5. Nachgeburt

Kleinpeggy stand am Fenster und sah hinaus ins Gewitter. Sie konnte alle diese Herzensfeuer sehen, besonders eines, das beinahe so hell war wie die Sonne. Doch um die vielen Feuer herum war Schwärze, nein, nicht richtige Schwärze, sondern ein Nichts, wie ein Teil des Universums, den Gott nicht zu Ende erschaffen hatte, und dieses Nichts umschwirrte die Lichter, als wollte es sie voneinander fortreißen, sie davonwehen und sie verschlingen. Kleinpeggy wußte, was das für ein Nichts war. Wenn ihre Augen die heißen, gelben Herzensfeuer erblickten, sahen sie noch drei weitere Farben: das üppige Dunkelorange der Erde, die dünne Graufarbe der Luft und die tiefschwarze Leere des Wassers. Es war das Wasser, das an ihnen riß; der Fluß, nur daß sie ihn noch nie so schwarz erblickt hatte, so stark, so entsetzlich. Die Herzensfeuer wirkten so winzig in der Nacht.

»Was siehst du, Kind?» fragte Altpapi.

»Der Fluß wird sie davonschwemmen«, sagte Kleinpeggy.

»Ich hoffe nicht.«

Kleinpeggy begann zu weinen.

»Ach, Kind«, sagte Altpapi. »Es ist nicht immer so gut, so weit sehen zu können, nicht wahr?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Aber vielleicht kommt es doch nicht so schlimm, wie du glaubst.«

In diesem Augenblick sah sie, wie eines der Herzensfeuer sich von den anderen löste und in die Dunkelheit hinaustrudelte. »Oh!» rief sie und griff mit der Hand danach, als könnte sie das Licht packen und zurückhalten. Doch das konnte sie natürlich nicht.

»Sind sie verloren?» fragte Altpapi.

»Eins«, flüsterte Kleinpeggy.

»Sind Makepeace und die anderen noch nicht dort?«

»Gerade eben gekommen«, sagte sie. »Das Seil hat gehalten. Jetzt sind sie in Sicherheit.«

Altpapi fragte sie nicht, woher sie das wußte oder was sie sah. Er klopfte ihr nur auf die Schulter. »Weil du es ihnen gesagt hast. Vergiß das nicht, Margaret. Einer ist verlorengegangen, aber wenn du es nicht gesehen und nach Hilfe geschickt hättest, wären sie vielleicht alle gestorben.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte sie früher sehen müssen, Altpapi, aber ich bin eingeschlafen.«

»Und deshalb machst du dir Vorwürfe?» fragte Altpapi.

»Ich hätte Bloody Mary nicht nach mir picken lassen sollen, dann wäre Vater nicht wütend geworden, und ich wäre nicht im Bachhaus gewesen, dann hätte ich dort nicht geschlafen, und dann hätte ich Hilfe schicken…«

»So eine Blütenblattkette aus Vorwürfen können wir uns alle machen, Maggie. Das hat überhaupt nichts zu bedeuten.«

Aber sie wußte, daß es etwas bedeutete. Man machte Blinden keine Vorwürfe, wenn sie einen nicht warnten, daß man im Begriff war, auf eine Schlange zu treten — aber gewiß machte man jemandem Vorwürfe, der gesunde Augen hatte und kein Wort darüber verlor. Sie hatte gewußt, was ihre Pflicht war, seit sie das erste Mal begriffen hatte, daß andere Leuten nicht ebensoviel sehen konnten wie sie. Gott hatte ihr besondere Augen geschenkt, damit sie besser sehen und rechtzeitig Warnung geben konnte, sonst würde der Teufel ihre Seele holen. Der Teufel oder das tief schwarze Meer.

