11.

Beiderseits des Flusses lag Schnee, eine dünne, durchbrochene weiße Decke, die sich vergebens das zu verbergen bemühte, was hier geschehen war. Da und dort hatten die Geier bereits mit ihrem grausigen Werk begonnen; der Schnee war aufgewühlt und mit roten Fleischfetzen bedeckt, und an manchen Stellen blinkte Metall durch das Weiß. Ein schwacher, süßlicher Geruch lag in der Luft, und im Heulen des Windes schienen noch die Schreie der Sterbenden mitzuschwingen.

»Zwei Tage«, murmelte Skar. »Allerhöchstens. Vielleicht auch weniger.« Er ließ sich in die Hocke sinken, wischte mit dem Handrücken Schnee und vereisten Matsch vom Brustpanzer des toten Quorrl und versuchte, das Wesen herumzudrehen. Es gelang ihm nicht. Schließlich gab er auf, richtete sich wieder auf und sah zu Herger empor. Der Tote war nur einer von vielleicht fünfzig, die auf dieser Seite des Flusses herumlagen. Das Ufer war hier flacher, und aus dem schäumenden Wasser erhoben sich zahllose flache Steine. Hier und da konnte man trotz der reißenden Strömung und des schlammigen braunen Wassers den Grund des Flußbettes erkennen. Ein idealer Ort, den Fluß zu durchqueren. Aber auch ein idealer Ort für einen Überfall. Die Furt war nicht sehr breit - fünfzehn, vielleicht zwanzig Meter. Wer hier versuchte, das andere Ufer zu erreichen, der saß so sicher in einer Falle, als befände er sich auf einer schmalen Brücke.

Skar wandte sich um, sah zum anderen Ufer hinüber und schüttelte den Kopf. Er konnte sich gut vorstellen, wie es gewesen sein mußte. Die Ebene war auf der anderen Seite des Flusses nicht ganz so flach und deckungslos wie hier - hinter dem sandigen Uferstreifen erhob sich eine Anzahl niedriger, unregelmäßig geformter Hügel, dazwischen lagen Felsen und dürres, aber dicht wachsendes Gestrüpp. Deckung genug für Männer, die wußten, wie man sich zu verstecken hatte.

Aber nicht genug für eine Armee ...

Skar schüttelte abermals den Kopf und zog sich mit einer entschlossenen Bewegung in den Sattel empor. Die meisten Quorrl schienen durch Pfeilschüsse ums Leben gekommen zu sein. Vielleicht waren sie einfach überrascht worden. Und vielleicht war ihnen ja auch ein zweiter Trupp auf den Fersen gewesen und hatte sie in den Pfeilregen derer, die drüben versteckt gewesen waren, hineingejagt.

»Zwei Tage, sagst du?« knüpfte Herger an Skars Bemerkung an.

Skar nickte. »Höchstens. Vielleicht auch weniger. Es kann genausogut während der letzten Nacht passiert sein. Aber ich glaube nicht, daß uns hier Gefahr droht, wenn du das meinst. Wer immer diese Quorrl umgebracht hat, ist längst weitergezogen.«

Herger schien sich mit dieser Antwort zufriedenzugeben - obwohl er so gut wie Skar wissen mußte, daß es nicht mehr als eine Vermutung war. Die Toten hier bewiesen nicht, daß die Schlacht vorüber war. Sie konnten ebenso hinter dem nächsten Hügel auf einen Trupp Quorrl oder Soldaten treffen, wie es diesen Wesen hier ergangen war. Vielleicht ritten sie ahnungslos mitten in eine Schlacht hinein. Vielleicht - Vielleicht fällt uns gleich der Himmel auf den Kopf, dachte Skar ärgerlich. Hör endlich auf, dich selbst nervös zu machen. Mit einer heftigen Bewegung zwang er sein Pferd herum und ritt zum Ufer hinunter. Das Tier scheute zurück, als es den eisigen Hauch spürte, der ihm von der Wasseroberfläche entgegenwehte, und Skar mußte es schließlich mit brutaler Kraft zwingen, ins Wasser zu gehen.

Der Fluß war so seicht, wie Skar gehofft hatte - das Wasser war kaum tiefer als zwei oder drei Handspannen und reichte ihm nicht einmal bis zu den Füßen, aber die Strömung war mörderisch, und die Spritzer, die Skars ungeschützte Beine trafen, stachen wie winzige Messer in seine Haut. Das Pferd schnaubte vor Schmerz und warf unruhig den Kopf hin und her, und als sie die Mitte des Flußbettes erreicht hatten, strauchelte es, und Skar wäre um ein Haar aus dem Sattel gefallen. Er zitterte vor Kälte und Anstrengung, als er endlich das gegenüberliegende Ufer erreicht hatte und absaß.

Herger folgte ihm in geringem Abstand. Er hockte in unnatürlich steifer Haltung im Sattel, und als er endlich neben Skar anlangte, war er so verkrampft, daß er kaum aus eigener Kraft absteigen konnte. Er taumelte, fiel mit einem schmerzhaften Laut auf die Knie und krümmte sich, als hätte er Schmerzen.

