Seine Augen begannen zu schmerzen, als sie ihn nach draußen führten. Eine Woche Dunkelheit hatte sie empfindlich werden lassen, so daß ihm das Sonnenlicht wie grelle Weißglut vorkam und ihm die Tränen über die Wangen fließen ließ. Er wollte die Hand heben, um seine Augen zu bedecken, aber die beiden Hornkrieger hielten seine Arme unbarmherzig fest.
Vela hatte nicht viel Zeit verloren. Während sie oben in ihrem Gemach mit ihm geredet hatte, waren im Innenhof der Festung die letzten Vorbereitungen für den Abmarsch getroffen worden. Die gewaltigen asymmetrischen Tore waren weit geöffnet, und auf dem Platz davor hatte die Armee der Errish Aufstellung genommen. Es war kein großes Heer, aber vielleicht das schlagkräftigste, das diese Welt jemals gesehen hatte. Skar spürte einen eisigen Schauer, als ihn die beiden Tuan-Krieger über den Hof führten. Es waren hundert, vielleicht hundertfünfzig Männer, kräftige Gestalten in den schwarzen Stachelpanzern von Velas Leibgarde. Dahinter, in einer reglosen Dreifachreihe wie bizarre steinerne Statuen mitten in der Bewegung eingefroren, noch einmal die doppelte Anzahl schwarzglänzender Hornkrieger; Velas Armee des Irrsinns, die sie aus den Abgründen der Zeit heraufbeschworen und zu unseligem Leben erweckt hatte. Und hinter ihnen, wie eine Mauer aus Fleisch und vibrierender Kraft, die Drachen.
Skar zählte vier Dutzend der gewaltigen Panzerechsen, eine so groß und wild wie die andere. Eine lebende Walze aus Wut und explosiver Aggressivität, die keine Gewalt dieser Welt würde aufhalten können. Vela hatte recht, dachte er dumpf. Auch ohne die zusätzliche Macht, die ihr Combats Stein verlieh, wäre ein Angriff auf diese Stadt Wahnsinn. Gowennas Vorhaben war ein Akt der Verzweiflung, nicht mehr als ein vielleicht heroisches, aber vollkommen nutzloses Symbol.
Sein Blick wandte sich nach Süden. Die Sonne stand im Zenit und tauchte das Land in goldenes Licht und trügerischen Frieden. Zwischen den grauen Felsen vor dem Tor zeigte sich das erste zaghafte Grün des Frühlings, Gras, das Monate zu früh aus der Erde brach, genarrt von der Magie eines Volkes, das über diesen Boden gewandelt war, als es so etwas wie Menschen noch nicht gab; als die Welt voller Düsternis und schwarzer Spinnweben gewesen war, voller Gewalt und einer Art von Leben, das diesen Namen vielleicht nicht einmal verdiente.
Skar versuchte sich vorzustellen, wie die Welt aussehen würde, wenn Velas Schreckensherrschaft sich weiter ausbreitete. Die Zeit der Alten würde wiederkommen, aber Vela irrte sich, wenn sie glaubte, ihre Gewalten zum Guten wenden zu können. Trotz allem glaubte sie wohl noch immer an dieses Ziel, sonst hätte sie niemals die Kraft aufgebracht, das zu tun, was sie getan hatte. Aber sie irrte sich. So wie sie ihn zum Werkzeug gemacht hatte, war auch sie nur noch der Handlanger eines Geistes, der aus einem äonenlangen Schlaf erwacht war und daranging, sich die Welt untenan zu machen.
Skar wunderte sich, woher diese Gedanken kamen. Es war, als wäre er plötzlich aufgewacht, und seine Überlegungen liefen mit einer seltenen Schärfe ab, bedienten sich eines Wissens, das plötzlich in ihm war, als wären in seinem Bewußtsein unvermittelt Türen zu einem Bereich geöffnet worden, von dem er nicht einmal gewußt hatte, daß es ihn gab. Irgend etwas war mit ihm geschehen, während er in Velas Kerker gewesen war.