»Hat überhaupt nichts zu bedeuten«, murmelte Altpapi. Plötzlich richtete er sich ganz gerade auf, als hätte ihn ein Rammbock getroffen, und sagte: »Das Bachhaus! Natürlich, das Bachhaus.«

Er drückte sie eng an sich. »Hör mir zu, Kleinpeggy. Das war überhaupt nicht deine Schuld, und das ist die Wahrheit. Dasselbe Wasser, das im Hatrack strömt, fließt auch im Hausbach. Dasselbe Wasser, das sie umbringen wollte, wußte daher auch, daß du Warnung geben und um Hilfe schicken konntest. Darum hat es dir etwas vorgesungen und dich eingeschläfert.«

Dieser Gedanke erschien ihr durchaus einleuchtend. »Wie kann so etwas sein, Altpapi?«

»Ach, so ist das eben. Das ganze Universum besteht nur aus vier verschiedenen Sorten von Stoffen, Kleinpeggy, und jeder davon will seinen Willen bekommen.«

Peggy dachte an die vier Farben, die sie sah, wenn die Herzensfeuer glühten, und sie wußte, welche vier das waren, noch bevor Altpapi sie genannt hatte. »Feuer läßt die Dinge heiß und hell werden und verzehrt sie. Luft macht die Dinge kühl und schleicht sich überall herein. Die Erde macht die Dinge fest und dauerhaft, damit sie beständig sind. Aber das Wasser, das reißt die Dinge herunter, es fällt vom Himmel herab und nimmt alles mit, was es kann, trägt es fort und hinunter ins Meer. Wenn es nach dem Wasser ginge, wäre die ganze Welt glatt, einfach nur ein riesiger Ozean, mit nichts, das vor ihm sicher wäre. Deshalb bist du eingeschlafen. Das Wasser wollte diese Fremden mitreißen, wer immer sie sein mögen, wollte sie mitreißen und töten. Es ist ein Wunder, daß du überhaupt wach geworden bist.«

»Der Hammer des Hufschmieds hat mich aufgeweckt«, sagte Kleinpeggy.

»Das ist es also, siehst du? Der Hufschmied hat mit Eisen gearbeitet, der härtesten Erde, und mit einem heftigen Luftstoß aus dem Blasebalg und mit einem Feuer, das so heiß ist, daß es das Gras um den Kamin herum verbrennt. Das Wasser konnte ihn nicht berühren, um ihn zum Schweigen zu bringen.«

Kleinpeggy konnte es kaum glauben, doch genauso mußte es sein. Der Hufschmied hatte sie aus einem feuchtdunklen Schlaf gerissen. Der Schmied hatte ihr geholfen. Ach, das brachte einen ja fast zum Lachen, zu wissen, daß der Hufschmied diesesmal ihr Freund war!

Auf der Veranda ertönten Rufe, Türen öffneten und schlossen sich. »Ein paar Leute sind schon hier«, sagte Altpapi.

Kleinpeggy sah die Herzensfeuer dort unten und entdeckte das eine mit der größten Furcht und Pein. »Es ist ihre Mama«, sagte Kleinpeggy. »Sie bekommt gerade ein Kind.«

»Na, wenn das nicht noch Glück im Unglück ist. Eins verloren, und schon ist wieder ein Baby da, um den Tod durch das Leben zu ersetzen.«

Altpapi schlurfte hinaus, um sich hinunterzubegeben und zu helfen.

Kleinpeggy jedoch blieb einfach stehen und schaute sich an, was sie in der Ferne sah. Das verschollene Herzensfeuer war überhaupt nicht verschollen, soviel war sicher. Sie konnte es weit in der Ferne brennen sehen, trotz der ganzen Dunkelheit, mit der der Fluß versuchte, es zu bedecken. Er war gar nicht tot, war nur fortgerissen worden, und vielleicht konnte jemand ihm helfen. Sie rannte hinaus, stürzte eilig an Altpapi vorbei, lief klappernd die Stufen hinunter.