Skar trat rasch hinzu, aber Herger schüttelte verbissen den Kopf und schlug Skars Hand zur Seite. »Laß mich«, zischte er. »Ich komme schon noch hoch.«

Skar trat einen halben Schritt zurück und runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Er verstand Herger. Es war nicht das erste Mal, daß er so etwas beobachtete - der Hehler hatte, eigentlich die ganze Zeit über, ganz genau gewußt, worauf er sich einließ. Sie waren vom ersten Tag an in Lebensgefahr gewesen, jede einzelne Minute, seit sie Anchor verlassen hatten, und Herger war sich dieses Umstandes immer bewußt gewesen. Er war innerlich nicht halb so ruhig, wie er vorgab. Herger war kein Held, und die ständige Angst, die Furcht, die ihn ständig begleitet haben mußte, hatte an seinen Kräften gezehrt. Der Anblick des Schlachtfeldes mußte ihm den Rest gegeben haben. Man konnte gut über den Tod und das Sterben reden, aber ein Schlachtfeld mit Toten, Verstümmelten und Sterbenden zu sehen, war eine andere Sache. Skar war schon so lange Krieger, daß er manchmal vergaß, wie dieser Anblick auf einen Menschen wirkte, dessen Alltag aus Handel und friedlichen Geschäften bestand.

»Was ist... hier passiert?« fragte Herger. Seine Stimme klang brüchig, obwohl er sich alle Mühe gab, unbeeindruckt auszusehen. Sein Blick irrte unstet über das Flußufer. Auf der anderen Seite des Stromes hatte der Schnee das Schlimmste zugedeckt; hier, einer willkürlichen Laune der Natur folgend, war die weiße Decke weniger fest. Überall lagen Tote - drei-, vielleicht vierhundert, und es waren nicht nur Krieger.

»Eine Schlacht«, murmelte Skar.

Herger schüttelte heftig den Kopf. »Das war keine Schlacht«, krächzte er. Seine Lippen zitterten. »Das war ... ein Gemetzel.« Skar schwieg. Herger sprach nur das Wort aus, das ihm die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte. Die Quorrl hatten sich bis zum letzten Mann - zum letzten Kind, verbesserte er sich in Gedanken - verteidigt. Sie mußten in der gewohnten Formation vorgerückt sein - die Krieger außen, einen weiten, drei- oder vierfach gestaffelten Kreis bildend, dahinter die Frauen; das machte bei Quorrl keinen so großen Unterschied; und ganz innen, geschützt von der Hauptmacht der Graugeschuppten, die Wagen mit den Alten und Kranken und Kindern. Ihre verkohlten Reste waren noch deutlich zu erkennen; ein niedergebrannter Scheiterhaufen aus verkohltem Holz und dunklen, zusammengebackenen Körpern, die einzeln nicht mehr zu erkennen waren. Ein paar von ihnen waren deutlich kleiner als die anderen. Es waren nicht einmal die Kinder verschont worden.

»Das ist...«

»Das ist Krieg«, sagte Skar hart. »Das, wovon ihr in Anchor beim Frühstück oder zwischen zwei Geschäften redet, Herger. Das, was dich erwartet, wenn du länger bei mir bleibst.«

Herger fuhr mit einer abrupten Bewegung herum. Seine Augen waren weit und voller Angst. Skar hätte seine letzte Bemerkung am liebsten rückgängig gemacht. Vielleicht war jetzt der Augenblick gegeben, sich von Herger zu trennen. Skar war sicher, daß ein winziger Anstoß genügen würde - aber plötzlich wollte er es gar nicht mehr. »Entschuldige«, sagte er leise. »Ich ...«

»Warum haben sie das getan?« fragte Herger, als hätte er Skars Worte gar nicht gehört. »Warum -«

Skar lachte, leise, bitter und mit einer raschen, bestimmenden Handbewegung. »Die Kinder?« fragte er. »Du willst wissen, warum sie auch die Kinder und die Frauen und die Alten umgebracht haben?«

Herger schluckte ein paarmal hintereinander. Die Blässe in seinem Gesicht rührte jetzt nicht mehr allein von seiner Erschöpfung her.

»Auch aus kleinen Quorrl werden einmal Krieger«, fuhr Skar fort. »Krieger, die töten und plündern und ihrerseits neue Krieger zeugen.« Er sah, daß Herger unter seinen Worten wie unter einem Hieb zusammenzuckte, und setzte - etwas sanfter - hinzu: »Das sind nicht meine Worte, Herger. Und das ist es auch gar nicht, worauf es hier ankommt.« Er schwieg einen Moment, griff gedankenverloren nach den Zügeln seines Pferdes und begann das Tier hinter den Ohren zu kraulen. »Sieh dich ruhig um«, fuhr er fort. »Du hast mich gefragt, warum ich Vela hasse, und hier siehst du die Antwort. Diese Krieger hier sind in Wirklichkeit keine Krieger, sondern Figuren, Spielsteine auf Velas Brett. Erinnerst du dich, was du gesagt hast? Dem Volk etwas geben, woran es seinen Zorn auslassen kann ...« Er schüttelte den Kopf und gab ein wütendes Geräusch von sich. »Das sagt sich so leicht, Herger. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Wahrheit, das ist Blut und Tod und Schrecken. Du -« Er brach ab, erschrocken über seine eigenen Worte. Herger konnte nichts dafür. Er war ebenso entsetzt über das, was hier geschehen war, wie er selbst, und für einen Moment war Skar in Gefahr gewesen, ihn zu behandeln, wie er es mit Gowenna getan hatte. Seinen Zorn auf ihn zu entladen. Aber das wäre zu billig gewesen.

