9. Geschichtentauscher

Es gab einmal eine Zeit, wie sich Geschichtentauscher gut erinnern konnte, da er einen Baum besteigen und über Hunderte von Quadratmeilen dichten Wald blicken konnte. Eine Zeit, da Eichen hundert Jahre alt wurden oder älter, eine Zeit, da der Wald so dicht war, daß er kaum vom Licht der Sonne durchdrungen wurde.

Doch diese Welt ewiger Dämmerung verging mehr und mehr. Zwar gab es noch immer Gegenden, wo Rote leise dem Wild nachschlichen und wo Geschichtentauscher das Gefühl hatte, sich in der Kathedrale Gottes zu befinden. Doch solche Stellen waren inzwischen so selten geworden, daß Geschichtentauscher in diesem letzten Jahr der Wanderschaft nicht einen Tag gereist war, an dem er einen Baum hätte erklimmen können, ohne im Walddach eine Unterbrechung wahrzunehmen. Das ganze Land zwischen dem Hio und dem Wobbish wurde besiedelt, langsam aber gleichmäßig, und schon jetzt konnte Geschichtentauscher von einem Hügel aus drei Dutzend Kochfeuer erblicken, die ihre Rauchsäulen geradewegs in die kalte Herbstluft emporschickten. Und in jeder Richtung hatte man den Wald gerodet, hatte das Land gepflügt, es bepflanzt und beackert und hatte geerntet, so daß dort, wo einst große Bäume die Erde vor dem Auge des Himmels abgeschirmt hatten, der Boden nun nackt war und darauf wartete, daß der Winter seine Scham bedeckte.

Geschichtentauscher erinnerte sich an seine Vision vom betrunkenen Noah: Noah, nackt, mit offenhängendem Mund, ein halb ausgegossener Becher, der noch immer an seinen gekrümmten Fingern hing; Cham, nicht weit entfernt, verächtlich lachend; und Japheth und Sem, die sich rückwärts näherten, um einen Mantel über ihren Vater zu legen, damit sie nicht erblickten, was ihr Vater in seiner Trunkenheit offengelegt hatte. Voller Erregung begriff Geschichtentauscher, daß genau diesen Anblick jener prophetische Augenblick vorhergesagt hatte. Daß er, Geschichtentauscher, hoch in einem Baumwipfel sitzend, das nackte Land in seinem Stupor daliegen sah, wie es auf die keusche Bedeckung des Winters wartete. Es war eine erfüllte Prophezeiung, etwas, auf das man zwar hoffte, das man im eigenen Leben aber nicht erwarten durfte.

Andererseits war die Geschichte vom betrunkenen Noah möglicherweise überhaupt keine Figurine dieses Augenblicks. Warum sollte es nicht umgekehrt sein? Warum nicht das gerodete Land als Figurine des trunkenen Noah?

Als er den Baum hinabgestiegen war, war Geschichtentauscher in übler Stimmung. Er dachte nach und dachte nach, versuchte seinen Geist zu öffnen, um Visionen zu schauen, um ein guter Prophet zu sein. Doch jedes Mal, wenn er glaubte, daß er etwas fest in den Griff bekommen hatte, verschob es sich, veränderte es sich. Er dachte einen Gedanken zuviel, und schon löste sich das ganze Gewebe wieder auf, und er war ebenso verunsichert wie zuvor.

Am Fuße des Baumes öffnete er sein Bündel. Daraus holte er das Buch der Geschichten hervor, das er damals, im Jahre '85 für den Alten Ben gemacht hatte. Vorsichtig schnallte er den versiegelten Teil auf, dann schloß er die Augen und blätterte in den Seiten. Er öffnete die Augen wieder und fand seinen Finger auf den Sprichwörtern der Hölle ruhend. Natürlich — in einer solchen Zeit! Sein Finger berührte zwei Sprichworte, beide von eigener Hand geschrieben. Das eine hatte eine besondere Bedeutung, das andere jedoch schien passend. »Ein Narr sieht nicht denselben Baum, den ein Weiser sieht.«

Doch je mehr er versuchte, die Bedeutung dieses Sprichworts für diesen Augenblick zu erkennen, um so weniger Verbindungen zur Gegenwart entdeckte er, mit Ausnahme dessen, daß es eben Bäume erwähnte. Daher versuchte er es schließlich doch mit dem ersten Sprichwort: »Wenn der Tor in seiner Torheit beharrlich wäre, würde er weise werden.«

Aha! Es sagte ihm also doch etwas. Dies war die Stimme der Prophezeiung, festgehalten, als er in Philadelphia lebte, noch bevor er seine Reise überhaupt begonnen hatte, in einer Nacht, da das Buch der Sprichworte für ihn zum Leben erwacht war und er wie in Flammenschrift die Wörter erblickte, die darin enthalten sein sollten. In jener Nacht war er so lange aufgeblieben, bis das Licht der Morgendämmerung die Feuer der Seiten zum Erlöschen gebracht hatte. Als dann der Alte Ben die Treppen heruntergepoltert kam, um sich vor dem Frühstück hereinzumuffeln, war er stehengeblieben und hatte schnüffelnd die Luft geprüft. »Rauch«, hatte er gesagt. »Hast du versucht, das Haus abzubrennen, Bill?«

»Nein, Sir«, hatte Geschichtentauscher geantwortet, »aber ich habe eine Vision davon gehabt, was Gott mit dem Buch der Sprichworte sagen wollte, und ich habe sie niedergeschrieben.«

»Du bist von Visionen besessen«, hatte der Alte Ben geantwortet. »Die einzige wirkliche Vision stammt nicht von Gott, sondern aus den innersten Verstecken, des menschlichen Geistes. Wenn du willst, kannst du das gern als Sprichwort aufschreiben. Es ist viel zu agnostisch, als daß ich es für den Poor Richard's Almanac benutzen könnte.«

»Schaut!» hatte Geschichtentauscher gesagt.

Der Alte Ben hatte hingesehen und die letzten Flammen erblickt, wie sie gerade erloschen. »Hm, wenn das nicht eine äußerst ungewöhnliche Art ist, mit Buchstaben zu verfahren! Und du hast mir gesagt, daß du kein Zauberer wärst!«

»Das bin ich auch nicht. Gott hat mir dies gegeben.«

»Gott oder der Teufel? Wenn du von Licht umgeben bist, Bill, woher willst du da wissen, daß es die Herrlichkeit Gottes ist und nicht die Flammen der Hölle?«

»Ich weiß es nicht«, hatte Geschichtentauscher voller Verwirrung geantwortet. Weil er damals noch jung gewesen war, noch nicht einmal dreißig, war er in der Gegenwart des großen Mannes leicht zu verwirren gewesen.

»Oder vielleicht hast du selbst es dir auch gegeben, weil du die Wahrheit so eindringlich haben wolltest.«

Der Alte Ben hatte den Kopf schräg gelegt, um die Seiten der Stichworte durch die unteren Linsen seiner Brille zu betrachten. »Die Buchstaben haben sich richtig eingebrannt. Seltsam, nicht wahr, daß man mich einen Zauberer nennt, der ich keiner bin, und daß du, der einer bist, dich weigerst, es zuzugeben!«

»Ich bin ein Prophet. Oder… möchte einer sein.«

»Wenn eine deiner Prophezeiungen Wirklichkeit wird, Bill Blake, dann werde ich es glauben. Aber erst dann.«

In den darauf folgenden Jahren hatte Geschichtentauscher nach der Erfüllung auch nur einer einzigen Prophezeiung gesucht. Doch jedesmal, wenn er geglaubt hatte, eine solche Erfüllung gefunden zu haben, konnte er im Hinterkopf die Stimme des Alten Ben hören, der eine andere Erklärung dafür anbot und ihn dafür verhöhnte, daß er glaubte, daß eine Beziehung zwischen Prophezeiung und Realität wahr sein könnte.

»Niemals wahr«, pflegte der Alte Ben zu sagen. »Nützlich… also da ist schon etwas dran. Dein Geist stellt eine Verbindung her, die nützlich ist. Aber Wahrheit ist eine andere Sache. Das würde bedeuten, daß du eine Verbindung entdeckt hättest, die unabhängig von deiner Wahrnehmung existiert, die also existieren würde, ob du sie bemerktest oder nicht. Und ich muß feststellen, daß ich nie in meinem Leben eine solche Verbindung geschaut habe. Es gibt Zeiten, da ich den Verdacht hege, daß es keine solchen Verbindungen gibt, daß alle Verbindungen und Ähnlichkeiten nur Geschöpfe des Denkens sind und keine Substanz besitzen.«

»Warum löst sich dann der Boden unter unseren Füßen nicht auf?» hatte Geschichtentauscher gefragt.

»Weil es uns gelungen ist, ihn davon zu überzeugen, unsere Körper nicht durchzulassen. Vielleicht war es auch Sir Isaac Newton, der war ja so ein beharrlicher, überzeugender Bursche. Und wenn Menschen ihn auch anzweifeln mögen, der Erdboden tut es jedenfalls nicht, und deshalb hält er durch.«

Der Alte Ben hatte gelacht. Alles war ihm ein Spaß. Er konnte sich nicht einmal dazu aufraffen, an seinen eigenen Skeptizismus zu glauben.

