21.

Legis' Schritte wurden langsamer; schließlich blieb sie ganz stehen, warf Skar und Mork einen raschen, warnenden Blick zu und legte den Finger auf die Lippen. Skar deutete ein Nicken an und lauschte. Das dumpfe Dröhnen schien stärker geworden zu sein, aber nach einer Weile wurde ihm klar, daß es nichts anderes als das Geräusch seines eigenen Herzschlages war, das er hörte.

Er starrte an Legis vorbei, konnte aber nichts außer vagen Schatten erkennen.

»Keinen Laut mehr jetzt«, zischte die Errish. Sie sprach in jenem raschen, gehetzten Flüsterton, den man fast ebenso weit hören konnte wie normales Reden, und Skar konnte ihre Nervosität beinahe körperlich spüren. Sie bückte sich ein wenig, tastete mit der Rechten an der Wand entlang, als hätte sie plötzlich Angst, trotz der ausreichenden Beleuchtung den richtigen Weg zu verlieren, und ging weiter.

Sie brauchten fast zehn Minuten, um die letzten dreißig Schritte zurückzulegen. Als der Gang schließlich endete, wußte Skar, warum Legis sich die letzten Schritte so übertrieben vorsichtig vorangetastet hatte.

Vor ihnen lag ein gewaltiger unterirdischer Felsendom; keine Höhle, sondern eine Welt unter der Welt, ein bizarrer Wald aus steinernen Bäumen und Büschen, fünf-, sechshundert Fuß hoch und so groß, daß sich sein gegenüberliegendes Ende in wogender Ungewißheit verlor. Gewaltige steinerne Säulen trugen die Decke, und direkt vor ihnen erstreckte sich ein Labyrinth von Felstrümmern und scharfkantigen, von Urgewalten aus dem Boden gebrochenen Brocken. Legis huschte geduckt aus dem Stollen heraus, sah sich hastig nach beiden Seiten um und ging hinter einem Felsen in Deckung. Skar folgte ihr nach sekundenlangem Zögern auf die gleiche Weise, während Mork im Stollen zurückblieb und erst auf einen auffordernden Wink der Errish hin nachkam.

Der Quorrl setzte dazu an, etwas zu sagen, aber Legis legte erneut die Finger auf die Lippen und deutete nach rechts.

Skar sah erst nach Sekunden, worauf die Errish sie hatte aufmerksam machen wollen: Zwischen den Felsen bewegten sich Schatten, täuschend klein neben den gigantischen granitenen Gebilden und nahezu unsichtbar durch ihre schuppige graue Haut. Drachen.

Skar hatte plötzlich das Gefühl, von einer unsichtbaren, eisigen Hand gestreift zu werden. Die Tiere waren noch weit entfernt; sieben, vielleicht acht, die er erkennen konnte, und mehr, sehr viel mehr, mußten sich noch in der Weite der Höhle aufhalten. Legis' Befürchtungen schienen sich bewahrheitet zu haben: Vela hatte die Errish zusammengerufen, und sie waren gekommen, aus allen Teilen der Welt und so schnell sie konnten, glaubten sie doch dem Ruf ihrer gewählten Führerin zu folgen. Wenn sie die Wahrheit erkannten - wenn sie sie überhaupt erkannten -, war es zu spät. Erst jetzt, erst als Skar die Ansammlung gewaltiger schuppiger Raubsaurier vor sich sah und die ungeheure Macht spürte - nicht die Macht Velas oder ihrer geraubten Magie, sondern die Ballung primitiver, unbeschreiblicher Kraft, die die gewaltigen Ungeheuer darstellten -, begriff er, wie teuflisch Velas Plan wirklich war. Teuflisch und genial zugleich.

Selbst die Macht, die ihr der Stein verlieh, hätte nicht ausgereicht, einen Kampf gegen die Errish zu gewinnen. Er mochte ihr Überlegenheit über eine oder auch ein Dutzend der Ehrwürdigen Frauen verleihen, aber gegen eine ganze Armee der Errish, gegen die Ehrwürdige Mutter und die geballte Kraft Elays hätte sie selbst mit seiner Hilfe versagt.