Mama packte sie am Arm, als sie gerade ins große Zimmer gelaufen kam. »Es gibt hier eine Geburt«, sagte Mama, »und wir brauchen dich.«

»Aber Mama, der eine, der den Fluß hinuntergetrieben wurde, er lebt noch!«

»Peggy, wir haben keine Zeit für…«

Zwei Jungen, die beide das gleiche Gesicht besaßen, drängten sich vor. »Der eine, der in den Fluß hinuntergerissen wurde!» rief der eine. »Immer noch am Leben!» rief der andere.

»Woher weißt du das!«

»Das kann nicht sein!«

Alles sprach so laut durcheinander, daß Mama Ruhe befehlen mußte, um sie verstehen zu können. »Es war Vigor, unser großer Bruder, er ist weggespült worden…«

»Na, jedenfalls lebt er noch«, sagte Kleinpeggy, »aber der Fluß hat ihn.«

Die Zwillinge blickten Mama bestätigungsheischend an. »Weiß sie, wovon sie redet, Goody Guester?«

Mama nickte, und die Jungen rannten zur Tür, wobei sie riefen: »Er lebt! Er lebt noch!«

»Bist du sicher?» fragte Mama heftig. »Es ist äußerst grausam, Hoffnung in ihren Herzen zu wecken, wenn es nicht wahr sein sollte.«

Mamas blitzende Augen schüchterten Kleinpeggy ein, und sie wußte nicht, was sie sagen sollte.

Doch inzwischen war Altpapi herangekommen. »Also Peg«, sagte er, »woher hätte sie denn wissen sollen, daß einer vom Fluß fortgespült wurde, wenn sie es nicht gesehen hat?«

»Ich weiß«, sagte Mama. »Aber diese Frau hat die Geburt schon viel zu lange hinausgezögert, und ich muß mich um das Baby kümmern, also komm jetzt, Kleinpeggy, ich brauche dich, damit du mir sagst, was du siehst.«

Sie führte Kleinpeggy in das Schlafzimmer neben der Küche, dorthin, wo Papa und Mama schliefen, wenn Gäste kamen. Die Frau lag auf dem Bett, hielt die Hand eines großen Mädchens fest, das tiefe und ernste Augen hatte. Kleinpeggy kannte ihre Gesichter nicht, erkannte aber ihre Feuer wieder, besonders den Schmerz und die Furcht der Mutter.

»Draußen hat jemand etwas gerufen«, flüsterte die Mutter.

»Still jetzt«, sagte Mama.

»Daß er noch am Leben sei.«

Das ernste Mädchen hob die Augenbrauen, blickte Mama an. »Stimmt das, Goody Guester?«

»Meine Tochter ist eine Fackel. Deshalb habe ich sie hierher ins Zimmer gebracht. Um das Baby zu schauen.«

»Hat sie meinen Jungen gesehen? Lebt er?«

»Ich dachte, du hättest es ihr nicht gesagt, Eleanor«, meinte Mama.

Das ernste Mädchen schüttelte den Kopf.

»Habe es vom Wagen aus gesehen. Ist er noch am Leben?«

»Sag es ihr, Margaret«, sagte Mama.

Kleinpeggy drehte sich um und suchte nach seinem Herzensfeuer. Seine Flamme war noch da, obwohl sie wußte, daß sie sehr weit entfernt war. Diesmal jedoch ging sie näher, wie sie es konnte, sah genauer hin. »Er ist im Wasser. Er hat sich völlig in den Wurzeln verheddert.

»Vigor!» rief die Mutter auf dem Bett.

»Der Fluß will ihn haben. Der Fluß sagt: Stirb, stirb.«

Mama berührte die Frau am Arm. »Die Zwillinge sind losgelaufen, um es den anderen zu sagen. Man wird einen Suchtrupp losschicken.«

»Im Dunkeln!» flüsterte die Frau verächtlich.

Kleinpeggy sprach erneut. »Ich glaube, er sagt ein Gebet. Er sagt… siebenter Sohn.«

»Siebenter Sohn«, flüsterte Eleanor.

»Was hat das zu bedeuten?» fragte Mama.