Aber auch dieses Rätsel löste sich mit dem gleichen selbstverständlichen Wissen, das plötzlich aus dem Nirgendwo über ihn gekommen war. Es war das Wissen seines Dunklen Bruders, das Erbe, das er in sich trug und dessen sich Vela bedienen wollte, um ihre Macht zu festigen. Sie hatte die Wahrheit gesagt, damals in Tuan. Etwas vom Geist der Alten war in ihm, und ein winziges bißchen von diesem Etwas war jetzt an die Oberfläche gekommen. Er sah die Welt in einer blitzartigen, grauenhaften Vision vor sich, so wie sie sein würde: eine Welt ohne Menschen, auch ohne Drachen und Errish und Quorrl, ein Planet, der nichts mehr mit Enwor gemein hatte als einen Namen und vielleicht nicht einmal mehr das. Er sah schwarze, wie geschmolzenes Pech glänzende Fäden aus dem Boden kriechen, vibrierende Nervenstränge eines gewaltigen, auf Milliarden und Abermilliarden einzelner Körper verteilten Wesens, sah eine Armee stachelbewehrter Hornkrieger über das Land marschieren und Jagd auf die letzten Menschen machen, sah den Himmel schwarz werden und bizarre Städte und formlose, unbeschreibliche Dinge sich über das Land ausbreiten. Vielleicht würde das Meer bleiben; es war groß. Groß und geduldig genug, selbst diesem Gegner zu trotzen. Aber nicht einmal das war sicher.
Vela irrte sich. Sie glaubte das Böse überlisten, sich seiner Kräfte bedienen zu können, um die Zukunft dieser Welt zu verändern.
Aber er wußte auch, daß es sinnlos war, noch einmal mit ihr zu reden. Das Ding in ihr war schon zu stark. Vielleicht würde es nicht einmal mehr etwas ändern, wenn sie die Schlacht verlor, und vielleicht war ihr Körper schon nur noch eine leere Hülle, die nicht mehr gebraucht wurde.
Die beiden Hornkrieger führten ihn an der Front der schwarzen Reiter vorbei zu einer großen, an eine Sänfte erinnernde Konstruktion, die zwischen zwei der Drachen aufgehängt worden war. Eine schmale Strickleiter führte zu ihr hinauf. Die Krieger ließen Skars Arme los, und einer von ihnen bedeutete ihm mit einer befehlenden Geste hinaufzusteigen. Skar zögerte einen Moment, ehe er gehorchte. Er brauchte keine Erklärungen, um zu wissen, daß Vela in dieser Sänfte reisen würde. Es war ein Marsch von drei Tagen bis zur unterirdischen Festung der Rebellen; auch im Sattel eines Drachen eine zu anstrengende Reise für eine Schwangere.
Er erhielt einen schmerzhaften Stoß in den Rücken und bestieg hastig die erste Sprosse. Die Drachen bewegten sich unruhig und starrten ihn aus ihren winzigen intelligenten Augen an. Vielleicht spürten sie den Aufruhr in seiner Seele. Vielleicht war es aber auch nur der fremde Geruch, den er ausströmte und der sie beunruhigte.
Er zog sich die letzten Sprossen empor, senkte den Kopf, um nicht an dem niedrigen geschnitzten Sturz des Einganges anzustoßen, und erhob sich auf die Knie. Das Innere der Sänfte war überraschend groß. Durch die Wände sickerten dünne Streifen goldenen Sonnenlichts herein und gaukelten ihm ein Gefühl des Friedens vor. Er stand auf und breitete rasch die Arme aus, um sein Gleichgewicht zu halten, als der Boden unter ihm zu schwanken begann. Der Drachengestank war hier drinnen übermächtig. Er durchquerte die Sänfte, hockte sich in eine Ecke und legte den Kopf auf die Knie. Er wollte nicht mehr denken. Er wartete darauf, daß sie endlich kam und ihn tötete. Oder daß der Wolf dies tat. Wo war er? Hatte er ihn all die Zeit verfolgt oder gehetzt, um ihn jetzt allein zu lassen, kehrte er zurück nach Combat, um wieder für eine Ewigkeit zu Stein und Schweigen zu erstarren? Oder lauerte er immer noch irgendwo in seiner Nähe?