»Vergiß es«, murmelte er. »Ich rede Unsinn. Du hast recht - es sind Quorrl. Sie wußten, was sie taten, als sie in dieses Land kamen.«

Aber hatten sie es wirklich gewußt? Hatte er gewußt, was er tat, als er Combat betrat oder den Wald von Cosh? Natürlich nicht. Und sowenig wie er hatten diese Quorrl gewußt, daß sie in Wirklichkeit nicht ihrem eigenen Willen gehorchten. Skar wußte nicht, wie Vela es bewerkstelligt hatte, aber er war plötzlich vollkommen sicher, daß sie dafür gesorgt hatte, daß die Quorrl-Armee im richtigen Augenblick die Grenzen dieses Landes überschritt. Einen besseren Vorwand, zu einem Krieg zu rüsten, konnte sie sich nicht mehr wünschen. Er wandte sich um, deutete mit einer Kopfbewegung auf die niedergebrannte Wagenburg im Zentrum des Schlachtfeldes und gab Herger mit einer Geste zu verstehen, ihm zu folgen. »Hilf mir«, sagte er. »Wir brauchen Holz, wenn wir nicht erfrieren wollen.«

Herger zuckte sichtlich zusammen. »Holz?« echote er dümmlich. »Wozu?«

Skar seufzte. »Für ein Feuer, Herger. Es brennt im allgemeinen besser als Schnee.«

»Du ... du willst hier ... hier übernachten?« fragte Herger stockend.

Skar blickte demonstrativ in den Himmel. Die Sonne würde in weniger als einer Stunde untergehen, und im Norden zeigte sich bereits ein düsterer grauer Streifen am Horizont. »Hast du eine bessere Idee?« fragte er, bewußt grob.

»Aber es ist ein ... Schlachtfeld«, keuchte Herger.

Skar schürzte abfällig die Lippen. »Solltest du Angst vor den Geistern der Erschlagenen haben«, sagte er, »dann laß dich beruhigen. Es ist nicht das erste Mal, daß ich auf einem Kampfplatz übernachte, und ich bin noch keinem Geist begegnet.«

Er ging los, ehe Herger Gelegenheit zu einer Entgegnung fand, und suchte sich seinen Weg zwischen den Toten hindurch. Es waren Quorrl, ausnahmslos. Die Angreifer mußten ihre Toten und Verwundeten mitgenommen haben. Wenn es bei ihnen Tote und Verwundete gegeben hatte ...

Er erreichte die Überreste der Wagen, sah sich einen Moment unschlüssig um und biß die Zähne zusammen, als sich der Wind drehte und einen durchdringenden Leichengestank mit sich brachte. Die Wagen waren ausnahmslos zerstört und verbrannt worden, der Großteil des Holzes war verkohlt und unbrauchbar. Aber zwischen den Trümmern gab es noch genügend Reste, und zur Not konnten sie die Kleider der Toten verbrennen. Der Gedanke, wie ein Leichenfledderer über das Schlachtfeld zu streifen und den Toten selbst noch die Hemden vom Leib zu ziehen, behagte ihm nicht. Aber wenigstens würden sie auf diese Weise nicht erfrieren. Und sie konnten sich mit warmen Kleidern versorgen, falls das schlechte Wetter anhalten sollte.

Er drehte sich zu Herger um und winkte ungeduldig. »Komm her und hilf mir!« rief er. Der Schmuggler war bei den Pferden stehengeblieben, setzte sich nun jedoch widerwillig in Bewegung und ging auf ihn zu. Auf halbem Wege stoppte er, beugte sich vor und fuhr plötzlich mit einer erschrockenen Bewegung wieder hoch. »Skar! Hier lebt noch einer!« Seine Hand fuhr zum Gürtel und riß das Schwert aus der Scheide, aber es war eine reine Abwehrbewegung.

Skar fuhr herum und war mit zwei, drei schnellen Schritten neben Herger. »Nicht«, sagte er hastig. »Steck die Waffe weg.« Herger gehorchte, während Skar neben der zusammengekrümmten Gestalt niederkniete. Im ersten Augenblick glaube er, Hergers Nerven hätten diesem einen Streich gespielt; der Quorrl lag im Schnee, die Hände auf die schreckliche Wunde an seiner Seite gepreßt, und war über und über mit Blut befleckt. Aus seiner linken Schulter ragte der zersplitterte Schaft eines Pfeiles, und der stachelbesetzte Kupferhelm auf seinem Kopf war unter einem fürchterlichen Hieb geborsten und mit einem Kranz eingetrockneten Blutes besudelt. Aber dann sah Skar, wie sich die Augen des Schuppenwesens öffneten, nur um eine Winzigkeit und für den Bruchteil einer Sekunde. Trotz seiner fürchterlichen Verletzungen lebte das Wesen noch.

»Wir müssen ihn hier wegschaffen«, sagte Skar nach kurzem Überlegen. »Er braucht Wärme.«

Herger erschrak. »Du willst ihn ... retten?«

»Er kann uns vielleicht wertvolle Informationen geben«, sagte Skar ruhig. »Außerdem ist er verletzt - keine Sorge. Er wird dir nichts mehr tun.«

»Aber er ist ein Quorrl«, begehrte Herger auf. »Diese Wesen haben unsere Städte und Dörfer überfallen und -«

Skar brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Verstummen. Herger schluckte, trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und schob schließlich seine Waffe in den Gürtel zurück. »Was soll ich tun?« fragte er, ohne Skar anzusehen.