»Wenn dieses Baby ein Junge ist«, sagte Eleanor, »und wenn er geboren wird, solange Vigor noch am Leben ist, dann ist er der siebente Sohn eines siebenten Sohns, und alle sind sie noch lebendig.«

Mama seufzte. »Kein Wunder, daß der Fluß…«, sagte sie. Doch es war nicht nötig, den Gedanken zu Ende zu führen. Statt dessen nahm sie Kleinpeggy an den Händen und brachte sie zu der Frau auf dem Bett. »Schau dieses Baby an und sage mir, was du siehst.«

So etwas hatte Kleinpeggy schon öfter getan. Die wichtigste Aufgabe, die man für Fackeln hatte, war, genau zur Geburtszeit ein Ungeborenes zu betrachten; einmal, um festzustellen, wie es im Mutterleib lag, aber auch, weil eine Fackel manchmal erkennen konnte, wer das Baby war, was es werden würde, weil sie Geschichten darüber erzählen konnte, was geschehen würde. Noch bevor sie den Bauch der Frau berührt hatte, konnte sie das Herzensfeuer des Babys erkennen. Es war dasjenige, das sie zuvor schon gesehen hatte, es leuchtete so heiß und hell, daß es, wenn man es mit dem Feuer der Mutter verglich, wie Sonne und Mond war. »Es ist ein Junge«, sagte sie.

»Dann laßt mich dieses Kind gebären«, sagte die Mutter. »Laßt ihn atmen, solange Vigor noch atmet!«

»Wie liegt das Kind?» fragte Mama.

»Genau richtig«, sagte Kleinpeggy.

»Kopf zuerst? Das Gesicht nach unten?«

Kleinpeggy nickte.

»Warum kommt es dann nicht?» wollte Mama wissen.

»Sie hat ihm gesagt, er soll nicht«, sagte Kleinpeggy und blickte dabei auf die Mutter.

»Im Wagen«, erklärte die Mutter. »Er wollte kommen, da habe ich eine Beschwörung gemacht.«

»Na, das hättet Ihr mir gleich sagen sollen«, warf Mama scharf ein. »Bittet mich um Hilfe und teilt mir nicht einmal mit, daß ein Zauber auf ihm liegt. Du da, Mädchen!«

Mehrere von den jüngeren Kindern standen neben der Wand mit weiten Augen und wußten nicht, welche gemeint war.

»Irgendeine von euch, ich brauche den Eisenschlüssel am Ring dort an der Wand.«

Die größte nahm ihn unbeholfen vom Haken und brachte sie mitsamt dem Ring herbei. Mama ließ den großen Ring und den Schlüssel über dem Bauch der Mutter baumeln und sang dabei leise:

Hier der Kreis weit offen ist,

hier der Schlüssel fährt hinaus,

Erd' sei Eisen, Flamme gütig,

fall vom Wasser in die Luft.

Plötzlich schrie die Mutter vor Schmerz auf. Mama warf den Schlüssel beiseite, riß das Laken zurück, hob die Knie der Frau an und befahl Peggy, zu sehen.

Kleinpeggy berührte den Mutterschoß der Frau. Der Geist des Jungen war leer bis auf ein Gefühl des Drucks und der sich sammelnden Kälte, als er in die Luft hinaustrat. Doch gerade diese Leere ließ sie Dinge erkennen, die niemals wieder so deutlich sichtbar sein würden. Die Milliarden und Abermilliarden Wege seines Lebens lagen frei vor ihm, erwarteten seine ersten Entscheidungen, die ersten Veränderungen in der Welt um ihn herum, um mit jeder Sekunde Millionen von Zukünften auszulöschen. Die Zukunft lag offen in jedermann, ein flackernder Schatten, den sie nur manchmal sehen konnte, und niemals deutlich genug, da sie durch die Gedanken des gegenwärtigen Augenblicks schauen mußte; doch hier konnte Kleinpeggy sie für einige kostbare Momente ganz deutlich sehen.