Wahrscheinlich, dachte er. Wahrscheinlich war er noch irgendwo hier, und wahrscheinlich war er der Grund, warum er überhaupt noch lebte. Er war mächtig, ein Dämon, dem nichts unmöglich war, und er würde es nicht zulassen, daß seine Strafe so leicht ausfiel. Irgendwie, das wußte Skar plötzlich, würde er ihn schützen, um seine Qual zu verlängern.
»Das Selbstmitleid steht dir nicht«, drang eine Stimme in seine Gedanken. Er sah auf und erkannte einen Schatten vor dem Eingang. Das weiße Sonnenlicht zeichnete die Konturen mit einem bösen blauen Heiligenschein nach.
»Wie kommst du darauf?« sagte er widerwillig. Er wollte nicht reden.
Vela lachte, bewegte sich gebückt auf ihn zu und setzte sich. Die Sänfte begann zu beben, und von draußen drang ein dumpfes, unglaublich machtvolles Raunen und Dröhnen herein; wie der Laut eines gewaltigen Tieres. Die Armee hatte sich in Bewegung gesetzt. Velas Eintreffen war das letzte Zeichen gewesen, auf das noch gewartet worden war. »Man sieht es«, erklärte sie leichthin. »Aber du bist kein Mann, der sich einem solchen Gefühl hingeben sollte. Nütze die Zeit, die ich dir noch gewähre. Drei Tage sind nicht viel.«
»Hier?« fragte er.
Vela machte eine undeutbare Geste. »Das überlasse ich dir. Wenn du lieber in Ketten hinter einem Pferd hermarschieren möchtest, als meine Gesellschaft zu ertragen, so ist das deine Wahl. Aber ich glaube, wir haben zu reden.«
Skar setzte dazu an, etwas zu sagen, schüttelte aber dann den Kopf und starrte blicklos an Vela vorbei. Die Schatten vor dem Eingang begannen zu wandern. Es roch nach heißem Staub und Schweiß.
»Gut«, sagte Vela nach einer Weile. Skar schrak auf. Er merkte erst jetzt, daß sie ihn sekundenlang angestarrt und auf eine Antwort gewartet hatte. »Vielleicht wäre es wirklich zuviel, jetzt eine Antwort von dir zu verlangen. Ich habe dir Bedenkzeit bis nach der Schlacht versprochen, und ich halte mein Wort.«
Skars Blick tastete über ihr Gesicht. Jetzt, im Halbschatten der Sänfte, sah es noch verwundbarer und schöner aus als zuvor. Ein neues, seltsames Gefühl kroch aus seinem Inneren empor, ein Empfinden, vor dem er erschrak und das er eilig wieder dorthin zu verbannen versuchte, woher es gekommen war. Das Gift begann zu wirken.
»Es ist seltsam«, murmelte er. Die Worte entstanden ohne sein Zutun, und er hörte sich selbst neugierig und mit vagem Schrecken zu. »Ich müßte dich hassen, aber ich kann es nicht.«
In Velas Augen glomm ein neugieriger Funke auf. »Was dann?« Skar lachte, sehr leise und sehr traurig. Plötzlich war kein Zorn mehr in ihm. »Mitleid«, sagte er. »Du tust mir nur noch leid, mehr nicht.«
Velas Lächeln erstarrte, aber Skar sah sie jetzt nicht mehr an, sondern blickte weiter zu den tanzenden Schatten vor dem Ausgang hinaus.