»Hilf mir, ihn hier wegzuschaffen«, sagte Skar. Er stand auf, kniete über dem Kopf des Schuppenkriegers erneut nieder und schob die Hände unter die Schultern des Verwundeten. »Nimm seine Füße«, sagte er zu Herger. »Wir schaffen ihn zu den Wagen hinüber. Dort sind wir wenigstens vor dem Wind geschützt.«

Herger ließ sich gehorsam auf die Knie sinken, ergriff die Beine des Quorrl und hob ihn an. Skar stöhnte unter dem Gewicht des reglosen Körpers. Der Quorrl war ein besonders großes Exemplar seiner Rasse - ein zwei Meter hoher, unglaublich massiger Gigant von gut vier Zentnern Gewicht. Ein dumpfes, qualvolles Stöhnen entrang sich seiner Brust, als Skar und Herger ihn ächzend über das Schlachtfeld trugen. Die Wunde an seiner Seite brach wieder auf und hinterließ eine unregelmäßige Spur roter Tropfen im Schnee.

Herger taumelte vor Anstrengung, als sie endlich die verkohlte Wagenburg erreichten und den Quorrl wieder in den Schnee sinken ließen. Hergers Atem ging pfeifend, und sein Blick glitt immer wieder über die gewaltige graue Gestalt zu seinen Füßen.

Skar richtete sich auf, atmete ein paarmal tief ein und wartete, bis seine Hände zu zittern aufhörten. Das Gewicht des Quorrl hatte seine Kräfte fast überstiegen.

»Wir müssen ... ein Feuer entzünden«, sagte er schweratmend. »Such Holz. Und hol unsere Pferde hierher. Ich werde mich inzwischen um seine Wunden kümmern.«

Herger nickte und fuhr so rasch herum, daß es beinahe an eine Flucht grenzte. Er schien froh zu sein, wenigstens für kurze Zeit die Nähe des Schuppenkriegers meiden zu können.

Skar sah ihm kopfschüttelnd nach. Herger haßte den Quorrl nicht wirklich, das spürte Skar. Aber er schien halb von Sinnen vor Furcht zu sein. Die Quorrl waren berüchtigt für ihre Grausamkeit, auch wenn das, was grausam erscheinen mochte, in den meisten Fällen wohl nur Ausdruck einer vollkommen fremden Lebensart war. Selbst Skar konnte sich eines unguten Gefühles nicht erwehren, als er den graugeschuppten Riesen betrachtete. Er kniete erneut neben dem Quorrl nieder, bettete ihn mühsam in eine einigermaßen bequeme Lage und machte sich daran, seine Wunden zu untersuchen. Viel war es nicht, was er tun konnte - die Verletzungen, jede für sich, hätten den Quorrl eigentlich umbringen müssen. Es grenzte an ein Wunder, daß er überhaupt noch am Leben war. Skar war sicher, daß das Wesen die Nacht nicht überstehen würde. Selbst ein ausgebildeter Heiler wäre hier wohl machtlos gewesen. Sein Schädel war zertrümmert und wurde wahrscheinlich nur noch durch den zerbrochenen Helm zusammengehalten, und die Wunde an seiner Seite - ein Speerstich, wie Skar bei näherer Betrachtung feststellte - war bereits brandig. Nein - der Quorrl würde sterben, schon bald.

Skar sah sich ungeduldig nach Herger um, nahm nach kurzem Zögern seinen Mantel von den Schultern und breitete ihn über dem Quorrl aus - eine Geste, die allenfalls symbolische Bedeutung haben konnte; der Quorrl hatte einen Tag und vielleicht eine Nacht im Schnee gelegen und mußte bis auf die Knochen ausgekühlt sein.

Skar stand auf, bewegte die Finger, um das brennende Prickeln zu vertreiben, und begann Holz zu sammeln. Als Herger mit den Pferden zurückkam, hatte Skar bereits einen ansehnlichen Stapel zusammengetragen. Herger warf ihm wortlos die Satteltasche mit dem Verbandszeug zu und band die Pferde an ein zerbrochenes Wagenrad. Danach machte Herger sich daran, das Feuer zu entzünden, während Skar erneut zu dem Quorrl hinüberging. Ihr Verbandszeug war auf einen kleinen Rest zusammengeschmolzen; kaum genug, um eine einzige der Wunden des Quorrl zu versorgen. Aber Skar fand eine Salbe, die wenigstens für kurze Zeit die Schmerzen des Verwundeten lindern würde. Behutsam schmierte Skar sie auf die Wundränder, jederzeit bereit, zurückzuspringen, falls sich der Quorrl regen würde. Aber das Wesen erwachte nicht, auch nicht, als Skar den Pfeil aus seiner Schulter zog und die Wunde mit einem schmalen Streifen Verbandszeug versorgte.

Herger trat zu ihm, als er das Feuer entfacht hatte. Zwischen seinen Brauen zeigte sich eine mißbilligende Falte, als er sah, was Skar getan hatte. »Hoffentlich denkst du daran, daß wir das Verbandszeug selbst noch brauchen könnten«, murrte er.