Und was sie erblickte, war der Tod am Ende jedes Weges: Wasser, Wasser — jeder Zukunftspfad führte dieses Kind zu einem Tod durch Wasser.

»Warum haßt ihr ihn so!» rief Kleinpeggy.

»Wie?» warf Eleanor ein.

»Still«, sagte Mama. »Laß sie sehen, was sie schaut.«

Im Inneren des ungeborenen Kindes erschien der dunkle Wasserfleck, der sein Herzensfeuer umgab, so entsetzlich stark, daß Kleinpeggy schon fürchtete, daß er davon verschlungen werden würde.

»Holt ihn raus, damit er atmen kann!» rief Kleinpeggy.

Mama griff hinein, auch wenn es die Mutter schrecklich aufriß, packte das Baby mit kräftigen Fingern am Nacken und zog es hervor.

In diesem Augenblick, da die dunklen Wasser im Geist des Kindes sich zurückzogen und kurz vor dem ersten Atemzug, sah Kleinpeggy zehn Millionen Wassertode verschwinden. Nun, zum allerersten Mal, gab es auch einige offene Wege, einige, die in eine prachtvolle Zukunft führten. All die Wege, die nicht in einem frühen Tod endeten, hatten eins gemeinsam: Überall sah sich Kleinpeggy selbst, wie sie etwas ganz Einfaches tat.

Also tat sie es. Sie nahm die Hände von dem erschlaffenden Bauch und duckte sich unter dem Arm der Mutter. Der Kopf des Säuglings trat gerade heraus und noch immer mit einem blutigen Netz bedeckt, ein Fetzen des Sacks aus weicher Haut, in der er im Leib seiner Mutter geschwebt hatte. Sein Mund war offen, saugte die Hauthaube von innen ein, doch sie brach nicht, und er konnte nicht atmen.

Kleinpeggy tat, was sie sich in der Zukunft des Säuglings hatte tun sehen. Sie streckte die Arme vor, nahm das Hautstück unter dem Kinn des Säuglings auf und riß es ihm vom Gesicht. Sobald es fort war, atmete der Junge tief ein und stieß dann jenen ersten Schrei aus, den gebärende Mütter als Gesang des Lebens vernehmen.

Kleinpeggy faltete die Hauthaube zusammen, ihr Geist war noch immer erfüllt von den Visionen, die sie entlang der Pfade des Lebens dieses Säuglings geschaut hatte. Sie wußte noch nicht, was diese Visionen zu bedeuten hatten, doch waren die Bilder in ihrem Geist so klar, daß sie sie niemals vergessen würde. Sie machten sie furchtsam, weil soviel von ihr abhängen würde, und auch davon, wie sie mit der Nachgeburt umging, die immer noch warm in ihren Händen lag.

»Ein Junge«, sagte Mama.

»Ist er einer?» flüsterte die Mutter. »Ein siebenter Sohn?«

Mama band gerade die Nabelschnur ab, so daß sie Kleinpeggy keinen Blick gewähren konnte. »Sieh hin«, flüsterte sie.

Kleinpeggy hielt Ausschau nach dem einzelnen Herzensfeuer im fernen Fluß. »Ja«, sagte sie, denn das Feuer brannte noch immer.

Noch während sie zusah, geriet es ins Flackern und erstarb.

»Jetzt ist er fort«, sagte Kleinpeggy.

Die Frau auf dem Bett weinte bitterlich, ihr von der Geburt gepeinigter Körper zitterte.

»Bei der Geburt des Säuglings zu trauern«, sagte Mama, »ist etwas Schreckliches.«

»Pst!» flüsterte Eleanor ihrer Mutter zu. »Sei fröhlich, sonst wird es dem Baby sein ganzes Leben verfinstern!«

»Vigor«, murmelte die Frau.