Nun, da er am Fuße des Baumes saß, mit geschlossenen Augen, stellte Geschichtentauscher wieder eine Verbindung her: eine Verbindung zwischen der Geschichte von Noah mit dem Alten Ben. Der Alte Ben war Cham, der die nackte Wahrheit schaute und sie auslachte, während all die treuen Söhne von Kirche und Universität rückwärts heranschritten, um sie wieder zu bedecken, damit die lächerliche Wahrheit nicht geschaut werden konnte. So hielt die Welt die Wahrheit weiterhin für kraftvoll strotzend und stolz, weil sie sie nie in einem solch schändlichen Augenblick geschaut hatte.

Das ist eine wahre Verbindung, dachte Geschichtentauscher. Das ist die Bedeutung der Geschichte. Das ist die Erfüllung der Prophezeiung. Die Wahrheit ist lächerlich, wenn wir sie sehen; und wenn wir sie verehren wollen, dürfen wir es uns niemals gestatten, sie zu schauen.

In diesem Augenblick der Entdeckung sprang Geschichtentauscher auf. Er mußte sofort jemanden finden, dem er diese große Erkenntnis mitteilen konnte, solange er selbst noch daran glaubte. Wie sein eigenes Sprichwort sagte: »Die Zisterne umschließt; der Springbrunnen fließt über.«

Wenn er seine Geschichte nicht erzählte, würde sie feucht und muffig werden, verkümmerte sie in seinem Inneren, wogegen sie frisch und tugendhaft bleiben würde, wenn er sie weitergab.

Welche Richtung sollte er nehmen? Der Waldweg, der keine drei Ruten entfernt war, führte zu einer großen weißen Kirche mit einem eichenhohen Turm — er hatte sie, auf einem Baum sitzend, keine Meile entfernt gesehen. Es war das größte Gebäude, das Geschichtentauscher seit seinem letzten Besuch in Philadelphia zu sehen bekommen hatte. Ein derart großes Gebäude, in dem sich Menschen zusammenfinden konnten, bedeutete, daß die Leute in dieser Gegend viel Platz für Neuankömmlinge zu haben schienen. Ein gutes Zeichen für einen wandernden Geschichtentauscher, der vom Vertrauen der Fremden lebte, die ihn aufnehmen und nähren konnten, obwohl er doch nichts mit sich führte, um dafür zu bezahlen, bis auf sein Buch, sein Gedächtnis, zwei kräftige Arme und stämmige Beine, die ihn zehntausend Meilen getragen hatten und noch mindestens fünftausend weitere schaffen würden.

Der Weg war zerfurcht von Wagenspuren, was bedeutete, daß er viel benutzt wurde. An den niedrigen Stellen war er mit Bohlen verstärkt, so daß die Wagen im regendurchtränkten Boden nicht einsackten. Der Ort war also anscheinend auf dem Weg, eine Stadt zu werden. Möglicherweise bedeutete die große Kirche gar keine Offenheit — vielleicht kündete sie eher von Ehrgeiz. Darin liegt die Gefahr, wenn man irgend etwas beurteilt, dachte Geschichtentauscher; es gibt hundert mögliche Ursachen für jede Wirkung und hundert mögliche Wirkungen für jede Ursache. Er dachte daran, diesen Gedanken niederzuschreiben, entschied sich jedoch dagegen. Denn er trug keinerlei Spuren außer denen seiner eigenen Seele — weder die Markierungen des Himmels noch die der Hölle. Daran erkannte er, daß er ihm nicht gegeben worden war. Er hatte den Gedanken selbst erzwungen. Also konnte er keine Prophezeiung und folglich auch nicht wahr sein.

Der Weg endete auf einer Gemeinschaftsweide unweit vom Fluß, wie Geschichtentauscher am Geruch des strömenden Wassers erkannte. Um die Weide herum waren mehrere Gebäude verteilt, das größte aber war ein gekalktes, zweistöckiges Brettergebäude mit einem kleinen Schild, auf dem stand: ›Weaver's‹.

Wenn ein Haus ein Schild trägt, überlegte Geschichtentauscher, dann bedeutet das in der Regel, daß der Besitzer möchte, daß die Leute es erkennen, auch wenn man ihnen nie den Weg gesagt hat, was wiederum nichts anderes heißt, als daß das Haus für Fremde offensteht. Also schritt Geschichtentauscher darauf zu und klopfte an.

»Einen Moment!» ertönte ein Ruf im Inneren. Geschichtenerzähler wartete auf der Veranda. An einem Ende hingen mehrere Körbe, von denen die langen Blätter verschiedener Kräuter herabbaumelten. Geschichtentauscher erkannte viele von ihnen, die für unterschiedliche Zwecke nützlich waren, etwa für das Heilen, das Finden, das Versiegeln und das Erinnern. Er erkannte auch, daß die Körbe so angeordnet waren, daß sie, von einem bestimmten Punkt nahe dem Boden der Tür aus betrachtet, ein vollkommenes Hexagramm bildeten. Dieser Effekt war sogar derart deutlich, daß Geschichtentauscher sich zuerst niederkauerte und schließlich sogar auf den Boden der Veranda legte, um es richtig zu erkennen. Die Farben, die an den genau richtigen Stellen an den Körben angebracht waren, bewiesen, daß es kein Zufall war. Es war ein ausgezeichnetes Schutzhexagramm, auf die Eingangstür ausgerichtet.

Geschichtentauscher versuchte sich zu überlegen, warum jemand einen solch mächtigen Zauber errichten und doch danach streben sollte, ihn zu verbergen. Ja, Geschichtentauscher war wahrscheinlich die einzige Person weit und breit, die die Macht eines Hexagramms hinreichend spürte, um darauf aufmerksam zu werden. Er lag noch immer auf dem Boden und grübelte darüber nach, als die Tür aufging und ein Mann fragte: »Seid Ihr so müde, Fremder?«

Geschichtentauscher sprang auf. »Habe nur Eure Kräuteranordnung bewundert. Ein erstaunlicher Garten, Sir.«

»Es ist der Garten meiner Frau«, erwiderte der Mann.

»Sie beschäftigt sich ständig damit. Muß alles genau so haben.«

War der Mann ein Lügner? Nein, entschied Geschichtentauscher. Er wollte nicht die Tatsache verbergen, daß die Körbe und die heraushängenden, miteinander verschlungenen Blätter ein Hexagramm ergaben. Er wußte es einfach nicht. Irgend jemand — wahrscheinlich seine Frau — hatte unbemerkt einen Schutz für dieses Haus errichtet.

»Sieht mir genau richtig aus«, meinte Geschichtentauscher.

»Ich habe mich schon gewundert, wie jemand hier eintreffen kann, ohne daß ich den Wagen oder das Pferd höre. Aber so, wie Ihr ausseht, seid Ihr wohl zu Fuß gekommen.«

»Das bin ich in der Tat, Sir«, erwiderte Geschichtentauscher.

»Und euer Bündel erscheint mir auch nicht voll genug, um viele Tauschobjekte enthalten zu können.«

»Ich tausche auch keine Dinge, Sir«, sagte Geschichtentauscher.

»Was denn? Was läßt sich außer Dingen schon handeln und tauschen?«

»Arbeit, zum Beispiel«, erwiderte Geschichtentauscher. »Ich arbeite für Kost und Unterkunft.«

»Für einen Wanderer seid Ihr schon ein alter Mann.«

»Ich bin Siebenundfünfzig geboren, so daß mir noch gut siebzehn Jahre bleiben, bis ich meine dreimal zwanzig und zehn Jahre aufgebraucht habe. Und außerdem verfüge ich über einige Talente.«

Sofort schien der Mann zurückzuweichen. Nicht etwa körperlich — es waren seine Augen, die plötzlich einen distanzierten Ausdruck bekamen, als er sagte: »Meine Frau und ich erledigen unsere eigene Arbeit hier, da unsere Söhne noch recht klein sind. Wir bedürfen keiner Hilfe.«

Nun stand eine Frau hinter ihm, ein Mädchen, das noch jung genug war, um kein verhärmtes und verwittertes Gesicht zu haben, obgleich sie ernst aussah. Sie trug einen Säugling in den Armen und wandte sich an ihren Mann an.

»Wir haben genug, um heute abend noch einen weiteren Esser zu beköstigen, Brustwehr…«

Die Miene ihres Mannes verhärtete sich. »Meine Frau ist großzügiger als ich, Fremder. Ich werde es Euch geradeheraus sagen. Ihr habt davon gesprochen, ein paar Talente zu besitzen, und nach meiner Erfahrung bedeutet das, daß Ihr möglicherweise behaupten könntet, über geheime Kräfte zu verfügen. Derlei Dinge werde ich in einem christlichen Haus nicht dulden.«

Geschichtentauscher musterte ihn scharf und blickte dann verständnislos zu der Frau. So standen die Dinge also: Sie arbeitete mit Zaubern und Beschwörungen, die sie vor ihrem Mann verbergen konnte, während er jedes Anzeichen davon ablehnte. Wenn ihr Mann jemals die Wahrheit erfahren würde, fragte sich Geschichtentauscher, was würde dann wohl mit der Frau geschehen? Der Mann — Brustwehr — schien zwar nicht von der mordlustigen Art zu sein, doch konnte man nie wissen, welch Gewalttätigkeit durch die Adern eines Mannes strömen mochte, nachdem die Fluten des Zorns erst einmal die Dämme durchbrochen hatten.