Skar schwieg. Herger hatte seinen ersten Schrecken überwunden, und seine Unsicherheit schlug nun in Aggressivität um. »Reine Verschwendung«, fuhr er fort, als Skar nicht antwortete. »Es wäre menschlicher, wenn du dein Schwert nehmen und ihn erlösen würdest.«

Skar legte seinen Mantel wieder über den Quorrl, sah sich suchend um und zog schließlich ein halbverkohltes Stoffbündel aus den Trümmern hervor, um es wie ein Kissen unter den Nacken des Quorrl zu schieben. »Ich will wissen, was hier geschehen ist«, sagte er. »Und dieser Quorrl kann es uns vielleicht noch sagen.« Herger gab ein abfälliges Geräusch von sich. »Sei kein Narr, Skar«, sagte er. »Wenn er überhaupt noch einmal zu sich kommt, dann wird er versuchen, uns umzubringen, das weißt du so gut wie ich. Also hör mit deinem sentimentalen Quatsch auf und laß uns weiterziehen. Wir schaffen noch ein paar Meilen bis zum Dunkelwerden.«

»Und erfrieren irgendwo«, knurrte Skar. »Wir bleiben hier, Herger. Hier haben wir Holz und einen Schutz vor dem Wind, und die Geister der Toten, vor denen du dich so fürchtest, werden uns Wegelagerer und anderes Gesindel vom Hals halten.«

»Und Plünderer anlocken«, sagte Herger lakonisch. »Ich habe meine Erfahrungen mit ihnen, Satai - wo ein Schlachtfeld ist, da sind auch Leichenfledderer nicht weit.«

»Dann wird es wohl das Beste sein, wenn du Wache hältst, während ich schlafe«, sagte Skar. »Oder?«

Herger starrte ihn einen Herzschlag lang mit unverhohlener Wut an, ehe er herumfuhr und durch den Schnee davonstapfte. Skar wandte sich um, nahm die Satteltaschen und die zusammengerollten Decken von den Rücken der Pferde und begann das Nachtlager vorzubereiten. Die verkohlten Wagen bildeten einen unregelmäßigen Halbkreis, hinter dem man zumindest notdürftig vor dem Wind geschützt war, und auch der Schnee lag hier nicht so hoch wie draußen auf dem Schlachtfeld. Skar breitete die Decken rechts und links des Feuers aus, legte ein wenig Holz nach und öffnete seinen Wasserschlauch, der leer war bis auf einen schalen, übelriechenden Rest. Skar schüttete ihn aus, beugte sich noch einmal prüfend über den Quorrl und ging dann zum Fluß hinunter. Herger hatte sich in der entgegengesetzten Richtung entfernt und stand, reglos und den Blick starr nach Norden gerichtet, auf der Kuppe eines Hügels. Das rote Licht der untergehenden Sonne verwandelte seinen Körper in einen schwarzen, flachen Schatten. Skar überlegte einen Augenblick, ob er zu ihm gehen und ihn um Verzeihung bitten sollte, tat es aber dann doch nicht. Vielleicht war es das erste Mal in Hergers Leben, daß er mit eigenen Augen sah, wie die Welt, in die er hineingeboren war, wirklich beschaffen war. Er mußte damit fertig werden, je eher, desto besser.

Skar versuchte sich zu erinnern, was er empfunden hatte, damals, vor (wie vielen Jahren eigentlich? Dreißig? Vierzig?), vor so langer Zeit, als er wie jetzt Herger als junger Satai-Novize auf einem Hügel über einem Schlachtfeld gestanden und auf das schreckliche Bild hinuntergesehen hatte. Er wußte nicht mehr im einzelnen, wie es gewesen war. Er hatte seitdem zu viele Schlachtfelder gesehen, zu viele Kämpfe gekämpft und zu oft dem Tod ins Auge geblickt, um wirklich noch zu wissen, was Furcht war. Er war... ja, abgestumpft, so wie jeder, der mit der Waffe in der Hand lebt und für den Tod Leben bedeutet, irgendwann abstumpft. Aber Skar hatte nie vergessen, wie schlimm es gewesen war, damals. Er konnte sich nicht mehr an Einzelheiten erinnern, doch der ungläubige Schrecken, der alle anderen Gefühle überwog, war ihm deutlich in seiner Erinnerung haftengeblieben. Der Schrecken und die Frage, was Menschen dazu bringen konnte, so etwas zu tun.

Er hatte nie eine Antwort auf diese Frage gefunden. Und irgendwann hatte er auch aufgehört, nach ihr zu suchen.

Er verscheuchte den Gedanken und ging weiter. Vom Fluß wehte ihm Kälte wie ein eisiger Hauch entgegen, und zwischen den flachen Steinen, die den Verlauf der Furt markierten, hatte sich Eis angesammelt. Skar betrachtete die durchbrochene weiße Linie stirnrunzelnd. Wenn die Temperaturen weiter so niedrig blieben, dann würde das Eis in Kürze einen Damm an der flachen Stelle bilden, und der Fluß würde über die Ufer treten. Vielleicht ein würdigeres Begräbnis für die Toten, als den Geiern als Nahrung zu dienen.

Skar blieb am Flußufer stehen. Auch im Wasser lagen Tote - nicht ganz so viele wie diesseits des Flusses, aber mehr, als er vorhin auf den ersten Blick gesehen hatte. Aber es waren nur Quorrl. Kein Mensch. Nicht ein einziger Angreifer.

Er wandte sich nach links und ging flußaufwärts. Das Wasser war hier noch immer schlammig und braun, aber zumindest nicht mehr mit Leichen verseucht. Trotzdem kostete es ihn enorme Überwindung, am Ufer niederzuknieen und seinen Schlauch zu füllen. Bei dem Gedanken, das Wasser am Morgen, wenn auch ahnungslos, getrunken zu haben, drehte sich ihm noch jetzt der Magen herum.

