben ihm niederkniete und ihm den blauen Mantel und den schweren Lederhelm in die Hand drückte, zuckte er zusammen, als erwache er aus einem tiefen Schlaf.
»Zieh das an«, sagte Skar hastig. »Rasch. Bevor sie merken, daß die Patrouille nicht zurückkommt.« Er stülpte selbst den Helm über, warf den zerschlissenen Mantel endgültig zu Boden und streifte statt dessen das dunkelblaue Kleidungsstück der Thbarg über. Der Stoff war erstaunlich leicht, obwohl er dick war und gut wärmte, aber der Helm war um ein gutes Stück zu klein und drückte schmerzhaft auf Schläfen und Nasenwurzeln. Skar hatte nicht vor, ihn lange zu tragen.
Andred drehte Helm und Mantel verwirrt in Händen, als sähe er Gegenstände wie diese zum ersten Mal. Skar knurrte ungeduldig, nahm ihm den Helm aus den Fingern und setzte ihn unsanft auf Andreds Kopf. Der Freisegler machte eine schwache Abwehrbewegung, die Skar ignorierte. Skar riß ihm auch noch den Mantel von den Schultern. Erst als er ihm dann den blauen Thbarg-Mantel umlegte und die dünne Metallspange über der Schulter schloß, schien Andred allmählich zu begreifen, was mit ihm geschah.
»Woher ... hast du das?« fragte er stockend.
»Geliehen«, knurrte Skar. »Zwei von Gondereds Männern waren so freundlich, es mir zu geben. Bist du bereit?«
Andred nickte, hob in einer verwirrten Geste die Hand an den Kopf und tastete mit den Fingerspitzen über das rauhe Leder des Helmes. Seine linke Hand hatte sich noch dunkler verfärbt und war jetzt fast schwarz. Aber wenn er Schmerzen hatte, so beherrschte er sich willensstark.
»Glaubst du, wir kommen in dieser Verkleidung durch die Absperrung?« Er sprach langsam und mit großen Pausen, als müsse er sich erst wieder mühsam darauf besinnen, wie man überhaupt redete.
Skar zuckte in gespieltem Gleichmut die Achseln. »Es ist die einzige Chance, die wir haben«, sagte er. »Die beiden Thbarg sind bestimmt nicht aus Langeweile auf dem Kai herumspaziert. Gondered scheint sich nicht sicher zu sein, uns wirklich erwischt zu haben. Wenn wir hierbleiben, dann werden sie uns früher oder später entdecken. Wenn wir nicht vorher erfroren sind. Wir müssen es riskieren.«
Andred nickte, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Du ... du solltest allein gehen«, murmelte er unsicher. »Ohne mich hast du eine Chance.«
Skar lachte leise. »Auf diesen Gedanken kommst du ein bißchen zu spät, Andred. Und er ist überdies falsch - Gondered hat zwei Männer auf Patrouille geschickt. Er würde sich fragen, warum nur einer von seiner Streife zurückkommt.«
»Sprichst du Thbarg?« fragte Andred unvermittelt.
Skar verneinte. »Warum?«
»Was tun wir, wenn wir angesprochen werden?«
Irgend etwas war in Andreds Stimme, das Skar warnte. Er blieb stehen und sah den Freisegler durchdringend an. Andred schien langsam in die Wirklichkeit zurückzufinden - aber es schien eben nur so. Die Logik in seinen Worten war nur vorgetäuscht; ein letztes Aufbegehren, dem der endgültige Zusammenbruch folgen würde, vielleicht in wenigen Augenblicken, vielleicht erst in Stunden, aber bald. Skar zuckte betont gelassen mit den Achseln. »Laufen«, sagte er. »So schnell wie noch nie zuvor.«
Andred lächelte pflichtschuldig. Es wirkte wie das Lächeln einer Statue.