»Ich verstehe Eure Vorsicht, Sir«, antwortete Geschichtentauscher.

»Ich weiß, daß Ihr Euren Schutz habt«, sagte Brustwehr. »Ein einsamer Mann, der die ganze Zeit zu Fuß durch die Wildnis schreitet? Die bloße Tatsache, daß Ihr noch immer Euer Haar auf dem Kopf tragt, besagt doch schon, daß Ihr die Roten abgewehrt haben müßt.«

Geschichtentauscher grinste, zog seine Mütze vom Kopf und zeigte seine Glatze. »Ist das eine wirkliche Abwehr, sie mit der gespiegelten Herrlichkeit der Sonne zu blenden?» fragte er. »Für meinen Skalp bekommen sie jedenfalls keinen Lohn.«

»Um die Wahrheit zu sagen«, meinte Brustwehr, »so sind die Roten in dieser Gegend friedlicher als die meisten. Der einäugige Prophet hat sich am anderen Ende des Wobbish eine Stadt gebaut, wo er die Roten lehrt, keinen Schnaps zu trinken.«

»Das ist ein guter Rat für jeden Menschen«, meinte Geschichtentauscher. Und er dachte: ein Roter Mann, der sich selbst Prophet nennt. »Bevor ich wieder von hier fortgehe, muß ich diesen Mann kennenlernen und mit ihm ein paar Worte wechseln.«

»Mit Euch wird er wohl nicht sprechen«, wandte Brustwehr ein. »Es sei denn, Ihr könntet Eure Hautfarbe verändern. Seit er vor ein paar Jahren seine erste Vision hatte, hat er zu keinem Weißen mehr gesprochen.«

»Wird er mich töten, wenn ich es versuchen sollte?«

»Unwahrscheinlich. Er lehrt sein Volk, keine Weißen zu töten.«

»Das ist ebenfalls ein guter Rat«, meinte Geschichtentauscher.

»Gut für die Weißen, aber möglicherweise nicht unbedingt für die Roten. Es gibt Leute wie dieser sogenannte Gouverneur Harrison unten in Carthage City, die den Roten nur Böses wünschen, ob sie friedlich sind oder nicht.«

Brustwehr wirkte immer noch gereizt, doch immerhin sprach er, noch dazu aus ehrlichem Herzen. Geschichtentauscher traute jenen Menschen sehr viel, die ihre Meinung allen mitteilten, sogar Fremden und Feinden. »Jedenfalls«, fuhr Brustwehr fort, »glauben nicht alle Roten an die friedlichen Worte des Propheten. Jene, die Ta-Kumsaw folgen, schüren Unruhe, unten am Hio, und sehr viele Leute ziehen nach Norden ins obere Wobbish-Land. Es wird Euch also nicht an Häusern fehlen, die willens sind, einen Bettler aufzunehmen — auch dafür könnt Ihr den Roten danken.«

»Ich bin kein Bettler, Sir«, antwortete Geschichtentauscher. »Wie ich schon sagte, ich bin bereit zu arbeiten.«

»Zweifellos mit Talenten und verborgener List.«

Die Feindseligkeit des Mannes stand im krassen Widerspruch zur sanften, willkommenden Art seiner Frau. »Was habt Ihr denn für Fertigkeiten, mein Herr?» fragte die Frau. »Eurer Rede nach zu urteilen, seid Ihr ein gebildeter Mann. Ihr seid doch wohl kein Lehrer, oder?«

»Meine Fertigkeit drückt sich bereits in meinem Namen aus«, antwortete er. »Geschichtentauscher. Ich habe das Talent zum Geschichtenerzählen.«

»Sie zu erfinden? Hierzulande nennen wir so etwas Lügen.«

Je mehr die Frau versuchte, sich mit Geschichtentauscher anzufreunden, um so kühler wurde ihr Ehemann.

»Ich habe das Talent, Geschichten zu behalten. Aber ich erzähle nur jene, von denen ich glaube, daß sie wahr sind, Sir. Und ich bin auch nur schwer zu überzeugen. Wenn Ihr mir Eure Geschichten erzählt, werde ich Euch meine erzählen, und an diesem Tausch würden wir beide gewinnen, da niemand von uns das verliert, womit er angefangen hat.«

»Ich habe keine Geschichten«, sagte Brustwehr, obwohl er gerade eine Geschichte vom Propheten und eine andere von Ta-Kumsaw erzählt hatte.

»Das ist eine traurige Nachricht, und wenn dem so sein sollte, dann bin ich tatsächlich ans falsche Haus geraten.«

Geschichtentauscher erkannte, daß er wirklich besser weiterzog. Selbst wenn Brustwehr nachgab und ihn einließ, würde er von Mißtrauen umgeben bleiben, und Geschichtentauscher konnte nirgendwo leben, wo die Leute ihn die ganze Zeit genau beobachteten. »Ich wünsche Euch einen guten Tag.«

Doch Brustwehr ließ ihn nicht so leicht ziehen. Er nahm Geschichtentauschers Worte als Herausforderung. »Warum sollte das traurig sein? Ich lebe ein ruhiges, gewöhnliches Leben.«

»Keinem Menschen erscheint sein eigenes Leben als gewöhnlich«, erwiderte Geschichtentauscher, »und wenn er sagt, daß es so sei, so ist das eine Geschichte von jener Art, wie ich sie nie erzähle.«

»Heißt Ihr mich etwa einen Lügner?» wollte Brustwehr wissen.

»Ich frage Euch nur, ob Ihr einen Ort wißt, wo mein Talent willkommen wäre.«

Geschichtentauscher sah, wenngleich Brustwehr es nicht tat, wie die Frau mit den Fingern der rechten Hand eine Beruhigung durchführte und mit der Linken das Handgelenk ihres Mannes hielt. Es war sehr geschmeidig ausgeführt, und der Mann mußte schon sehr gut daran gewöhnt sein, da er sich spürbar entspannte, als sie ein Stück vortrat, um zu antworten. »Freund«, sagte sie, »wenn Ihr den Weg hinter jenem Hügel dort nehmt und ihm bis ans Ende folgt, über die Brücken zweier Bäche, so gelangt Ihr zum Haus von Alvin Miller, und ich weiß, daß man Euch dort aufnehmen wird.«

»Ha«, sagte Brustwehr.

»Danke«, erwiderte Geschichtentauscher. »Aber woher könnt Ihr so etwas wissen?«

»Sie werden Euch so lange aufnehmen, wie Ihr bleiben wollt, und Euch nie fortschicken, solange ihr Bereitschaft zeigt, ihnen zur Hand zu gehen.«

»Bereit bin ich stets, Milady«, sagte Geschichtentauscher.

»Immer bereit?» fragte Brustwehr. »Niemand ist immer bereit. Ich dachte, Ihr würdet stets die Wahrheit sagen.«

»Ich sage stets, was ich glaube. Ob es auch die Wahrheit ist, dessen bin ich mir ebensowenig gewiß wie jeder andere Mensch.«

»Warum nennt Ihr mich dann ›Sir‹, obwohl ich kein Ritter bin, und nennt sie ›Milady‹, obwohl sie von ebenso gemeiner Herkunft ist wie ich?«

»Oh, ich glaube nicht an die Ritterschläge des Königs, deshalb. Der heißt einen Mann einen Ritter, weil er ihm einen Gefallen schuldig ist, ob es ein wahrer Ritter sein mag oder nicht. Und alle seine Damen an seinem Hof werden ›Ladys‹ genannt, für das, was sie zwischen den königlichen Laken tun. So werden diese Worte unter den Cavaliers benutzt — die Hälfte der Zeit nichts als Lügen. Aber Eure Frau, Sir, hat wie eine wahre Lady gehandelt, anmutig und gastfreundlich. Und Ihr, Sir, habt Euch wie ein wahrer Ritter verhalten, indem Ihr Euren Haushalt vor den Gefahren geschützt habt, die Ihr am meisten fürchtet.«

Brustwehr lachte laut los. »Ihr redet so einschmeichelnd daher, daß ich wetten will, Ihr müßt eine halbe Stunde am Salz lutschen, um den Zuckergeschmack wieder aus dem Mund zu bekommen.«

»Das ist meine Fertigkeit«, erwiderte Geschichtentauscher. »Aber ich habe auch andere Möglichkeiten zu sprechen, wenn es die rechte Zeit dafür ist. Ich wünsche Euch einen guten Nachmittag, ebenso Eurer Frau und Euren Kindern und Eurem christlichen Hause.«

Geschichtentauscher schritt auf das Gras der Gemeindeweide hinaus. Die Kühe beachteten ihn nicht, weil er tatsächlich einen Schutz hatte, wenngleich nicht von jener Sorte, wie Brustwehr sie jemals zu sehen bekommen würde. Geschichtentauscher saß eine Weile im Sonnenschein da, um sein Gehirn aufzuwärmen, in der Hoffnung, daß ihm ein Gedanke käme. Doch es funktionierte nicht. Er hatte fast nie einen wertvollen Gedanken am Nachmittag. Wie das Sprichwort sagte: »Denke am Morgen, handle zu Mittag, iß am Abend, schlafe in der Nacht.«

Jetzt war es zu spät fürs Denken, zu früh fürs Essen.