Er trank, füllte seinen Schlauch und band die Öffnung sorgfältig zu, ehe er zu Herger und ihrem Lager zurückging. Die Sonne berührte den Horizont, als er am Feuer anlangte und sich wortlos neben Heger niederließ. Die Schatten wurden länger, und die toten Quorrl verwandelten sich in formlose graue Hügel. Skar schauderte. In Augenblicken wie diesem konnte er verstehen, daß sich Menschen wie Herger vor den Geistern der Toten fürchteten. Mit der Dunkelheit kam die Kälte, und Skar rückte näher ans Feuer heran. Die Flammen spendeten eine wohlige Wärme, und mit ihr kam die Müdigkeit.

»War das dein Ernst, vorhin?« fragte Herger plötzlich. »Das mit der Wache?«

Skar sah auf. Hergers Gesicht wirkte im flackernden Licht der Flammen noch müder als zuvor. Sein linkes Auge war entzündet und rot, was seinem Antlitz ein seltsam asymmetrisches Aussehen gab.

»Vorhin nicht«, murmelte er. »Aber jetzt. Ich glaube, es ist besser, wenn wir abwechselnd Wache halten. Schon wegen ihm«, fügte er mit einer Kopfbewegung auf den reglosen Quorrl hinzu. Sie hatten das Wesen so dicht ans Feuer herangezogen, wie es ging, und Skar hoffte, daß die wärmenden Flammen bald Wirkung zeigen würden.

Herger folgte Skars Blick. Er schwieg eine ganze Weile, aber Skar konnte direkt sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. »Was ich vorhin gesagt habe«, begann er stockend, »tut mir leid. Ich ...«

Skar unterbrach ihn mit einem sanften Kopfschütteln. »Schon gut«, sagte er. »Ich verstehe dich.«

»Aber ich bin trotzdem dagegen«, fuhr Herger nach einer weiteren Pause fort. »Wir hätten ihn sterben lassen sollen.«

»Er wird sterben«, sagte Skar ruhig. »Noch heute nacht.«

»Und warum quälst du ihn dann?«

Skar blickte nachdenklich auf die gewaltige Gestalt des Quorrl. Das Wesen war noch immer ohne Bewußtsein, aber seiner Brust entrang sich von Zeit zu Zeit ein tiefes, qualvolles Stöhnen. Skar hatte schon vielen dieser Wesen im Kampf gegenübergestanden und wußte, wie stark und wild sie waren, und er hatte Menschen gesehen, die von Quorrl im wahrsten Sinne des Wortes in Stücke gerissen worden waren. Trotzdem empfand er keinen Triumph - nicht einmal diese schwer zu beschreibende Erleichterung, wenn man sich einer Gefahr erst dann bewußt wird, nachdem sie vorüber war. Alles, was er empfand, war Mitleid; Mitgefühl mit einem Wesen, das verwundet war und Schmerzen litt.

Aber wahrscheinlich empfand der Quorrl im Moment weniger Schmerzen als Herger oder er.

»Ist dir nicht aufgefallen, daß hier nur Quorrl liegen?« fragte er nach einer Weile.

Herger sah ihn fragend an.

»Keine Menschen«, sagte Skar. »Ich habe mich umgesehen. Es sind nur Quorrl-Rüstungen. Quorrl-Waffen. Quorrl-Pferde.«

»Sie werden ihre Toten und Verwundeten mitgenommen haben«, meinte Herger unsicher.

»Keine zerbrochenen Waffen«, fuhr Skar unbeeindruckt fort. »Keine abgeschlagenen Hände und Arme, keine verlorenen Helme, kein totes Pferd.«

»Worauf ... willst du hinaus?« fragte Herger unsicher.

Skar zuckte mit den Achseln. »Vielleicht darauf, daß sie keine Verluste hatten«, murmelte er, mehr zu sich selbst. Der Gedanke war die ganze Zeit über in ihm gewesen, aber er begriff eigentlich erst jetzt, als er ihn laut aussprach, was er wirklich bedeutete. »Das ist unmöglich«, sagte Herger.

»Das ist es«, bestätigte Skar. »Aber ich weiß keine andere Erklärung.«

Herger schwieg sekundenlang. »Vielleicht haben sie sie in eine Falle gelockt«, murmelte er. »Wenn sie sie auf große Distanz angegriffen ...« Er brach mitten im Satz ab und starrte mit unnatürlich weit aufgerissenen Augen an Skar vorbei auf das Schlachtfeld hinaus. Die meisten Quorrl waren durch Pfeilschüsse getötet worden - aber längst nicht alle. Selbst er erkannte eine Schwertwunde, wenn er sie sah.

»Vielleicht haben sie sich nicht gewehrt«, murmelte er.

Oder sie haben gegen einen Gegner gekämpft, der nicht zu verwunden war, dachte Skar. Aber das sprach er nicht laut aus. Statt dessen stand er auf, hängte sich seinen Wasserschlauch über die Schulter und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Hügelkette. »Ich werde die erste Wache übernehmen«, sagte er. »Versuch ein wenig zu schlafen. Ich wecke dich kurz nach Mitternacht.«

»Skar!«

Irgend etwas war in Hergers Stimme, das ihn anhalten ließ. Er zögerte, wandte sich noch einmal um und trat wieder ans Feuer heran. »Ja.«

»Ich ...« Herger schluckte. »Bleib hier«, bat er. »Du kannst auch hier Wache halten. Und ich auch.«

Wovor hat er Angst? dachte Skar. Vor den Geistern der Toten? Oder vor dem Quorrl? Oder vielleicht einfach davor, allein zu sein? Aber er sprach nichts von alledem aus, sondern ließ sich wortlos wieder am Feuer nieder und hielt die Hände über die wärmenden Flammen. Im Grunde war er ganz froh, am Feuer bleiben zu können.

