6. Der Dachbalken

Äxte hallten, und kräftige Männer sangen Lieder bei der Arbeit. Das neue Kirchengebäude des Reverend Philadelphia Thrower ragte hoch über die Gemeinschaftsweide von Vigor Township. Alles geschah so viel schneller, als Reverend Thrower jemals erwartet hatte. Kaum war die erste Wand des Gemeindehauses vor ein oder zwei Tagen errichtet worden, als dieser betrunkene, einäugige Rote hereinspaziert kam und sich taufen ließ, so als genügte der bloße Anblick des Kirchengebäudes, um ihn der Zivilisation und dem Christentum näher zu bringen. Wenn ein solch glücklicher Roter wie Lolla-Wossiky zu Jesus gelangen konnte, welche anderen Wunder der Bekehrung mochten in dieser Wildnis erst vollbracht werden, wenn sein Gotteshaus vollendet war und er seine eigentliche Arbeit aufgenommen hatte.

Doch Reverend Thrower war nicht nur glücklich, denn es gab auch Feinde der Zivilisation, die sehr viel stärker waren als die heidnischen Roten. Was diesen Tag besonders verdunkelte, war die Tatsache, daß Alvin Miller wieder nicht zu den Arbeitern zählte. Und die Entschuldigungen seiner Frau hatten sich mittlerweile erschöpft. Die Suche nach einem ordentlichen Steinbruch für Mühlsteine war beendet, er hatte sich einen Tag lang ausgeruht und hätte eigentlich hier sein müssen.

»Was ist los, ist er krank?» fragte Thrower.

Faith kniff die Lippen zusammen. »Wenn ich sage, daß er nicht kommen will, Reverend Thrower, soll das nicht bedeuten, daß er nicht kommen kann.«

Diese Antwort bestätigte Throwers Argwohn. »Habe ich ihn irgendwie beleidigt?«

Faith seufzte und wandte den Blick von ihm ab, sah zu den Pfählen und Balken des Gemeindehauses hinüber. »Ihr selbst nicht, mein Herr, jedenfalls nicht so, wie ein Mann auf einem anderen herumtrampelt, wie man so sagt.«

Plötzlich erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. »Was ist das denn?«

Unmittelbar am Gebäude waren die meisten Männer damit beschäftigt, Taue an den Dachbalken zu befestigen, um ihn emporziehen zu können; eine schwierige Aufgabe, weil zu allem Überfluß einige kleinen Jungen miteinander im Staub rangen und leicht unter ihre Stiefel gerieten. »Al!» rief Faith. »Alvin Junior, sofort läßt du ihn los!«

Sie machte zwei Schritte auf die Staubwolke zu, die den heroischen Kampf der Sechsjährigen einhüllte.

Doch Reverend Thrower war nicht gewillt, sie das Gespräch auf eine solche Weise abbrechen zu lassen. »Mistress Faith«, sagte Reverend Thrower scharf, »Alvin Miller ist der erste Siedler in dieser Gegend, und die Leute achten ihn sehr. Wenn er aus irgendeinem Grund gegen mich sein sollte, wird dies meinem Amt sehr schaden. Ihr könntet mir wenigstens sagen, was ich getan habe, um ihn zu verärgern.«

Faith blickte ihm in die Augen, als wollte sie abschätzen, ob er es ertragen würde, die Wahrheit zu hören. »Mein Herr, Eure törichte Predigt«, sagte sie.