Aber die Macht der Errish beruhte zum Großteil auf ihrer Gewalt über die Drachen. Nahm man sie ihnen, wurden sie zu ganz normalen Menschen, zu Frauen, die sich in Heilkunst und der Anwendung geheimer Künste verstanden; sie waren aber keine Hexen mehr. Er hatte die wahre Bedeutung von Legis' Worten nicht begriffen, als sie ihm gesagt hatte, daß ihre Tiere ihnen nicht mehr gehorchten. Nicht wirklich.

»So hat sie es also getan«, murmelte er.

Legis sah auf. »Was?«

Skar deutete auf die Echsen. »Das ist der Quell ihrer Macht«, flüsterte er. »Sie beherrscht die Drachen. Sie spricht mit ihnen - so wie ihr es getan habt, früher. Und damit beherrscht sie euch. Die meisten jedenfalls«, schränkte er ein.

Legis biß sich auf die Unterlippe und starrte ihn an. »Unsinn«, sagte sie. »Du selbst hast mir erzählt, wie sie in den Besitz des Steines kam, und wie ...« Sie verstummte, als sie Skars Kopfschütteln sah.

»Warum belügst du dich selbst?« fragte Skar leise. »Du weißt so gut wie ich, daß es so war. Du wußtest es schon die ganze Zeit. Du sagst, eure Tiere gehorchen euch nicht mehr, aber du weißt, daß das nicht alles ist. Das ist keine Erklärung dafür, daß nur wenige - wie du und Laynanya - die Wahrheit erkannt haben.« Er deutete auf die Drachen. »Sie sind mehr als Tiere, nicht wahr?«

Legis schwieg. Ihre Lippen bildeten einen schmalen, blutleeren Strich in ihrem Gesicht, und ihr Blick flackerte. Skar begriff plötzlich, daß er mehr als eine einfache Frage gestellt hatte. Vielleicht war er - ohne es zu wollen - auf das größte und bestgehütete Geheimnis der Errish gestoßen: den Schlüssel zu ihrer Macht. »Ja«, gestand sie schließlich. »Sie sind mehr als Tiere - sie sind überhaupt keine Tiere. Sie ... denken. Aber anders als du und ich, und auch anders als du«, fügte sie mit einem Blick auf Mork, der ihrer Unterhaltung mit unbewegtem Gesicht folgte und immer wieder nervös zu den Echsen hinüberstarrte, hinzu.

»Und ihr redet mit ihnen?«

»Nein.« Legis atmete hörbar ein. »Es ist kein Reden. Es ist...« Sie brach ab, starrte einen Herzschlag lang zu Boden und schüttelte den Kopf. »Ich müßte euch töten«, sagte sie plötzlich. »Niemand darf dieses Geheimnis kennen. Kein Quorrl und kein Satai, niemand, der nicht der Kaste der Errish angehört.«

»Vielleicht müßtest du das«, sagte Mork ungerührt. »Aber du hättest uns auch dafür töten müssen, daß wir überhaupt hierhergekommen sind. Und wenn wir versagen, spielt es ohnehin keine Rolle mehr, ob euer großes Geheimnis gelüftet ist oder nicht. Dann wird es nämlich bald keine Satai und Quorrl mehr geben. Und auch keine Errish.«

»Ich kann euch nicht erklären, was es ist«, sagte Legis leise. »Wir wachsen zusammen mit unseren Echsen auf, und wenn sie sterben, dann sterben auch wir. Es ist, als wären wir eins - ein Wesen in mehreren Körpern. Ihr Schmerz ist unser Schmerz, und unsere Empfindungen sind ihre. Sie ...« Ihre Stimme versagte. Plötzlich und ohne Warnung begann sie zu weinen; ein krampfhaftes, mühsam zurückgehaltenes Schluchzen zuerst, das nach Sekunden von hemmungslos fließenden Tränen abgelöst wurde. »Du hast recht, Skar«, schluchzte sie. »Aber du ... du weißt nicht, was es bedeutet.« Sie verbarg das Gesicht in den Händen. Ihre Schultern zuckten. »Er ist hier«, sagte sie. »Irgendwo dort vorne. Ich ... kann ihn spüren.«

»Wer ist hier?« fragte Mork betont.