Er schritt den Weg zur Kirche entlang, die ein gutes Stück von der Weide entfernt war. Wenn ich ein wirklicher Prophet wäre, dachte er, wüßte ich, wie es um mich stünde. Ich wüßte, ob ich einen Tag hierbliebe oder eine Woche oder einen Monat. Ich wüßte, ob Brustwehr mein Freund sein würde, wie ich hoffe, oder mein Feind, wie ich befürchte. Ich wüßte, ob seine Frau sich eines Tages befreien würde, um ihre Kräfte in aller Offenheit zu verwenden. Ich wüßte, ob ich diesem Roten Propheten einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde.

Doch solcherlei Gedanken führten zu nichts, wie er genau wußte. Das war die Art Sehen, die eine Fackel beherrschte — er hatte oft genug mitangesehen, wie sie es taten, und es hatte ihn mit Furcht erfüllt, denn es war nicht gut, wenn ein Mensch allzuviel von seinem Lebensweg im voraus wußte. Nein, was er sich als Fertigkeit wünschte, war die Gabe der Prophezeiung, nicht die kleinen Handlungen von Männern und Frauen in ihren kleinen Winkeln der Welt zu schauen, sondern vielmehr den großen Strom der Ereignisse, wie sie von Gott gelenkt wurden. Oder von Satan — da war Geschichtentauscher nicht wählerisch, denn beide besaßen eine recht gute Vorstellung davon, was sie mit der Welt vorhatten, so daß wahrscheinlich jeder von ihnen einige Dinge über die Zukunft wußte. Natürlich war es wahrscheinlich angenehmer, von Gott zu hören. Die Spuren des Bösen, mit denen er bisher in seinem Leben in Verbindung geraten war, hatten alle auf die eine oder andere Weise Schmerzen verursacht.

Die Kirchentür stand offen, denn es war ein warmer Herbsttag. Das Gotteshaus wirkte innen ebenso stattlich wie außen, doch um einiges freundlicher: ein heller und luftiger Ort mit gekalkten Wänden und Glasfenstern. Sogar die Bänke und die Kanzel waren von hellem Holz. Dunkel hier war einzig der Altar, so daß er sofort seine Aufmerksamkeit erregte. Und weil er ein Talent für diese Art von Dingen besaß, entdeckte er auf ihm Spuren einer Flüssigkeit.

Langsam schritt er auf den Altar zu, langsam, weil so ein Ding eigentlich nicht in einer christlichen Kirche hätte stehen dürfen. Als er näher gekommen war, gab es jedoch keinen Zweifel mehr. Es war die gleiche Spur, die er auf dem Gesicht des Mannes in DeKane gesehen hatte, der seine eigenen Kinder zu Tode gequält und es den Roten angelastet hatte. Dieselbe Spur hatte er auf dem Schwert wahrgenommen, das George Washington geköpft hatte. Es war wie eine dünne Schicht schmutzigen Wassers, unsichtbar, es sei denn, man blickte es aus einem bestimmten Winkel an. Doch für Geschichtentauscher war es immer sichtbar — er hatte ein Auge dafür.

Er streckte die Hand vor und legte den Zeigefinger vorsichtig auf die deutlichste Spur. Es bedurfte all seiner Kraft, ihn auch nur einen Augenblick dort zu behalten, so sehr brannte es, es ließ seinen ganzen Arm zittern und schmerzen bis hinauf zur Schulter.

»Ihr seid willkommen im Haus Gottes«, sagte eine Stimme.

Geschichtentauscher, der seinen verbrannten Finger in den Mund gesteckt hatte, drehte sich zu dem Sprechenden um. Der Mann war wie ein Prediger des Schottischen Ritus gekleidet — ein Presbyterianer, wie man sie hier in Amerika nannte.

»Ihr habt Euch doch wohl keinen Splitter zugezogen, oder?» fragte der Prediger.

Es wäre leichter gewesen, einfach nur zu sagen: »Ja, ich habe mir einen Splitter zugezogen.«

Doch Geschichtentauscher erzählte nur Geschichten, die er auch glaubte. »Prediger«, sagte Geschichtentauscher, »der Teufel hat seine Hand auf diesen Altar gelegt.«

Sofort verschwand das fröhliche Lächeln des Predigers. »Woher wißt Ihr, daß es der Handabdruck des Teufels ist?«

»Die Fähigkeit zu sehen ist eine Gabe Gottes«, sagte Geschichtentauscher.

Der Prediger musterte ihn eindringlich, unsicher, ob er ihm glauben sollte oder nicht. »Dann könntet Ihr also auch feststellen, was von Engeln berührt wurde?«

»Ich glaube, ich könnte Spuren feststellen, wenn gute Geister eingegriffen hätten. Ich habe solche Markierungen schon gesehen.«

Der Prediger hielt inne, als wollte er eine sehr wichtige Frage stellen, als würde er sich aber auch vor der Antwort fürchten. Dann erschauerte er, das Verlangen nach Aufklärung wich von ihm, und nun sprach er mit einer gewissen Verachtung. »Unsinn. Das gemeine Volk könnt Ihr vielleicht narren, aber ich bin in England erzogen worden und lasse mich nicht von Gerede über verborgene Mächte in die Irre führen.«

»Oh«, sagte Geschichtentauscher. »Ihr seid ein gebildeter Mann.«

»Und Ihr ebenfalls, Eurer Rede nach zu urteilen«, meinte der Prediger. »Aus dem Süden Englands, würde ich sagen.«

»Von der Kunstakademie des Lordprotektors«, erwiderte Geschichtentauscher. »Ich bin als Kunststecher ausgebildet worden. Da Ihr vom Schotäschen Ritus seid, glaube ich, daß Ihr meine Arbeit im Buch Eurer Sonntagsschule gesehen habt.«

»Ich achte nie auf derlei Dinge«, erwiderte der Prediger. »Stiche sind eine Verschwendung von Papier, auf das man besser Worte der Wahrheit drucken sollte. Es sei denn, sie veranschaulichen Dinge, die das Auge des Künstlers tatsächlich geschaut hat, wie beispielsweise die Anatomie. Doch was der Künstler in seiner Vorstellung erschaffen mag, übt keine größere Macht auf mein Auge aus als das, was ich mir selbst vorstelle.«

Geschichtentauscher folgte diesem Gedanken bis zu seiner Wurzel. »Was, wenn der Künstler zugleich ein Prophet wäre?«

Der Prediger schloß die Augen halb. »Die Zeit der Propheten ist vorbei. Wie dieser abtrünnige Heide, dieser einäugige betrunkene Rote Mann am anderen Flußufer, sind alle, die behaupten, Propheten zu sein, heute nur noch Scharlatane. Und ich habe auch keinen Zweifel, daß, wenn Gott auch nur einen Künstler die Gabe der Prophezeiung verliehe, wir schon bald ganze Scharen von Zeichnern und Färbern hätten, die für Propheten gehalten werden wollten, vor allem dann, wenn es ihre Bezahlung erhöhte.«

Geschichtentauscher antwortete milde, doch ließ er den unausgesprochenen Vorwurf des Predigers nicht auf sich beruhen. »Ein Mann, der anderen das Wort Gottes gegen Bezahlung predigt, sollte nicht jene kritisieren, die danach streben, ihren Lebensunterhalt dadurch zu verdienen, indem sie die Wahrheit offenbaren.«

»Ich wurde geweiht«, antwortete der Prediger. »Künstler weiht niemand. Die weihen sich selbst.«

Genau, wie Geschichtentauscher es erwartet hatte. Sobald er befürchtete, daß seine Vorstellungen aus eigener Kraft nicht mehr bestehen konnten, zog sich der Prediger auf Autoritäten zurück. Vernünftige Streitgespräche aber waren unmöglich, wenn Autoritäten zum Schiedsrichter gemacht wurden; Geschichtentauscher kehrte zum wichtigeren Thema zurück. »Der Teufel hat seine Finger auf diesen Altar gelegt«, sagte er. »Ich habe mir den Finger verbrannt, als ich die Stelle berührt habe.«

»Ich habe mir meine Finger nie verbrannt«, meinte der Prediger.

»Das wundert mich nicht«, meinte Geschichtentauscher. »Ihr seid ja auch geweiht worden.«

Geschichtentauscher strengte sich gar nicht erst an, die Verachtung in seinem Tonfall zu verbergen, und das erzürnte den Prediger. Geschichtentauscher machte es jedoch nichts aus, wenn die Leute auf ihn wütend wurden. Es bedeutete, daß sie zuhörten und ihm wenigstens zur Hälfte glaubten. »Wenn Ihr solch scharfe Augen habt, so sagt mir doch eins«, sagte der Prediger. »Sagt mir, ob auch ein Bote Gottes den Altar berührt hat.«

Es war offensichtlich, daß der Prediger diese Frage als Prüfung verstand. Geschichtentauscher hatte keinerlei Vorstellung, welche Antwort der Prediger für die richtige hielt. Aber es spielte auch kaum eine Rolle; Geschichtentauscher würde ehrlich antworten, egal was. »Nein«, erwiderte er.