»Töricht?«

»Natürlich können Sie es gar nicht anders wissen, da Sie aus England stammen und…«

»Aus Schottland, Mistress Faith.«

»Und da sie ja auf Schulen erzogen wurden, wo man nicht viel von…«

»An der Universität von Edinburgh. Nicht besser wissen? Also, ich…«

»Von Zaubern und Zeichen, Sprüchen und Beschwörungen und dergleichen.«

»Ich weiß sehr wohl, daß die Behauptung, solch finstere Kräfte zu benutzen, in den Ländern des Lordprotektors ein schweres Vergehen darstellt, das mit dem Feuertod bestraft wird, wiewohl Eure Lordschaft in seiner Barmherzigkeit diejenigen nur verbannt, die…«

»Na, seht Ihr, genau das meine ich!» erwiderte sie triumphierend. »Dann bringt man Euch so was ja wohl kaum auf der Universität bei, nicht wahr? Aber wir leben hier nun einmal so, und es gleich Aberglauben zu nennen…«

»Ich habe es Hysterie genannt.«

»Das ändert nichts an der Tatsache, daß es funktioniert.«

»Ich habe durchaus begriffen, daß Ihr glaubt, es würde funktionieren«, antwortete Thrower geduldig. »Aber alles auf der Welt ist entweder eine Frage der Wunder oder der Wissenschaft. In früheren Zeiten kamen die Wunder von Gott, aber diese Zeiten sind vorbei. Heute müssen wir uns an die Wissenschaft und nicht an die Magie wenden, wenn wir Werkzeuge erhalten wollen, mit denen wir die Welt verändern können.«

An ihrer starren Miene erkannte Thrower, daß er nicht viel Eindruck auf sie machte.

»Wissenschaft!» sagte sie. »So wie das Betasten von Kopfhöckern?«

Er bezweifelte, daß sie sich sonderlich viel Mühe gegeben hatte, ihre Verachtung zu verbergen. »Die Phrenologie«, erwiderte er kühl, »ist noch eine sehr junge Wissenschaft, und sie hat gewiß auch noch viele Mängel, aber ich versuche, festzustellen…«

Sie lachte auf — ein mädchenhaftes Lachen, das sie sehr viel jünger erscheinen ließ als eine Frau, die vierzehn Kinder geboren hatte. »Verzeiht, Reverend Thrower, aber mir fiel gerade ein, wie Measure es ›mit der Rute nach Gehirnen suchen‹ nannte und wie er meinte, daß Ihr damit in dieser Gegend wohl nur wenig Erfolg haben würdet.«

Wahre Worte, dachte Reverend Thrower, aber er war klug genug, um es nicht auszusprechen. »Mistress Faith, ich habe gesprochen, wie ich es tat, damit die Leute begreifen, daß es in der Welt von heute überlegenere Denkweisen gibt und daß wir uns nicht länger von den Illusionen fesseln lassen müssen, die…«

Doch es hatte keinen Zweck. Ihre Geduld war am Ende. »Mein Junge wird gleich noch einen Stoß von einem Holzbalken abbekommen, wenn er die anderen Jungen nicht in Frieden läßt, Reverend, also müßt Ihr mich wohl entschuldigen.«

Und dann ging sie, um sich auf den sechsjährigen Alvin und den dreijährigen Calvin zu stürzen wie die Geißel Gottes persönlich. Kaum jemand konnte so laut und leidenschaftlich schimpfen wie sie. Auch er konnte sie noch schreien hören, obschon der Wind in entgegengesetzte Richtung blies.

Welche Ignoranz, dachte Thrower bei sich. Ich werde hier nicht nur als Mann Gottes unter Fast-Heiden gebraucht, sondern auch als Mann der Wissenschaft unter abergläubischen Toren. Irgend jemand flüstert einen Fluch, und dann, sechs Monate später, geschieht irgend etwas Schlimmes mit dem Opfer — das tut es immer, jedem widerfährt mindestens zweimal im Jahr etwas Schlimmes —, und dann sind sie völlig sicher, daß ihr Fluch eine böse Wirkung hatte. Post hoc ergo propter hoc.

In Britannien lernten die Studenten schon im Trivium, solche elementaren Fehler der Logik zu vermeiden. Hier dagegen war so etwas eine Lebensart. Der Lordprotektor hatte völlig recht, jene zu bestrafen, die in Britannien die magischen Künste ausübten, wenngleich es Thrower lieber gewesen wäre, wenn er es wegen Dummheit und nicht wegen Ketzerei getan hätte. Es als Ketzerei zu behandeln, verlieh der Sache viel zuviel Gewicht, so als wäre sie etwas, vor dem man sich eher fürchten mußte, anstatt sie zu verachten.