Die Nacht schien kälter zu werden, als sie nebeneinander zum Kai hinaufgingen. Auf Andreds Gesicht war nicht die leiseste Regung zu erkennen, als er die beiden toten Krieger sah, die Skar in den Schatten der Felsen zurückgezerrt hatte. Sie gingen - auf dem gleichen Weg, den die Krieger genommen hätten - am Rand des Schattens entlang, ein wenig schneller als sie, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Skars Hände glitten mit kleinen, nervösen Bewegungen über den Saum seines Mantels. Vorhin, als er im Schatten des Schiffes gelegen und zur Stadt hinübergestarrt hatte, war ihm die Entfernung unendlich groß vorgekommen; jetzt schien sie mit jedem Schritt zusammenzuschrumpfen, als galoppiere er auf einem durchgehenden Pferd.
»Rede«, flüsterte er, ohne Andred anzusehen.
Das Gesicht des Freiseglers war unter dem wulstigen Rand des Helmes fast unkenntlich. Wenn sie nicht direkt angesprochen wurden, dann hatten sie eine Chance. Wenn Gondered nicht auch seine eigenen Leute überwachte. Wenn Andred die Nerven behielt. Wenn ...
Zu viele Wenns, dachte Skar düster. Andred begann zu erzählen, wie Skar es verlangt hatte, sinnloses Zeug, das Skar auch nicht verstanden hätte, wenn er hingehört hätte. Trotzdem nickte er von Zeit zu Zeit und steuerte eine Handbewegung oder ein verhaltenes Lachen bei. Er hatte plötzlich Angst, es zu übertreiben. Man konnte auch zu natürlich sein.
»Der Lagerschuppen dort hinten«, murmelte er, ohne den Blick zu heben. »Der flache Bau zwischen den beiden Silos. Siehst du ihn?«
»Die Tür steht offen«, antwortete Andred. Seine Stimme zitterte, ein ganz klein wenig nur, aber hörbar.
»Wir gehen dicht daran vorbei. Achte auf mein Zeichen.«
Andred nickte. Skar sah ihn noch immer nicht an, aber er spürte die Bewegung, ebenso wie er Andreds Nervosität spürte, die Furcht, die die Gestalt des Freiseglers wie ein unsichtbarer Mantel einhüllte.
Sein Blick wanderte nervös nach rechts. Das Schiff brannte noch, aber es waren nur noch wenige verkohlte Reste, bizarre Skelettfinger, die aus dem schwarzen Hafenwasser herauswuchsen. Sein Feuerschein reichte jetzt jedoch nur noch wenige Schritte auf den Hafen hinaus, und in den Händen der Thbarg-Krieger erschienen die ersten Fackeln. Ein kurzes, scharfes Kommando klang auf; einige von Gondereds Männern hielten in ihren Tätigkeiten inne und begannen sich um ihren Anführer zu scharen; andere zeigten keine Reaktion.
Skar fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Er hatte keine Ahnung, was Gondered gesagt hatte, ob das Kommando auch ihnen - oder den Männern, die sie darstellten - galt. Aber es waren noch dreißig Schritte bis zum Schuppen; zu weit, um losrennen und dann auch noch hoffen zu können, daß sie nicht auffielen.
Er ertappte sich dabei, wie seine Hand unter den Mantel glitt und nach dem Griff des Tschekal tastete. Hastig zog er die Hand zurück, straffte sich und schritt ein wenig schneller aus. Er mußte all seine Kraft aufwenden, um nicht immer wieder über die Schulter zurückzusehen.
Noch zehn Schritte. Für einen kurzen Moment glaubte er eine Bewegung hinter der weit offenstehenden Tür des Lagerschuppens zu erkennen. Aber es war nur ein Schatten, vielleicht auch nur ein Trugbild, das ihm seine überreizten Nerven vorgaukelten. Er sah sich nun doch um. Gondered stand hochaufgerichtet zwischen seinen Männern; sein Goldhelm war selbst bei der schwachen Beleuchtung deutlich zu erkennen. Er sagte irgend etwas, wechselte die Fackel von der rechten in die linke Hand und deutete wild gestikulierend über den Hafen und zum Schatten des Kaperseglers hinüber. Skar glaubte jetzt, eine Anzahl winziger Gestalten an Deck des Schiffes zu erkennen, und für einen Moment war es ihm, als bewege sich der gewaltige Umriß des schwarzen Seglers.