»Besser überhaupt nichts als Tränen«, meinte Mama. Sie streckte das schreiende Baby vor, und Eleanor nahm es geschickt in die Arme — es war deutlich zu erkennen, daß sie schon viele Säuglinge gehalten hatte. Mama begab sich zu dem Tisch in der Ecke und nahm das Tuch auf, das in der Wolle geschwärzt worden war, so daß es eine durchgehende Nachtfarbe besaß. Sie zog es langsam über das Gesicht der weinenden Frau und sagte dabei: »Schlaf, Mutter, schlaf.«

Als das Tuch sich von dem Gesicht löste, hatte das Weinen aufgehört, und die Frau war eingeschlafen, am Ende ihrer Kraft.

»Bring das Baby aus dem Zimmer«, sagte Mama.

»Muß er nicht mit dem Säugen anfangen?» fragte Eleanor.

»Sie wird dieses Kind niemals säugen«, sagte Mama. »Es sei denn, du willst, daß er Haß säugt.«

»Sie kann ihn nicht hassen«, meinte Eleanor. »Ist doch nicht seine Schuld.«

»Ich schätze, ihre Milch weiß das aber nicht«, wandte Mama ein. »Stimmt es, Kleinpeggy? Welche Brust saugt das Baby?«

»Die von seiner Mama«, sagte Kleinpeggy.

Mama musterte sie scharf. »Bist du dir da ganz sicher?«

Sie nickte.

»Gut, dann bringen wir das Baby wieder herein, nachdem sie aufgewacht ist. In der ersten Nacht braucht es ohnehin keine Nahrung.«

Also trug Eleanor den Säugling hinaus in das große Zimmer, wo das Feuer brannte, um die Männer zu trocknen, die nun aufhörten, Geschichten über andere, längst vergangene Regengüsse und Fluten zu erzählen, um das Baby anzuschauen und zu bewundern.

Drinnen im Zimmer jedoch nahm Mama Kleinpeggy am Kinn und blickte ihr hart in die Augen. »Sag mir die Wahrheit, Margaret. Es ist eine sehr ernste Sache, wenn ein Baby an seiner Mama säugt und Haß zu trinken bekommt.«

»Sie wird ihn nicht hassen, Mama«, sagte Kleinpeggy.

»Was hast du gesehen?«

Kleinpeggy hätte ihr geantwortet, doch sie kannte für die meisten Dinge, die sie sah, nicht die richtigen Worte. Daher senkte sie den Blick. Mamas schnelles Atmen sagte ihr, daß eine Schimpfkanonade fällig war, doch Mama wartete ab, dann kam ihre Hand, ganz weich, strich über Kleinpeggys Wange. »Ach, Kind, was hast du nur für einen Tag gehabt. Das Baby wäre vielleicht gestorben, hättest du mir nicht geraten, es herauszuziehen. Du hast sogar hineingegriffen und ihm den Mund geöffnet — das hast du getan, nicht wahr?«

Kleinpeggy nickte.

»Genug für ein kleines Mädchen, genug für einen Tag.«

Mama wandte sich den anderen Mädchen zu, die in ihren nassen Kleidern an der Wand lehnten. »Und ihr habt auch genug von diesem Tag. Kommt, laßt eure Mama schlafen, geht hinaus und trocknet euch am Feuer. Ich werde euch ein gutes Abendessen machen.«

Doch Altpapi war bereits emsig in der Küche beschäftigt und weigerte sich zuzulassen, daß Mama auch nur einen Handschlag tat. Schon bald kümmerte sie sich draußen um das Baby, verscheuchte die Männer, damit sie es in Schlaf wiegen konnte, während sie es an ihrem Finger saugen ließ.