Und obwohl er es niemals - auch sich selbst gegenüber nicht - zugegeben hätte, war er ebenso froh, nicht allein sein zu müssen. »Was wirst du tun, wenn wir Elay wirklich erreichen?« fragte Herger. »Sie töten?«

»Ja«, sagte Skar. »Und jetzt schlaf. Wir müssen morgen ausgeruht sein.«

Herger schien noch mehr fragen zu wollen, aber er sah ein, daß Skar nicht nach reden zumute war, und so legte er sich zurück und rollte sich in seine Decke ein. Schon nach wenigen Augenblicken wurde sein Atem ruhiger; er war eingeschlafen, der Kälte und der Furcht, die mit dunklen Schatten um das Lager strich, zum Trotz. Skar betrachtete ihn nachdenklich. Es war seltsam - sie kannten sich jetzt seit elf Tagen, aber er hatte bereits ein so vertrautes Gefühl, als ritten sie schon seit Jahren zusammen. Obwohl ihm Herger so rätselhaft wie am ersten Tag geblieben war, fühlte er trotzdem so etwas wie ... Freundschaft? Nein, Freundschaft sicher nicht. Sie waren sich fremd, und sie würden sich auch immer fremd bleiben, ganz egal, wie lange sie zusammen sein würden. Und trotzdem war es eine Fremdheit, die - so absurd es klang - etwas Vertrautes hatte.

Skar schüttelte den Kopf, zog die Decke enger um die Schultern und rückte näher ans Feuer heran. Was war nur mit ihm los? Waren das wirklich seine Gedanken? Oder war er vielleicht auch psychisch so erschöpft, daß er die Kontrolle über sich zu verlieren begann?

Es wurde dunkler, und hinter der flackernden Linie, an der der Feuerschein den Ansturm der Nacht aufhielt, schienen sich Schemen zu bewegen, formlose Dinge, die es nicht wirklich gab, die aber deswegen nicht weniger schrecklich waren. Irgendwo dort draußen war der Wolf, vielleicht hundert Meilen entfernt, vielleicht auch nur einen Steinwurf. Sein dunkler Begleiter. Der Fluch, der auf ihm lastete, schwerer, als Herger jemals begreifen würde. Vielleicht war es einer jener Schatten, von denen er annahm, es handele sich um Einbildung, und vielleicht schlich der Wolf gerade jetzt um das Lager und suchte nach einer geeigneten Stelle für einen Angriff.

»Bist du dort, Freund?« sagte er. Seine Worte verklangen im Wind, aber er bildete sich ein, ein schwaches Echo zu hören, verzerrt und erst nach einigen Sekunden Verzögerung einen Laut, als versuche jemand - oder etwas - mit Stimmorganen, die nicht für die menschliche Sprache geeignet waren, seine Worte nachzuahmen. Einbildung? Natürlich.

»Du bist dort«, fuhr er fort, und wieder beantwortete der Wind seine Worte mit dem gleichen unheimlichen Klang. »Du bist dort und wartest. Du wartest, daß ich einen Fehler mache, nicht?« Er lachte leise. »Aber ich werde keinen Fehler machen, Freund«, fuhr er fort. »Ich habe dein System durchschaut. Du wirst mir nichts tun, solange ich nicht in Elay bin. Und bis dorthin ist noch ein weiter Weg.«

»Ich hoffe, du irrst dich nicht, Skar«, sagte Herger.

Skar zuckte zusammen und fuhr mit einer abrupten, harten Bewegung herum. Herger hatte sich halb aufgesetzt und sah ihn mit einer Mischung aus Trauer und mühsam verhohlener Sorge an. »Ich ... ich dachte, du würdest schlafen«, sagte Skar stockend. Es war ihm unangenehm, daß Herger seine Worte gehört hatte. Skar hatte sich im stillen immer über Leute amüsiert, die Selbstgespräche führten; jetzt tat er es selber.

»Das habe ich auch«, sagte Herger. »Aber in einer Umgebung wie dieser schläft man nicht tief, weißt du?« Er lächelte, wurde übergangslos wieder ernst und setzte sich vollends auf, die Decke wie einen Mantel über Kopf und Schultern gezogen, so daß ihr Schatten sein Gesicht in zwei scharf voneinander abgegrenzte Hälften teilte. Seine Augen lagen im Dunkeln, aber Skar spürte seinen Blick trotzdem.

»Du hast Angst, nicht?« sagte Herger plötzlich. »Warum gibst du es nicht zu? Es tut gut.«

Skar funkelte ihn wütend an. »Ich wüßte nicht, was dich das angeht«, sagte er ärgerlich. »Immerhin fürchte ich mich nicht vor den Geistern toter Quorrl.« Die Spitze traf nicht; Herger lächelte erneut, beugte sich vor und hielt die Hände über die Flammen. »Jeder hat seine eigenen Geister«, sagte er, ohne Skar anzusehen. »Ich die Geister der Toten, du deinen Wolf - oder was immer er sein mag. Du bist sicher, daß er dich töten wird, wie? So, wie er Tantor getötet hat.«

Skar schwieg. Er wußte nicht, worauf Herger hinauswollte, aber er hatte das Gefühl, daß es mehr war als ein belangloses Gespräch am Lagerfeuer.