Dann betraten sie den Schuppen. Ihre Schritte riefen plötzlich dumpfe Echos an den unsichtbaren Wänden hervor, und ein unbeschreibliches Gemisch der verschiedenartigsten Gerüche schlug ihnen entgegen: Feuchtigkeit, Moder, verfaulte Lebensmittel und Tuch und tausend andere Dinge, die Skar nicht auf Anhieb erkannte. Beiderseits des Eingangs wuchsen deckenhohe, roh zusammengezimmerte Regale empor, alt und durchgebogen unter der Last der Waren, die sich darauf stapelten. Dahinter, eingebettet in verschwommene Schwärze, erhoben sich weitere Regale, auch sie bis zum Bersten gefüllt und so dicht beieinander, daß dazwischen nur schmale Gänge blieben, kaum breit genug für einen einzelnen Mann.
Sie entfernten sich ein paar Schritte vom Eingang und blieben stehen, als Skar sicher war, daß sie von draußen nicht mehr gesehen werden konnten. Er hätte erleichtert aufatmen können, tat es aber nicht. Die Furcht war ihnen gefolgt, und das Gefühl der Bedrohung war hier drinnen beinahe stärker als draußen. Sie waren in Sicherheit - der Schuppen mußte mehr als nur einen Ausgang haben, und selbst wenn Gondered jetzt, in diesem Moment, merken sollte, daß Skar ihm entkommen war, dann waren sie hinaus und in der Stadt, ehe er auch nur reagieren konnte.
Andred sah sich mit raschen, abgehackt wirkenden Bewegungen um. »Das ist seltsam«, murmelte er.
Skar sah auf. »Was?«
»Diese Waren hier«, fuhr Andred fort.
Skar zuckte mit den Achseln. »Und? Es ist ein Lagerhaus, oder? Komm weiter. Wir müssen zu deinem Freund.«
Andred setzte sich gehorsam in Bewegung, blieb jedoch nach wenigen Schritten wieder stehen. Sein Blick tastete unsicher über die prall gefüllten Regale und die Stapel von Kisten und Ballen dazwischen. »Es ist zuviel«, murmelte er.
Skar blieb ebenfalls stehen. Er sah nervös zur Tür, aber hinter dem niedrigen, grauen Rechteck blieb alles ruhig. »Wie meinst du das?« fragte er schließlich.
Andred deutete mit einer unsicheren Geste nach oben. »Ich ... komme seit fünfzehn Jahren hierher«, sagte er stockend. »Aber ich habe nie ein Lagerhaus so wohlgefüllt gesehen. Das Drachenland ist groß, Skar, und Anchor ist sein einziger Hafen. Die Schiffe können die Waren gar nicht so schnell herbeischaffen, wie sie abgeholt und verteilt werden.«
Skar schwieg verwirrt.
»Ich möchte wissen, ob es in den anderen Schuppen ebenso aussieht«, fuhr der Freisegler fort.
»Und selbst wenn«, sagte Skar, »was würde das bedeuten?« Es war eine dumme Frage, und er wußte die Antwort im gleichen Moment, in dem er sie aussprach. Gondered hatte gesagt, daß die Bewohner des Drachenlandes zu den Waffen eilten. Sie hatten am eigenen Leib gespürt, wie ernst seine Worte gemeint gewesen waren, und jetzt dies - brauchte er wirklich noch mehr Beweise? Jemand hatte hier begonnen, Vorräte zu horten, in einem Ausmaß, das jede Logik zu übersteigen schien. Welchen anderen Grund mochte es dafür geben als den, daß das Land auf einen Krieg vorbereitet wurde?
Aber Krieg? dachte er erschrocken. Gegen wen? Gegen eine Handvoll Quorrl?
Oder vielleicht gegen den Rest der Welt?