»Cariot«, antwortete Legis. Sie sah auf, schluchzte noch einmal und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, um die Tränen fortzuwischen. Der Moment der Schwäche war vorüber, und sie hatte sich wieder in der Gewalt. »Mein Drache«, fügte sie erklärend hinzu. »Er ist irgendwo hier, bei den anderen. Ich fühle ihn. Aber er ist nicht mehr der, der er war.«

»Die gleichen Worte, die du über die Margoi gesagt hast«, meinte Skar. »Nicht sie hat sich verändert, sondern ihr Tier. Wie deines. Sie kann eure Gedanken nicht unter ihren Willen zwingen, aber die der Drachen. Und die meisten von euch merken es nicht einmal. Wie viele waren es, die mit euch geflohen sind?«

»Dreißig«, antwortete Legis stockend. »Wenig mehr als zwanzig kamen lebend draußen in der Wüste an.«

»Dreißig von wie vielen? Dreihundert?«

Legis verneinte. »Es gibt nicht mehr viele Errish, Skar. Das Volk der Drachen stirbt, und mit ihm die Errish. Als wir flohen, waren hundert von uns hier.«

»Und die dreißig besten mußten fliehen«, sagte Skar nachdenklich. »Die, die ihr hätten gefährlich werden können.«

»Nicht die besten, Skar«, widersprach Legis leise. »Ich war nie eine wirklich gute Errish.« Sie lächelte traurig. »Ich habe es niemals wirklich geschafft, mit Cariots Geist zu verschmelzen, nicht wirklich. Wir waren niemals wirklich eins. Und auch die anderen nicht. Es war eher ... andersherum. Die guten, die wirklich guten Errish verfielen ihr zuerst. Unsere Macht ist die Macht über die Drachen, du hast recht. Aber es ist auch unser Fluch. Ich wollte es nicht wahrhaben, keiner von uns wollte es wissen, und wir haben die Wahrheit verleugnet, aber gerade unsere Stärke war es, die Vela den Weg ebnete.«

»Und Laynanya?«

»Oh, sie ist mächtig - ich habe die Wahrheit gesagt, als wir über sie sprachen. Aber ihr Drache ist alt und wird bald sterben, und seine Gedanken sind nicht mehr klar.«

Die Erklärung befriedigte Skar ganz und gar nicht, aber er drang nicht weiter in Legis. Die Errish wirkte äußerlich jetzt wieder gefaßt, aber er wußte, daß dieser Eindruck täuschen konnte. Die Errish stand unter einem ungeheuren seelischen Druck, einem Druck, unter dem die meisten anderen Menschen bereits zerbrochen wären, und schon ein einziges unbedachtes Wort konnte den endgültigen Zusammenbruch herbeiführen.

Auch Mork schien zu spüren, was in der Errish vorging. Er warf Skar einen raschen, warnenden Blick zu, räusperte sich übertrieben und deutete mit einer Kopfbewegung in die Höhle hinein. »Gibt es einen Weg dort hindurch?« fragte er. »Einen, auf dem uns die Drachen nicht entdecken?«

Legis schüttelte den Kopf. »Nein. Wir müssen es riskieren. Aber wir haben eine Chance. Sie sehen nicht sehr gut. Wenn wir ihnen nicht zu nahe kommen, so daß sie uns nicht wittern können, und wir keinen Lärm machen, können wir es schaffen.«

»Das gefällt mir nicht«, murrte der Quorrl.

»Mir auch nicht«, sagte Skar. »Aber niemand hat dich gezwungen mitzukommen. Vielleicht tust du dich mit Herger zusammen und wartest hier unten, bis wir zurück sind.«

Mork schenkte ihm einen bösen Blick, schwieg aber.

»Wir müssen es riskieren«, sagte Legis. »Und wir müssen uns beeilen - ich fürchte, wir sind selbst hier unten nicht sicher. Gehen wir zurück und holen die anderen.«

Sie wollte aufstehen, aber Skar hielt sie mit einer raschen Bewegung fest. »Es reicht, wenn einer von uns geht«, sagte er. »Bleib mit Mork hier und halt die Augen auf - ich beeile mich.« Er stand unverzüglich auf, warf einen Blick zu den Drachen hinüber und rannte los.

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