Vor drei Jahren, gleich nachdem ihm der Doktor der Theologie verliehen worden war, hatte Thrower plötzlich erkannt, wieviel Schaden der Lordprotektor tatsächlich anrichtete. Er erinnerte sich daran als einen Wendepunkt seines Lebens; denn war es nicht auch das erste Mal gewesen, daß der Besucher zu ihm gekommen war? Es war in seinem kleinen Zimmer im Pfarrhaus von St. James Church in Belfast gewesen, wo er als Priester in Stellung war, seine erste Stelle nach der Ordination. Er hatte gerade eine Weltkarte betrachtet, als sein Blick auf Amerika geschweift war, dorthin, wo Pennsylvania deutlich eingezeichnet gewesen war, wie es sich von den holländischen und schwedischen Kolonien nach Westen erstreckte, bis sich die Grenzlinien in dem seltsamen Land jenseits des Mizzipy verliefen. Es war, als sei die Karte zum Leben erwacht, und er hatte die Menschenflut geschaut, die in der Neuen Welt eintraf. Gute Puritaner, loyale Kirchenmänner und seriöse Kaufleute gingen alle nach New England; Papisten, Royalisten und Taugenichtse aller Art begaben sich in das rebellische Sklavenland von Virginia, Carolina und Jacobia, die sogenannten Kronkolonien. Die Sorte von Leuten, die dann, wenn sie erst einmal ihren Platz gefunden hatten, für immer dort blieben.

Doch nach Pennsylvania gingen andere Menschen: Deutsche, Holländer, Schweden und Hugenotten flohen aus ihren Heimatländern und verwandelten die Kolonie Pennsylvania in einen Abfallkübel, gefüllt mit dem schlimmsten menschlichen Abschaum des Kontinents. Und was noch schlimmer war — sie blieben nicht dort. Diese törichten Leute gingen in Philadelphia an Land, stellten fest, daß die besiedelten — Thrower nannte sie nicht die »zivilisierten» — Teile Pennsylvanias für sie zu übervölkert waren und begaben sich gen Westen ins Land der Roten, um sich dort eine Farm aufzubauen. Was tat es schon, daß der Lordprotektor ihnen ausdrücklich untersagte, sich dort anzusiedeln! Was scherten sich solche Heiden schon um das Gesetz! Land war es, was sie begehrten, so als würde der bloße Besitz von Erde einen Bauern gleich zu einem Edelmann machen.

Dann hatte sich Throwers Vision von Amerika aus dem Düsteren ins wahrhaft Finstere verwandelt. In seiner Vision sah er vorher, wie der König von Frankreich jenen abscheulichen korsischen Obristen Bonaparte nach Kanada entsenden würde, wo seine Leute von der französischen Festungsstadt Detroit aus die Roten aufwiegeln würden. Die Roten würden über die Siedler herfallen und sie vernichten; zwar mochten sie nur Abschaum sein, doch immerhin waren sie überwiegend englischer Abschaum, und die Vision von der wilden Brutalität der Roten ließ Throwers Haut sich zusammenziehen.

Doch selbst wenn die Engländer siegten, würde das Amerika westlich der Appalachees niemals christliches Land werden. Entweder bekämen es die verdammten papistischen Franzosen und Spanier, oder die ebenso verdammten heidnischen Roten behielten es, oder die heruntergekommenste Sorte von Engländern siedelte dort und würde sich um Christus und den Lordprotektor einen Teufel scheren. Somit würde ein weiterer Kontinent dem Herrn Jesus Christus verlorengehen. Es war eine solch grauenhafte Vision gewesen, daß Thrower laut aufgeschrien hatte, in dem Glauben, daß niemand ihn in seinem kleinen Zimmer würde hören können.