Und mit einemmal ergab alles einen Sinn. Er wußte plötzlich, daß es in den anderen Schuppen ebenso aussehen würde, daß sie alle, sie und die Silos und die gewaltigen, flachen Lagerhallen, die sich am anderen Ende des Hafens aneinanderreihten, bis zum Bersten gefüllt sein würden, jetzt oder in naher Zukunft, und daß die Quorrl nichts als ein Vorwand waren. Er war blind gewesen. Blind und ziemlich überheblich dazu. Für ihn hatte die Welt nur noch aus zwei Menschen bestanden - aus Vela und ihm. Sein Racheschwur hatte ihn blind werden lassen. Verdammter Narr, der er gewesen war! Hatte er wirklich geglaubt, daß die Errish die Grenzen ihres Landes sperren und Schiffe mit Hunderten von Kriegern auf das Meer hinausschicken würde, nur weil sie Angst vor ihm hatte? Gondered hatte ihn gesucht, aber das war nur ein kleiner Teil seines eigentlichen Auftrages gewesen, etwas, das er so nebenbei mit erledigte, ebenso wie die Wächter an den Pässen und die Truppen, die irgendwo an den Grenzen nach Kohon und Larn warten würden, auch nach ihm Ausschau hielten.
Skar hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Natürlich wußte Vela, daß er kommen würde, aber wahrscheinlich war er nicht mehr als eine winzige Figur auf einem Brett mit Millionen Spielsteinen, ein Problem, an das man vielleicht einen flüchtigen Gedanken verschwendet, ehe man sich seinen Hauptgeschäften zuwendet. Ihre Pläne waren viel gewaltiger, viel größer, als er bisher in seiner Borniertheit geglaubt hatte. Sein Racheschwur!
Sie würde über diesen Schwur lachen, sofern sie überhaupt davon wußte. Gab es einen besseren Ort als Elay, um in aller Stille einen Krieg vorzubereiten? Ein besseres Land als dieses, von dem niemand, der außerhalb seiner Grenzen lebte, wirklich wußte, was in ihm vorging, und über das mehr Gerüchte und Legenden kursierten, als es Einwohner hatte?
Er hatte eine Vision, ein rasches, schreckliches Bild, das mit Urgewalt vor seinen Augen aufstieg: Er sah ein Heer, gewaltig und schwarz und groß, wie eine Springflut über die Grenzen des Drachenlandes hinausschwappend, Heereszüge, angeführt von Velas schwarzen Hornmonstern, Städte und Dörfer und Festungen schleifend, unaufhaltsam, unverwundbar, geschützt von der Macht dieses verfluchten Steines; unbesiegbar. Velas Heer... Ein einziges Menschenleben ist nicht lang genug, eine Welt zu erobern, hatte Vela gesagt. Er hatte es geglaubt, aber es war eine Lüge. Sie hatte gewollt, daß er es glaubte, so wie sie gewollt hatte, daß er sie haßte, sich nur noch auf seinen Haß und seine persönliche Rache konzentrierte und den Blick für das, was sie wirklich beabsichtigte, verlor. Mit einemmal war alles logisch und klar. Seine Flucht, sein Aufenthalt in Cosh, Dels Tod - dies alles war nichts als Theater gewesen, ein gut inszeniertes Spiel, keinem anderen Zweck dienend als dem, ihn abzulenken. Sie hatte vom ersten Moment an gewußt, daß es auf ganz Enwor nur einen Menschen - nämlich ihn oder vielmehr das Ding in ihm - gab, der ihren Plänen wirklich gefährlich werden konnte. Und jeder Schritt, den er getan hatte, war von Vela vorausbestimmt gewesen. »Was hast du?«
Andreds Stimme riß ihn abrupt aus seinen Gedanken. Für einen Moment hatte er die Kontrolle über sich verloren, und sein Zorn mußte deutlich auf seinem Gesicht gestanden haben. Andred wirkte erschrocken, und Skar hätte beinahe laut aufgelacht, als ihm klarwurde, daß es gerade umgekehrt war, daß nicht Andred, sondern er zusammenbrechen würde.
»Nichts«, sagte er hastig. Seine Stimme klang belegt. »Es ist... nichts«, wiederholte er. »Laß uns gehen. Ich möchte aus der Stadt sein, wenn Gondered merkt, wie wir ihn genarrt haben.«