»Ich wollte dich schon lange fragen«, fuhr Herger nach einer Weile fort. »Aber ich habe noch keine Gelegenheit gefunden.«

»Dann laß es jetzt auch sein«, knurrte Skar. »Ich wüßte nicht, was an einem nächtlichen Schlachtfeld -« Er brach mitten im Satz ab, als der Quorrl ein dumpfes Stöhnen ausstieß und sich bewegte. Die Hand des Quorrl ruckte unter der Decke hervor und krallte sich in den hartgefrorenen Boden. Der gewaltige Körper zuckte. »Er erwacht«, keuchte Herger.

Skar war mit einem Satz auf den Füßen und neben dem Quorrl. Die Lider des Wesens flatterten. Er stöhnte erneut, versuchte sich zu bewegen und sackte mit einem sonderbar hohen Laut zurück. Seine Augen öffneten sich, aber ihr Blick schien durch Skar hindurchzugehen.

»Sei vorsichtig«, sagte Herger gehetzt. »Wenn er dich erkennt ...«

Skar brachte ihn mit einer unwilligen Geste zum Verstummen. Der Quorrl bewegte sich stärker. Seine grausamen Krallen wühlten den Boden auf und fuhren mit scharrendem Geräusch über Eis und Stein, aber es war trotz allem keine Kraft in dieser Bewegung. Die großen, pupillenlosen Augen waren verschleiert. Wenn das Wesen überhaupt etwas sah, dann nicht ihn. Trotzdem spannte er sich, um im Notfall sofort zur Seite springen zu können. Es war nicht das erste Mal, daß er einem Quorrl begegnete, und er wußte, daß die sechsfingrigen Klauen des Wesens stark genug waren, Stahl zu zermalmen.

»Kannst du mich hören?« fragte er.

Die Lippen des Quorrl zuckten, aber Skar war nicht sicher, ob das eine Reaktion auf seine Worte oder nur Schmerz war. Er beugte sich vor, tauschte einen raschen Blick mit Herger und legte dem Quorrl die Hand auf die Stirn. Die Schuppenhaut fühlte sich hart und trocken an, und Skar konnte den hämmernden Pulsschlag des Wesens fühlen. Die beiden Herzen des Quorrl rasten; ihr Schlag war unregelmäßig.

»Verstehst du, was ich sage?« fragte Skar eindringlich. »Du bist in Sicherheit. Wir sind deine Freunde. Wir werden dir nichts tun.« Die Bewegung kam selbst für Skars Reaktionen zu schnell. Der Quorrl bäumte sich auf. Ein gellender, unglaublich lauter Schrei brach aus seinem lippenlosen Maul. Seine Pranke zuckte hoch, packte Skars Oberarm und drückte zu. Skar schrie vor Schmerz auf und warf sich zurück, aber den unmenschlichen Kräften des Quorrl hatte er nichts entgegenzusetzen.

Herger stieß einen erschrockenen Ruf aus, riß sein Schwert aus dem Gürtel und schwang die Waffe mit beiden Händen.

»Nicht!« schrie Skar verzweifelt. »Tu es nicht!«

Herger erstarrte mitten in der Bewegung. Der Quorrl hatte sich wieder beruhigt. Er war zurückgesunken und stöhnte leise. Aber seine Linke umklammerte immer noch Skars Arm. Der Schmerz war für Skar fast unerträglich.

»Khomat«, flüsterte der Quorrl. »She cedykhomat.« Nur diese drei Worte, immer wieder. Seine Lider waren abermals geschlossen, aber Skar konnte sehen, wie sich die Augäpfel hinter den Lidern hektisch hin und her bewegten.

»Hilf mir«, preßte Skar mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Er rückte von dem Quorrl ab, so weit es ging, ließ sich auf die Knie sinken und versuchte, die Finger des Wesens zurückzubiegen. Herger kniete neben ihm nieder, umklammerte das Handgelenk des Quorrl und versuchte mit der anderen Hand, die beiden Daumen des Wesens zurückzubiegen.

Selbst zu zweit schafften sie es kaum. In Skars Augen standen Tränen, als sein Arm endlich wieder frei war. Seine Hand begann zu prickeln, als das Blut in die abgeschnürten Glieder zurückkehrte. Er stand auf, wich hastig ein paar Schritte von der graugeschuppten Gestalt zurück und massierte seine Hand. »Das war knapp«, murmelte er. »Ich hätte auf dich hören sollen, Herger. Ich werde wohl langsam alt.«

Hergers Gesicht war grau vor Schrecken. Seine Hände zitterten, als wäre er es gewesen, den der Quorrl gepackt hatte. »Was hast du?« fragte Skar. »Es ist vorbei - mir ist nichts passiert.«

Herger schüttelte den Kopf. »Du ... sprichst seine Sprache nicht?« fragte er.

Skar verneinte. »Nicht sehr gut. Was hat er gesagt?«

Herger sah auf. In seinen Augen flackerte Panik. »Khomat«, murmelte er.

»Und was bedeutet das?«

Hergers Lippen zuckten, aber er antwortete nicht. Er starrte an Skar vorbei in die Nacht hinein, und sein Blick irrte unstet über das dunkle Schlachtfeld. Seine Hände zitterten.

»Was bedeutet dieses Wort, Herger?« fragte Skar noch einmal. »Rede!«

»Dämonen«, murmelte Herger tonlos. »Er hat gesagt, die Dämonen kommen.«

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