Kleinpeggy überlegte sich nach einer Weile, daß man sie nicht mehr vermissen würde, also huschte sie die Stufen hinauf zur Dachstuhlleiter, erklomm die Leiter schließlich, um in den lichtlosen, muffigen Raum zu gelangen. Die Spinnen machten ihr nicht viel aus, und die Katzen hielten die Mäuse fern, so daß sie sich nicht fürchtete. Sie krabbelte sofort zu ihrem Versteck hinüber und holte die geschnitzte Schachtel hervor, die Altpapi ihr gegeben und von der er gesagt hatte, daß sein eigener Papa sie aus Ulster mitgebracht habe, als er in die Kolonien kam. Sie war voll von kostbaren Erinnerungsstücken der Kindheit — Steine, Schnüre, Knöpfe —, doch nun wußte sie, daß all dies nichts war verglichen mit der Arbeit, die vor ihr lag. Sie schüttete alles aus und blies in die Schachtel, um den Staub zu vertreiben. Dann legte sie den zusammengefalteten Mutterkuchen hinein und schloß den Deckel.

Sie wußte, daß sie in der Zukunft diese Schachtel mehr als ein dutzenddutzend Male öffnen würde. Daß sie nach ihr rufen, sie aus dem Schlaf wecken, sie von ihren Freunden fortreißen und ihr alle Träume rauben würde. Und alles wegen eines kleinen Jungen, der nicht die geringste Zukunft hatte, außer dem Tod durch dunkles Wasser, wenn sie nicht diesen Mutterkuchen benutzte, um ihn zu schützen, so wie er ihn einst im Mutterleib geschützt hatte.

Einen Augenblick lang war sie zornig darüber, daß ihr eigenes Leben sich so verändert hatte. Es war schlimmer als das Eintreffen des Hufschmieds, schlimmer als Papa und die Haselgerte, mit der er sie verhaute, schlimmer als Mama, wenn ihre Augen zornig waren. Alles würde ab nun völlig anders sein, nur wegen eines Babys, das sie nie gebeten hatte, hierher zu kommen. Was hatte sie schon mit irgendeinem Baby zu schaffen?

Sie griff nach der Schachtel und öffnete sie wieder, wollte die Nachgeburt hervorholen und sie in eine dunkle Ecke des Dachstuhls schleudern. Doch selbst in der Dunkelheit konnte sie einen Ort erkennen, wo es noch dunkler war: in der Nähe ihres Herzensfeuers, wo die Leere des tiefen, schwarzen Flusses im Begriff war, eine Mörderin aus ihr zu machen.

Mit mir nicht, sagte sie zu dem Wasser. Du bist nicht Teil von mir.

Bin ich doch, flüsterte das Wasser. Ich bin überall in dir, und ohne mich würdest du austrocknen und sterben… Jedenfalls bist du nicht mein Boß, erwiderte sie.

Sie schloß den Deckel der Schachtel und rutschte die Leiter hinunter. Papa meinte immer, daß sie auf diese Weise Splitter in den Hintern bekommen würde. Diesmal behielt er recht. Es stach ziemlich heftig, so daß sie irgendwie seitwärts in die Küche gehen mußte, wo Altpapi war, der versuchte, ihr den Splitter herauszuziehen.

»Meine Augen sind nicht gut genug dafür, Maggie«, klagte er.

»Du hast die Augen eines Adlers, meint Papa.«

Altpapi gluckste. »Ach ja, meint er das.«

»Was gibt es zum Abendessen?«

»Oh, dieses Abendessen wird dir schmecken, Maggie.«

Kleinpeggy rümpfte die Nase. »Riecht wie Huhn.«

»Ist es auch.«

»Ich mag keine Hühnersuppe.«

»Nicht bloß Suppe, Maggie. Das Huhn wird gerade geröstet, bis auf den Hals und die Flügel.«

»Ich hasse auch geröstetes Huhn.«

»Hat dein Altpapi dich jemals angelogen?«

»Nö.«

»Dann solltest du mir lieber glauben, wenn ich dir sage, daß dies ein Hühneressen ist, das dich richtig froh machen wird. Kannst du dir nicht denken, welch besonderes Hühnergericht dich froh machen könnte?«

Kleinpeggy grübelte und grübelte, dann lächelte sie. »Bloody Mary?«

Altpapi zwinkerte. »Ich habe doch schon immer gesagt, daß diese Henne ein gutes Suppenhuhn abgibt.«

Kleinpeggy drückte ihn so fest, daß er erstickte Geräusche von sich gab, und dann lachten und lachten sie.