Es war die falsche Antwort. Der Prediger grinste. »Einfach so? Ihr könnt einfach so sagen, daß er es nicht getan hat?«

Geschichtentauscher überlegte sich einen Augenblick, daß der Prediger vielleicht glauben mochte, daß seine eigenen geweihten Hände die Spuren von Gottes Willen hinterlassen hätten. Diesen Gedanken würde er sofort widerlegen. »Die meisten Prediger hinterlassen keine Lichtspuren auf Gegenständen, die sie berühren. Nur sehr wenige sind jemals heilig genug dafür.«

Doch der Prediger hatte gar nicht an sich gedacht. »Jetzt habt Ihr genug geredet«, meinte er. »Ich weiß jetzt, daß Ihr ein Betrüger seid. Verlaßt meine Kirche.«

»Ich bin kein Betrüger«, antwortete Geschichtentauscher. »Ich mag mich vielleicht irren, aber ich lüge niemals.«

»Und ich glaube niemals einem Menschen, der behauptet, daß er niemals lüge.«

»Der Mensch geht immer davon aus, daß die anderen ebenso tugendhaft sind wie er selbst«, meinte Geschichtentauscher.

Das Gesicht des Predigers verfärbte sich vor Zorn. »Verschwindet von hier, sonst werfe ich Euch hinaus!«

»Ich gehe gern«, antwortete Geschichtentauscher. Forsch schritt er zur Tür hinüber. »Ich hoffe, ich werde nie in eine Kirche zurückkehren müssen, deren Prediger es nicht einmal überrascht, daß Satan seinen Altar berührt hat.«

»Es hat mich nicht überrascht, weil ich Euch nicht geglaubt habe.«

»Ihr habt mir sehr wohl geglaubt«, widersprach Geschichtentauscher. »Und Ihr glaubt auch, daß ein Engel ihn berührt hat. Das ist die Geschichte, die Ihr für wahr haltet. Aber ich sage Euch, daß kein Engel ihn berühren kann, ohne eine Spur zu hinterlassen, die ich sehen würde. Und ich sehe dort nur eine einzige Spur.«

»Lügner! Ihr selbst seid vom Teufel ausgesandt, hier im Hause Gottes Eure Nekromantie zu versuchen! Fort! Hinaus! Ich beschwöre Euch, auf daß Ihr geht!«

»Ich dachte, Männer der Kirche wie Ihr würden keine Beschwörungen ausführen.«

»Hinaus!«

Der Prediger schrie das letzte Wort so laut, daß die Adern an seiner Stirn hervortraten. Geschichtentauscher setzte seinen Hut wieder auf und schlenderte davon. Er hörte, wie hinter ihm die Tür zugeschlagen wurde. Er wanderte über eine hügelige Weide von ausgetrocknetem Herbstgras, bis er auf den Pfad stieß, der zu dem Haus hinaufführte, von dem die Frau gesprochen hatte. Dort, wo man ihn, wie sie sicher war, aufnehmen würde.

Geschichtentauscher war sich dessen jedoch nicht so sicher. Er machte niemals mehr als drei Besuche an einem Ort — wenn er beim dritten Versuch kein Haus gefunden hatte, das ihn aufzunehmen bereit war, war es besser weiterzuwandern. Dieses Mal war der erste Halt ungewöhnlich schlecht verlaufen und der zweite noch schlimmer.

Doch rührte seine Unruhe nicht nur daher, daß die Dinge schlecht liefen. Selbst wenn die Leute am letzten Ort auf den Boden fallen und seine Füße küssen würden, würde Geschichtentauscher doch ein merkwürdiges Gefühl haben, was ein Verweilen betraf. Er war in eine Stadt gefahren, die so christlich war, daß ihr führender Bürger keine verborgenen Mächte in seinem Hause duldete — und doch trug der Altar der Kirche die Spur des Teufels. Noch schlimmer war die Art der Täuschung. Die verborgenen Mächte wurden unmittelbar vor Brustwehrs Augen eingesetzt, und zwar von der Person, die er am meisten liebte und der er am meisten vertraute; während der Prediger in der Kirche davon überzeugt war, daß Gott den Altar für sich beansprucht hatte und nicht etwa der Teufel. Was konnte Geschichtentauscher da noch an diesem Ort oben auf dem Hügel anderes erwarten als noch mehr Wahnsinn, noch mehr Täuschung? Verrückte Menschen umgarnten einander, soviel wußte Geschichtentauscher aus den Erfahrungen seiner Vergangenheit.

Die Frau hatte recht: Über die Bäche führten Brücken. Doch nicht einmal das war ein gutes Zeichen. Einen Strom zu überbrücken war eine Notwendigkeit; einen Fluß zu überbrücken eine Freundlichkeit gegenüber Reisenden. Doch warum bauten sie solch komplizierte Brücken über Bäche, die so schmal waren, daß sogar ein Mann vom Alter Geschichtentauschers über sie hätte hinwegspringen können, ohne einen Fuß zu benetzen? Die Brücken waren stabil und auf beiden Ufern fest in der Erde verankert, und beide besaßen sie auch gut gedeckte Strohdächer. Es gibt Leute, die zahlen Geld dafür, um in Gasthöfen zu nächtigen, die nicht annährend so dicht und trocken sind wie diese Brücken, dachte Geschichtentauscher.

Mit Sicherheit bedeutete dies, daß die Leute am Ende des Pfads mindestens ebenso seltsam waren wie jene, die er bisher kennengelernt hatte. Mit Sicherheit hätte er sich wieder abwenden sollen. Die Vernunft verlangte, daß er fortging.

Doch Vernunft war nicht Geschichtentauschers starke Seite. So hatte der Alte Ben vor Jahren einmal zu ihm gesagt: »Du wirst eines Tages noch ins Maul der Hölle hineingehen, Bill, nur um festzustellen, warum der Teufel so schlechte Zähne hat.«

Es gab einen Grund für diese Brücken, und Geschichtentauscher spürte, daß dies eine Geschichte bedeuten würde, die es wert war, in seinem Buch festgehalten zu werden.

Schließlich war es ja nur eine Meile. Als der Pfad gerade den Anschein erweckte, als würde er in den undurchdringlichen Wald führen, machte er eine scharfe Wendung nach Norden und führte auf das schönste Anwesen, das Geschichtentauscher jemals erblickt hatte, schöner sogar als jene in den ruhigen, besiedelten Ländereien von New Orange und Pennsylvania. Das Haus war groß und gut gebaut, mit genau zugeschnittenen Holzblöcken, was bedeutete, daß es eine dauerhafte Bleibe sein sollte. Außerdem gab es Scheunen, Schuppen und Ställe, die das Anwesen fast zu einem eigenen Dorf machten. Eine Rauchfahne, die sich eine halbe Meile pfadaufwärts in den Himmel emporzog, verriet ihm, daß er wohl nicht ganz falsch geraten hatte. Es gab einen weiteren Haushalt in der Nähe, der den Pfad mit dem anderen teilte, was wiederum bedeutete, daß es sich wahrscheinlich um Verwandtschaft handelte. Zweifellos verheiratete Kinder, und alle bestellten das Land gemeinsam, um des größeren Wohlstands aller willen. Es war eine gute Sache, wußte Geschichtentauscher, wenn Brüder so aufwachsen konnten, daß sie einander gern genug hatten, um gegenseitig ihre Äcker zu pflügen.

Geschichtentauscher ging stets auf das Haus zu. Es war besser, sein Kommen sofort anzukündigen, als umherzuschleichen und für einen Räuber gehalten zu werden. Doch als er sich diesmal dem Haus nähern wollte, merkte er, wie er ganz plötzlich sehr benommen wurde und sich nicht mehr erinnern konnte, was er zu tun beabsichtigt hatte. Ein solch mächtiger Abwehrschutz ergriff ihn, daß er gar nicht spürte, wie er fortgetrieben worden war, bis er schon die halbe Strecke den Hügel hinuntergegangen war, auf ein Steingebäude neben einem Bach zu. Erblieb abrupt stehen, verängstigt, denn niemand besaß genug Macht, dachte er, um ihn zurückzudrängen, ohne daß er merkte, was geschah. Dieser Ort war ebenso seltsam wie die beiden vorhergehenden, und er wollte nichts damit zu tun haben.

Doch als er versuchte, umzukehren, denselben Weg zurückzunehmen, den er gekommen war, geschah wieder das gleiche. Er stellte fest, wie er den Hügel hinunter auf das Gebäude mit den Steinmauern zuging.

Wieder blieb er stehen, und diesmal murmelte er: »Wer immer du bist und was immer du willst, entweder gehe ich aus eigenem, freiem Willen oder überhaupt nicht.«

Sogleich spürte er in seinem Rücken eine Brise, die ihn auf das Gebäude zuschob. Aber er wußte auch, daß er umkehren konnte, wenn er wollte. Gegen den Widerstand der Brise zwar, aber er hätte es gekonnt. Das beruhigte ihn erheblich. Was immer es für Zwänge waren, die man ihm auferlegt hatte, sie waren jedenfalls nicht dazu gedacht, ihn zu versklaven. Und das, so wußte er, war eines der Merkmale eines gütigen Zaubers — und nicht der verborgenen Fesseln eines Peinigers.