Aber es hatte ihn doch jemand gehört. »Das ist ein Lebenswerk für einen Gottesmann«, hatte eine Stimme hinter ihm gesagt. Thrower war sofort erschrocken herumgefahren; doch die Stimme war sanft und warmherzig gewesen und das Gesicht alt und gütig. Thrower hatte sich sofort keinen Augenblick lang mehr gefürchtet, trotz der Tatsache, daß Tür und Fenster fest verschlossen gewesen waren, so daß kein Mensch in seine Kammer hätte eintreten können.

Da er glaubte, daß dieser Mann zu jener Offenbarung gehörte, die er soeben geschaut hatte, sprach Thrower ihn respektvoll an. »Mein Herr, wer immer Ihr sein mögt, ich habe die Zukunft Nordamerikas geschaut, und mir erscheint sie wie ein Sieg des Teufels.«

»Der Teufel siegt überall dort«, hatte der Mann erwidert, »wo Gottesmänner den Mut verlieren und ihm das Feld überlassen.«

Dann war der Mann plötzlich verschwunden.

In diesem Augenblick hatte Thrower gewußt, was sein Lebenswerk sein würde. In die Wildnis Amerikas zu kommen, eine Landkirche zu bauen und den Teufel in seinem eigenen Land zu bekämpfen. Er hatte drei Jahre gebraucht, um das Geld aufzutreiben und die Erlaubnis seiner Vorgesetzen in der Schottischen Kirche einzuholen, doch nun war er hier, die Pfähle und Balken seiner Kirche hoben sich, ihr weißes und nacktes Holz wies gegen den dunklen, barbarischen Wald, aus dem man es gehauen hatte.

Natürlich blieb es nicht aus, daß angesichts eines derart großartigen Werks auch der Teufel davon Notiz nahm. Und ganz offensichtlich war der wichtigste Anhänger des Teufels in Vigor Township Alvin Miller. Auch wenn all seine Söhne am Bau des Kirchenhauses halfen, wußte Thrower doch, daß dies nur Faiths Werk war. Die Frau hatte sogar zugegeben, daß sie im Innersten ihrer Seele der Church of Scotland nahestand, obwohl sie in Massachusetts geboren war; ihre Mitgliedschaft würde bedeuten, daß Thrower eine Gemeinde rechnen konnte — vorausgesetzt, daß Alvin Miller nicht alles zunichte machte.

Aber genau das würde er, da er sich von etwas verletzt fühlte, das Thrower unbedacht gesagt oder getan hatte. Der Streit um den Glauben an Zauberei ließ sich leider Gottes nun einmal nicht vermeiden. Die Fronten waren klar abgesteckt. Thrower stand auf der Seite der Wissenschaft und des Christentums, und auf der anderen befanden sich alle Mächte der Finsternis und des Aberglaubens: die tierische, fleischliche Natur des Menschen mit Alvin Miller als ihrem wichtigsten Vorkämpfer. In meinem Kampf um unseren Herrn stehe ich erst am Anfang, dachte Thrower.

Wenn ich diesen ersten Gegner nicht besiege, werde ich niemals mehr siegen können.

»Pastor Thrower!» rief Alvins ältester Junge, David. »Wir sind bereit, den Dachbalken zu heben!«

Thrower setzte sich in Trab, dann erinnerte er sich wieder seiner Würde und legte den Rest der Strecke im Schritttempo zurück. Nichts in den Evangelien deutete an, daß der Herr jemals gerannt sei — er war immer nur geschritten, wie es seiner hohen Stellung geziemte. Ein Priester sollte ein Schatten Jesu Christi sein, sollte auf Seinem Weg einherschreiten und Ihn dem Volk gegenüber vertreten. Näher würden diese Menschen dem Anblick der Majestät Gottes niemals kommen. Es war Reverend Throwers Pflicht, die Vitalität seiner Jugend zu leugnen und im gemessenen Tempo eines alten Mannes einherzuschreiten, auch wenn er erst vierundzwanzig war.