Später in der Nacht, als Kleinpeggy schon längst im Bett war, brachten sie Vigors Leichnam nach Hause, und Papa und Makepeace machten sich daran, eine Kiste für ihn zu zimmern. Alvin Miller sah beinahe wie ein Toter aus, auch als Eleanor ihm das Baby zeigte. Bis sie sagte: »Dieses Fackelmädchen meint, daß das Baby der siebente Sohn eines siebenten Sohnes ist.«

Fragend blickte Alvin um sich.

»Oh, Ihr könnt ihr schon vertrauen«, meinte Mama.

Wieder stiegen Alvin die Tränen in die Augen. »Dieser Junge hat durchgehalten«, sagte er. »Dort im Wasser. Hat lange genug durchgehalten.«

»Er wußte, wie wichtig es dir war«, sagte Eleanor.

Dann griff Alvin nach dem Säugling, hielt ihn fest und blickte in seine Augen. »Er hat doch noch keinen Namen bekommen, oder?» fragte er.

»Natürlich nicht«, erwiderte Eleanor. »Mama hat all die anderen Jungen benannt, aber du hast immer gesagt, daß der siebente Sohn deinen…«

»Meinen eigenen Namen. Alvin. Siebenter Sohn eines siebenten Sohns, mit demselben Namen wie sein Vater. Alvin Junior.«

Er blickte sich um, dann schaute er zum Fluß hinüber, der fernab im nächtlichen Wald rauschte. »Hast du das gehört, Hatrack River? Sein Name ist Alvin, und du hast ihn doch nicht umgebracht.«

Schon bald brachten sie die Kiste herein und umgaben Vigors Leichnam mit Kerzen, die für das Feuer des Lebens standen, das ihn verlassen hatte. Alvin hielt den Säugling über den Sarg. »Schau dir deinen Bruder an«, flüsterte er ihm zu.

»Dieses Baby kann doch noch gar nicht sehen, Papa«, sagte David.

»Das stimmt nicht, David«, erwiderte Alvin. »Er weiß wohl nicht, was er sieht, aber sehen können seine Augen schon. Und wenn er alt genug geworden ist, um sich die Geschichte seiner Geburt anhören zu können, werde ich ihm erzählen, daß er mit eigenen Augen seinen Bruder Vigor gesehen hat, der für ihn sein Leben hingab.«


Es dauerte zwei Wochen, bis Faith wieder reisen konnte. Alvin achtete darauf, daß er und seine Jungen für ihren Unterhalt hart arbeiteten. Sie rodeten ein gutes Stück Land, hackten das Winterholz, errichteten für Makepeace Smith ein paar Holzkohlehaufen und verbreiterten den Weg. Sie fällten auch vier große Bäume und bauten eine kräftige Brücke über den Hatrack River, eine bedeckte Brücke, damit die Leute sogar in einem Regensturm noch diesen Fluß überqueren konnten, ohne daß auch nur ein Tropfen sie berührte.

Vigors Grab war das dritte auf dem kleinen Friedhof, neben dem von Peggys beiden toten Schwestern. Die Familie betete dort am Morgen, als sie weiterfuhren. Dann bestiegen sie ihren Wagen und zogen gen Westen. »Aber wir werden immer einen Teil von uns hier zurücklassen«, sagte Faith, und Alvin nickte.

Kleinpeggy sah sie davonfahren, dann rannte sie zum Dachstuhl hinauf, öffnete die Schachtel und hielt Kleinalvins Mutterkuchen in der Hand. Keine Gefahr — zumindest nicht für den Augenblick. Vorläufig in Sicherheit. Sie legte die Haut fort und schloß den Deckel. Baby Alvin, aus dir sollte lieber etwas Ordentliches werden, sagte sie, sonst hast du mächtig viel Ärger um nichts und wieder nichts gemacht.

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