Der Pfad machte eine leichte Biegung nach links, den Bach entlang, und nun erkannte er, daß das Gebäude eine Mühle war, denn es gab da einen Fluder und ein großes Rad, das sich dort befand, wo für gewöhnlich das Wasser floß. Doch heute strömte kein Wasser im Fluder, und als er nahe genug herangekommen war, um durch die riesige, scheunengroße Tür zu spähen, entdeckte er auch, warum. Die Mühle war nicht nur für den Winter geschlossen, sie war noch nie benutzt worden. Die Zahnräder waren alle angebracht, aber der große runde Mühlstein war nicht vorhanden. Es gab nur ein Fundament aus behauenen Kopfsteinen.

Die Mühle war mindestens fünf Jahre alt, nach dem Efeu und dem Moosbewuchs zu urteilen. Es war sehr viel Arbeit gewesen, dieses Mühlhaus zu bauen, und doch wurde es als gewöhnlicher Heuschober verwendet.

Im Inneren, hinter der großen Tür, schaukelte ein Wagen vor und zurück, auf dem zwei Jungen, auf einer halben Ladung Heu stehend, miteinander balgten. Die Jungen waren offensichtlich Brüder, der eine ungefähr zwölf Jahre alt, der andere vielleicht neun, und der einzige Grund, weshalb der Jüngere nicht vom Wagen geworfen wurde, war der, daß der ältere Junge sich vor Lachen kaum halten konnte. Natürlich bemerkten sie Geschichtentauscher nicht.

Sie achteten auch nicht auf den Mann, der am Rande des Heubodens stand, eine Mistgabel in der Hand, und zu ihnen hinuntersah. Geschichtentauscher glaubte erst, daß der Mann sie voller Stolz betrachtete, wie ein Vater. Doch dann kam er nahe genug, um zu erkennen, wie er die Gabel hielt. Wie einen Speer, wurfbereit. Einen einzigen Moment lang sah Geschichtentauscher vor sich, was geschehen würde — wie die Gabel geworfen wurde, sich ins Fleisch eines der Jungen bohrte und ihn mit Sicherheit tötete. Es war Mord, was Geschichtentauscher schaute.

»Nein!» rief er. Er stürzte durch die Tür, seitlich am Wagen entlang und blickte zu dem Mann auf dem Heuboden empor.

Der Mann stieß die Gabel ins Heu neben sich und hob es über den Rand auf den Wagen, wo noch immer die beiden Jungen rangelten. »Ich habe euch hierher gebracht, um zu arbeiten, ihr beiden Bärenjungen, und nicht, damit ihr miteinander balgt.«

Der Mann lächelte. Er blinzelte Geschichtentauscher zu. Ganz so, als hätte ihm nicht einen Moment zuvor die Mordlust in den Augen gestanden.

»Seid gegrüßt, junger Bursche«, sagte der Mann.

»Nicht ganz so jung«, erwiderte Geschichtentauscher. Er nahm seine Mütze ab, so daß sein kahler Schädel sein Alter verriet.

Die Jungen gruben sich wieder aus dem Heu hervor. »Weshalb habt Ihr gerufen, Mister?» fragte der Jüngere.

»Ich hatte befürchtet, daß jemand zu Schaden kommen würde«, antwortete Geschichtentauscher.

»Oh, wir ringen immer so«, meinte der ältere Junge. »Mein Name ist Alvin, genau wie mein Pa.«

Das Grinsen des Jungen wirkte ansteckend. So verängstigt er heute auch von soviel dunklen Dingen war, blieb Geschichtentauscher doch nichts andere übrig, als das Lächeln zu erwidern und die angebotene Hand zu nehmen. Alvin Junior besaß einen Handschlag wie ein erwachsener Mann, so kräftig war er. Geschichtentauscher lobte ihn deswegen.

»Oh, er hat Euch seine Fischhand gegeben. Wenn er erst einmal mit Euch ringt und kämpft, dann liebt er es, Eure Hand zusammenzuquetschen wie eine Himbeere.«

Auch der Jüngere gab ihm die Hand. »Ich bin sieben Jahre alt, und Al Junior ist zehn.«

Jünger, als sie aussahen. Beide hatten sie diesen unangenehmen, bitteren Körpergeruch, den kleine Jungen bekamen, wenn sie sehr angestrengt spielten. Aber Geschichtentauscher machte das nichts aus. Doch der Vater verwirrte ihn. War es nur eine Einbildung gewesen, daß Geschichtentauscher gedacht hatte, er wollte die Jungen töten? Welcher Mann konnte eine Mörderhand gegen solch prächtige Jungen erheben?

Der Mann hatte die Heugabel auf dem Boden gelassen, war die Leiter heruntergeklettert und kam nun mit ausgestreckten Armen auf Geschichtentauscher zu, als wollte er ihn an sich drücken.

»Willkommen, Fremder«, sagte er Mann. »Ich bin Alvin Miller, und da hier sind meine beiden jüngsten Söhne, Alvin Junior und Calvin.«

»Cally«, berichtigte ihn der Jüngere.

»Er mag es nicht, daß unsere Namen sich reimen«, meinte Alvin Junior. »Alvin und Calvin. Ihr müßt wissen, daß man ihn ähnlich genannt hat wie mich, in der Hoffnung, daß er auch mal so ein prachtvoller Mann wird. Wirklich schade, daß es nicht funktioniert hat.«

Calvin verpaßte ihm in gespieltem Zorn einen Stoß. »Soweit ich das sehe, war er nur ein erster Versuch, und als ich kam, da haben sie es endlich richtig gemacht.«

»Wir nennen sie meistens Al und Cally«, warf der Vater ein.

»Meistens nennt ihr uns ›Halt's Maul!‹ und ›Komm gefälligst her!‹«, sagte Cally.

Al Junior verpaßte ihm einen Hieb auf die Schulter und warf ihn zu Boden. Woraufhin sein Vater seinem Hinterteil den Stiefel gab und ihn kopfüber durch die Tür trat. Alles nur zum Spaß. Es wurde niemand verletzt. Wie konnte ich nur glauben, daß hier ein Mord stattfindet? dachte Geschichtentauscher.

»Habt Ihr eine Nachricht zu überbringen? Einen Brief?» fragte Alvin Miller. Nun, da die Jungen draußen waren und einander über die Weide hinweg anbrüllten, konnten die Erwachsenen sich miteinander unterhalten.

»Ich bedaure«, erwiderte Geschichtentauscher. »Ich bin nur ein gewöhnlicher Reisender. Eine junge Dame in der Stadt meinte, daß ich hier oben einen Ort zum Schlafen finden könnte. Im Austausch für irgendwelche gute, harte Arbeit, die Ihr für mich haben mögt.«

Alvin Miller grinste. »Dann laßt mich doch erst einmal sehen, wieviel Arbeit Ihr leisten könnt.«

Er schob einen Arm vor, doch nicht um seine Hand zu schütteln, und packte Geschichtentauscher am Vorderarm, gleichzeitig stemmte er seinen rechten Fuß gegen den rechten Fuß von Geschichtentauscher. »Meint Ihr, Ihr könntet mich umwerfen?» fragte Alvin Miller.

»Sagt mir eins, bevor wir anfangen«, erwiderte Geschichtentauscher, »bekomme ich ein besseres Abendessen, wenn ich Euch umwerfe oder wenn ich es nicht tue?«

Alvin Miller legte den Kopf zurück und heulte wie ein Roter. »Wie lautet Euer Name, Fremder?«

»Geschichtentauscher.«

»Nun, Mr. Geschichtentauscher, ich hoffe, daß Euch der Geschmack von Erde behagt, denn die werdet Ihr hier als erstes zu essen bekommen.«

Geschichtentauscher spürte, wie der Griff an seinem Unterarm sich verstärkte. Seine eigenen Arme waren durchaus kräftig, aber nicht so wie der Griff dieses Mannes. Doch ein Wurfwettkampf war nicht nur eine Frage der Kraft. Es gehörte auch Witz dazu. Unter Alvin Millers Druck sackte er langsam freiwillig zusammen, lange bevor er den Mann dazu gezwungen hatte, seine ganze Kraft einzusetzen. Dann riß er plötzlich mit aller Macht in dieselbe Richtung, in die Miller schob. Meistens genügte das, um einen größeren Mann zum Sturz zu bringen — doch Alvin Miller war vorbereitet, riß in die andere Richtung und schleuderte Geschichtentauscher so weit, daß er mitten zwischen den Steinen landete, die das Fundament für den fehlenden Mühlstein bildeten.

Es hatte keine böse Absicht darin gelegen, sondern nur die reine Freude am Wettkampf. Kaum lag Geschichtentauscher am Boden, als Miller ihm auch schon wieder aufhalf und fragte, ob er sich irgend etwas gebrochen habe.

»Ich bin ja nur froh, daß Euer Mühlstein noch nicht an Ort und Stelle war«, meinte Geschichtentauscher, »sonst könntet Ihr mir nämlich jetzt wieder das Gehirn in den Kopf zurückschieben.«

»Wie bitte? Ihr seid hier im Wobbish-Land, Mann! Hier draußen braucht man kein Gehirn!«

»Nun, Ihr habt mich also geworfen«, sagte Geschichtentauscher. »Bedeutet das jetzt, daß Ihr es mir nicht gestatten werdet, mir ein Bett und eine Mahlzeit zu verdienen?«

»Zu verdienen? Nein, mein Herr. So etwas dulde ich nicht.«

Doch das Grinsen auf seinem Gesicht sprach der Härte seiner Worte Hohn. »Nein, nein, Ihr könnt arbeiten, wenn ihr mögt, weil ein Mann gerne das Gefühl hat, sich sein Auskommen zu verdienen. Aber die Wahrheit ist, daß ich Euch auch bleiben ließe, wenn Ihr zwei gebrochene Beine hättet und uns keinerlei Hilfe wärt. Wir haben ein Bett, das für Euch bereit steht, und ich verwette eine Sau gegen eine Heidelbeere, daß die Jungs Faith bereits gesagt haben, sie soll noch eine Schüssel für das Abendessen bereitstellen.«

»Das ist gütig von Euch, Sir.«

»Nicht der Rede wert«, erwiderte Alvin Miller. »Seid Ihr sicher, daß Ihr Euch nichts gebrochen habt? Ihr seid wirklich ziemlich hart auf die Steine geprallt.«

»Dann nehme ich an, daß Ihr wohl lieber nachsehen solltet, ob keiner von diesen Steinen zerbrochen ist, Sir.«

Alvin lachte wieder, klopfte ihm auf den Rücken und führte ihn zum Haus.

Und was für ein Haus das war! Nicht einmal in der Hölle hätte es mehr Gekreische und Gebrüll geben können. Miller versuchte, ihm alle Kinder einzeln vorzustellen. Doch seine vier älteren Töchter waren mit einem halben Dutzend Aufgaben so beschäftigt, wie man es sich nur denken konnte, jede von ihnen im Streit mit allen anderen, von einer Zankerei zur anderen wandernd, während ihre Arbeit sie von einem Zimmer ins andere führte. Das schreiende Baby war ein Enkelkind, ebenso die fünf Kleinkinder, die auf und unter dem Eßtisch Rundköpfe und Cavaliers spielten. Die Mutter, Faith, schien das laute Drumherum gar nicht zu bemerken, während sie in der Küche arbeitete. Gelegentlich streckte sie den Arm vor, um irgendein Kind zu knuffen, doch ansonsten ließ sie sich bei ihrem Werk nicht unterbrechen — und ebensowenig in ihrem ständigen Strom von Befehlen, Zurechtweisungen, Drohungen und Beschwerden. »Wie bewahrt Ihr Euch in alledem noch den Verstand?» fragte Geschichtentauscher sie.

»Verstand?» fragte sie ihn scharf. »Meint Ihr etwa, daß jemand, der Verstand hätte, so etwas ertragen könnte?«

Miller führte ihn in einen Nebenraum: »Euer Zimmer, solange Ihr bleiben wollt.«

Ein großes Bett stand da mit einem Federkissen und mehreren Decken, und die eine Wand grenzte an den Kamin, so daß es warm war. Ein solches Zimmer hatte man Geschichtentauscher während seiner ganzen Wanderschaft noch nie angeboten. »Versprecht mir nur, daß Euer Name in Wirklichkeit nicht Prokrustes ist«, sagte er.

Miller verstand die Anspielung nicht, doch das spielte keine Rolle, denn er deutete den Ausdruck auf Geschichtentauschers Gesicht richtig. »Geschichtentauscher, wir bringen unsere Gäste nicht im schlechtesten Zimmer unter, sondern im besten. Und jetzt will ich kein Wort mehr davon hören.«

»Dann müßt Ihr mich aber auch morgen für Euch arbeiten lassen.«

»Oh, es gibt viel zu tun, wenn Ihr geschickte Hände habt. Und wenn Ihr Euch nicht schämt, Frauenarbeit zu tun, so könnte meine Frau durchaus eine Hilfe gebrauchen. Wir werden sehen, was der Tag bringt.«

Mit diesen Worte verließ Miller den Raum und schloß die Tür hinter sich.

Die Tür dämpfte den Lärm des Hauses kaum, doch er glich einer Musik, die Geschichtentauscher zu hören nichts ausmachte. Es war erst Nachmittag, doch er nahm sein Bündel ab und zog die Stiefel aus, dann ließ er sich auf der Matratze nieder. Sie raschelte wie eine Strohzecke, es lag aber eine Federmatratze obenauf, so daß sie tief und weich war. Zudem war das Stroh frisch, und an den Herdsteinen hingen getrocknete Kräuter, die ihm den Geruch von Thymian und Rosmarin verliehen. Habe ich jemals in Philadelphia auf einem solch weichen Bett geruht? Oder vorher, in England? Nicht, seitdem ich meiner Mutter Schoß verlassen habe, dachte er.

Die Art, wie die geheimen Kräfte in diesem Haus eingesetzt wurden, wirkte keineswegs zurückhaltend; das Hexzeichen war ganz offen über die Tür gemalt worden. Er erkannte das Muster wieder. Es war kein Friedensstifter, mit dem jede Gewalttätigkeit in der Seele dessen, der hier schlief, gedämpft werden sollte, auch keine Warnung oder Abwehrzeichen. Nichts davon war dazu gedacht, das Haus vor dem Gast zu schützen oder den Gast vor dem Haus. Es war lediglich zur Bequemlichkeit hergestellt worden, zu nichts sonst. Und es war vollkommen, außerordentlich fein gemalt, in den genau richtigen Proportionen. Es war nicht einfach, ein genaues Hexzeichen zu malen, da es aus Dreiern bestand. Geschichtentauscher konnte sich nicht daran erinnern, daß er jemals ein so vollkommenes Zeichen gesehen hatte.

Daher überraschte es ihn auch nicht, wie er sich auf dem Bett ausstreckte, zu spüren, daß die Muskeln seines Körpers sich entspannten, als wollten dieses Bett und dieses Zimmer die Müdigkeit einer fünfundzwanzigjährigen Wanderschaft vertreiben. Ihm fiel ein, daß er darauf hoffte, im Tod einmal das Grab als ebenso bequem wie dieses Bett zu erfahren.

Als Alvin Junior ihn wachrüttelte, duftete das ganze Haus nach Salbei, Pfeffer und gedünstetem Rindfleisch. »Ihr habt Zeit, den Abort zu benutzen, Euch zu waschen und zum Essen zu kommen«, sagte der Junge.

»Ich muß wohl eingeschlafen sein«, erwiderte Geschichtentauscher.

»Dafür habe ich das Hexzeichen auch angebracht«, meinte der Junge. »Funktioniert gut, nicht?«

Dann rannte er aus dem Zimmer.

Fast im selben Augenblick hörte Geschichtentauscher, wie eines der Mädchen dem Jungen die allerschlimmsten Drohungen an den Kopf warf. Der Streit setzte sich mit vollster Lautstärke fort, während Geschichtentauscher hinaus zum Abort ging, und als er wieder eintrat, war das Geschrei noch immer im Gange — obwohl Geschichtentauscher glaubte, daß diesmal möglicherweise eine andere Schwester schrie.

»Ich schwöre, daß ich dir heute nacht im Schlaf ein Stinktier an die Fußsohlen nähen werde, Al Junior!«

Geschichtentauscher hatte schon oft Geschrei gehört. Manchmal war es eines der Liebe, manchmal eines des Hasses. Wenn es aus dem Haß geboren war, pflegte er so schnell zu verschwinden, wie er nur konnte. In diesem Haus jedoch konnte er bleiben.

Da er sich Hände und Gesicht gewaschen hatte, war er sauber genug, daß Goody Faith es ihm gestattete, die Brotlaibe zum Tisch zu tragen — »solange ihr das Brot nicht mit Eurem schmutzigen Hemd berührt«. Dann stellte Geschichtentauscher sich in die Reihe, die Schüssel in der Hand, während die ganze Familie in die Küche marschierte und mit dem größten Teil einer Sau unter sich verteilt, wieder hervorkam.

Faith, nicht Miller selbst forderte eines der Mädchen zum Gebet auf, und Geschichtentauscher bemerkte, daß Miller nicht einmal die Augen schloß, wenngleich alle Kinder die Köpfe gesenkt und die Hände gefaltet hatten. Es war, als sei das Gebet etwas, das er zwar duldete, aber nicht ermunterte. Ohne danach fragen zu müssen, begriff Geschichtentauscher, daß Alvin Miller und der Prediger unten in der prächtigen weißen Kirche überhaupt nicht gut miteinander auskamen. Geschichtentauscher kam zu dem Schluß, daß Miller möglicherweise sogar ein Sprichwort aus seinem Buch schätzen würde: »So wie die Raupe sich die schönsten Blätter aussucht, um darauf ihre Eier zu legen, so legt der Priester seinen Fluch auf die schönsten Freuden.«

Zu Geschichtentauschers Überraschung verlief das Mahl keineswegs so laut und turbulent. Jedes Kind berichtete, was es an diesem Tag getan hatte, und alle hörten zu, manchmal Rat oder Lob aussprechend. Schließlich, als der Eintopf verzehrt war und Geschichtentauscher mit einem Stück Brot die letzten Reste in seiner Schüssel aufsaugte, wandte Miller sich ihm zu, so wie er sich an alle anderen in der Familie gewandt hatte.

»Und Euer Tag, Geschichtentauscher. Habt Ihr ihn gut verbracht?«

»Ich bin vor dem Mittag einige Meilen gewandert und habe einen Baum bestiegen«, erzählte Geschichtentauscher. »Dann sah ich einen Kirchturm, der mich zu einer Stadt führte. Dort fürchtete sich ein Christenmensch vor meinen verborgenen Kräften, obgleich er keine von ihnen sah, und ebenso ein Prediger, wenngleich dieser behauptete, daß er nicht glaubte, daß ich welche hätte. Aber ich suchte weiter nach einer Mahlzeit und nach einem Bett sowie nach einer Gelegenheit, mir beides durch Arbeit zu verdienen, und eine Frau sagte, daß die Leute am Ende eines bestimmten Wagenpfads mich aufnehmen würden.«

»Das war wohl unsere Tochter Eleanor«, meinte Faith.

»Ja«, erwiderte Geschichtentauscher. »Ich sehe jetzt, daß sie die Augen ihrer Mutter hat, die immer gelassen sind, egal, was gerade geschieht.«

»Nein, Freund«, widersprach Faith, »es ist nur, daß diese Augen Zeiten geschaut haben, seit denen es nicht mehr einfach ist, mich aus der Ruhe zu bringen.«

»Ich hoffe, daß ich die Geschichte solcher Zeiten zu hören bekommen, bevor ich wieder aufbreche«, erwiderte Geschichtentauscher.

Faith wandte den Blick ab, während sie eine weitere Scheibe Käse auf das Brot eines Enkelkinds legte.

Geschichtentauscher jedoch fuhr mit seinem Tagesbericht fort, denn er wollte nicht zeigen, daß sie ihn möglicherweise durch ihr Schweigen in Verlegenheit gebracht hatte. »Dieser Wagenpfad war äußerst merkwürdig«, sagte er. »Es gab bedeckte Brücken, die über Bäche führten, die ein Kind hätte durchwaten und ein Mann überschreiten können. Ich hoffe, die Geschichte dieser Brücken zu hören, bevor ich wieder aufbreche.«

Wieder wich alles seinem Blick aus.

»Und als ich aus dem Wald trat, fand ich eine Mühle ohne Mühlstein vor, und zwei Jungen, die auf einem Wagen rangen, und einen Müller, der mir den schlimmsten Wurf meines Lebens verpaßte, dazu eine Familie, die mich aufnahm und mir das beste Zimmer im ganzen Haus gab, obwohl ich doch ein Fremder war und obwohl sie nicht wußten, ob ich ein guter oder ein böser Mensch bin.«

»Natürlich seid Ihr gut«, warf Al Junior ein.

»Darf ich eine Frage stellen? Ich habe schon viele gastfreundliche Menschen erlebt und habe in vielen glücklichen Häusern gewohnt, aber keines war glücklicher als dieses, und keines war ganz so froh, mich zu sehen.«

Alle am Tisch verstummten. Schließlich hob Faith den Kopf und lächelte ihn an. »Ich bin froh, daß Ihr uns glücklich vorgefunden habt«, sagte sie. »Aber wir erinnern uns auch an andere Zeiten; vielleicht ist unser jetziges Glück durch die Erinnerung an das Leid größer geworden.«

»Aber warum nehmt Ihr einen Mann wie mich auf?«

Miller selbst antwortete: »Weil auch wir einmal Fremde waren und weil gute Menschen uns aufgenommen haben.«

»Ich habe eine Weile in Philadelphia gelebt, und da fällt es mir ein, Euch zu fragen, ob Ihr zu der Gesellschaft der Freunde gehört?«

Faith schüttelte den Kopf. »Ich bin Presbyterianerin. Und viele der Kinder auch.«

Geschichtentauscher sah Miller an.

»Ich bin nichts«, sagte er.

»Ein Christ ist nicht nichts«, meinte Geschichtentauscher.

»Ich bin auch kein Christ.«

»Ah«, sagte Geschichtentauscher. »Also ein Deist, wie Tom Jefferson.«

Die Kinder murmelten, als er den Namen des großen Mannes erwähnte.

»Geschichtentauscher, ich bin ein Vater, der seine Kinder liebt, ein Ehemann, der seine Frau liebt, ein Farmer, der seine Schulden bezahlt, und ein Müller ohne Mühlstein.«

Dann erhob sich der Mann vom Tisch und schritt davon. Sie hörten, wie sich die Haustür schloß.

Geschichtentauscher wandte sich Faith zu. »Oh, Milady, ich fürchte, jetzt bereut Ihr es, daß ich Euer Haus betreten habe.«

»Ihr stellt sehr viele Fragen«, meinte sie.

»Ich habe Euch meinen Namen genannt, und mein Name gibt Aufschluß über mein Tun. Wann immer ich spüre, daß es eine Geschichte gibt, die wichtig und wahr ist, so hungere ich danach. Und wenn ich sie höre und an sie glaube, dann erinnere ich mich auf alle Zeiten an sie und erzähle sie immer wieder, wo immer ich hingehe.«

»So verdient Ihr Euch Euren Lebensunterhalt?» fragte eines der Mädchen.

»Ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt, indem ich beim Ausbessern von Wagen helfe und Gräben aushebe und Fäden spinne und alles andere tue, was getan werden muß. Aber mein Lebenswerk sind Geschichten, und die tausche ich, eine gegen die andere. Ihr mögt jetzt vielleicht glauben, daß Ihr mir keine Eurer Geschichten erzählen wollt, und das behagt mir gut, denn ich habe nie eine Geschichte genommen, die nicht freiwillig erzählt wurde. Ich bin kein Dieb. Aber seht Ihr, ich habe bereits eine Geschichte — die Dinge, die mir heute widerfahren sind. Die gütigsten Menschen und das weichste Bett zwischen dem Mizzipy und dem Alph.«

»Wo ist denn der Alph? Ist das ein Fluß?» fragte Cally.«

»Wie, wollt Ihr eine Geschichte hören?» fragte Geschichtentauscher.

»Ja!» riefen die Kinder im Chor.

»Aber nicht über den Fluß Alph«, meinte Al Junior. »Den gibt es doch nicht wirklich.«

Geschichtentauscher sah ihn erstaunt an. »Woher hast du das gewußt? Hast du etwa Lord Byrons Sammlung der Dichtung von Coleridge gelesen?«

Al Junior sah etwas verwirrt um sich.

»Wir haben hier nicht viele Bücher«, erklärte Faith. »Der Prediger erteilt ihnen Bibelstunden, damit sie lesen lernen.«

»Woher wußtest du dann, daß es den Fluß Alph nicht wirklich gibt?«

Al Junior verzog das Gesicht, als wollte er sagen: Stell mir keine Fragen, wenn ich die Antworten selbst nicht kenne. »Ich möchte eine Geschichte von Jefferson hören. Ihr habt seinen Namen so ausgesprochen, als wäret Ihr ihm begegnet.«

»Oh, das bin ich auch. Ich habe auch das Schwert gesehen, mit dem George Washington geköpft wurde. Ich habe sogar König Robert den Zweiten gesehen, bevor die Franzosen sein Schiff versenkten und es ihn auf den Meeresboden herabriß.«

»Wo er auch hingehörte«, murmelte Faith.

»Wenn nicht noch tiefer«, meinte eines der älteren Mädchen.

»Dazu sage ich gerne amen. Es heißt in Appalachee, daß soviel Blut an seinen Händen klebte, daß selbst seine Knochen davon braungefärbt waren, so daß nicht einmal die gierigsten Fische daran nagen wollten.«

Die Kinder lachten.

»Noch mehr als eine Geschichte über Tom Jefferson«, sagte Al Junior, »möchte ich gerne eine Geschichte vom größten amerikanischen Zauberer hören. Ich wette, Ihr habt Ben Franklin kennengelernt.«

Wieder verblüffte ihn das Kind. Woher wußte der Junge, daß er von allen Geschichten jene über Ben Franklin am liebsten erzählte? »Ihn gekannt? O ja, ein wenig«, sagte Geschichtentauscher und wußte, daß die Art, wie er es sagte, ihnen alle Geschichten verhieß, auf die sie hoffen durften. »Ich habe nur ein halbes Jahr mit ihm zusammengelebt, und jede Nacht waren da acht Stunden, in denen ich nicht mit ihm zusammen war — daher kann ich nicht behaupten, daß ich viel über ihn weiß.«

Al Junior beugte sich über die Tischplatte, seine Augen leuchteten und zuckten nicht. »War er wirklich ein Macher?«

»Jede dieser Geschichten zu ihrer Zeit«, sagte Geschichtentauscher. »Solange Euer Vater und Eure Mutter bereit sind, mich hierzubehalten, und solange ich glaube, daß ich mich nützlich mache, werde ich bleiben und Tag und Nacht Geschichten erzählen.«

»Fangen wir mit Ben Franklin an«, beharrte Alvin Junior. »Hat er wirklich den Blitz aus dem Himmel herabgezogen?«

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