»Ihr wollt doch den Dachbalken segnen, nicht wahr?» fragte einer der Farmer namens Ole, ein Schwede von den Ufern des Delaware; im Herzen also ein Lutheraner, doch war er durchaus willens, beim Bau einer presbyterianischen Kirche hier im Wobbish-Tal zu helfen, da die nächstgelegene andere Kirche die papistische Kathedrale zu Detroit war.

»In der Tat«, erwiderte Thrower. Er legte die Hand auf den schweren, mit Äxten behauenen Balken.

»Reverend Thrower«, rief eine Kinderstimme hinter ihm, so durchdringend und laut, wie es nur ein Kind konnte. »Ist das nicht auch eine Art Zauber, ein Stück Holz zu segnen?«

Thrower drehte sich um und sah, wie Faith Miller den Jungen bereits aufforderte zu schweigen. Er war erst sechs Jahre alt, doch schon jetzt wurde deutlich, daß Alvin Junior einmal ebenso viele Schwierigkeiten machen würde wie sein Vater. Vielleicht sogar noch mehr — Alvin Senior hatte wenigstens die Güte besessen, dem Bau der Kirche fernzubleiben.

»Macht nur weiter«, sagte Faith. »Macht Euch nichts aus ihm. Ich habe ihm noch nicht beigebracht, wann er reden darf und wann er schweigen soll.«

Obwohl die Hand seiner Mutter sich fest auf seinen Mund preßte, waren die Augen des Jungen geradewegs, auf ihn gerichtet. Und als Thrower sich wieder umwandte, bemerkte er, daß alle erwachsenen Männer ihn erwartungsvoll anblickten. Die Frage des Kindes war eine Herausforderung, der er etwas entgegnen mußte, sonst würde er vor eben jenen Männern, die zu bekehren er gekommen war, als Heuchler oder Tor abgestempelt werden.

»Ich schätze, wenn du denken solltest, daß mein Segen tatsächlich etwas am Wesen des Dachbalkens änderte«, erwiderte er, »dann wäre das der Zauberei verwandt. Aber in Wirklichkeit bietet dieser Dachbalken selbst nur den Anlaß. Wen ich hier wirklich segne, das ist die Christengemeinde, die sich unter diesem Dach versammeln wird. Und daran ist nichts Magisches. Wir bitten hier um die Macht und die Liebe Gottes, und nicht etwa um ein Mittel gegen Warzen oder einen Zauber gegen den Bösen Blick.«

»Schade«, murmelte ein Mann. »Ein Mittel gegen Warzen könnte ich gut gebrauchen.«

Alle lachten, doch die Gefahr war gebannt. Wenn der Dachbalken gehoben wurde, würde es ein christlicher Akt sein und kein heidnischer.

Er segnete den Balken, wobei er darauf achtete, das übliche Gebet so abzuwandeln, daß es dem Balken selbst ausdrücklich keine besonderen Eigenschaften übertrug. Dann zogen die Männer am Seil, und Thrower sang »O Herr, der auf der mächt'gen See» mit der vollen Lautstärke seines prächtigen Baritons, um ihnen für ihre Arbeit den Rhythmus und auch die Kraft zu geben.

Die ganze Zeit über war er sich jedoch nur zu sehr der Gegenwart des jungen Alvin Junior bewußt, doch nicht nur wegen seiner törichten Frage. Das Kind war ebenso einfältig wie die meisten Kinder — Thrower bezweifelte, daß es etwas Böses beabsichtigt hatte. Was ihn jedoch an dem Kind anzog, war keine Eigenschaft des Jungen selbst, vielmehr etwas an den Leuten in seiner Nähe. Sie schienen ständig auf ihn zu achten. Nicht als ob sie ihn ständig angesehen hätten — dann hätten sie den ganzen Tag nichts anderes zu tun gehabt, so viel rannte er umher, sondern als wären sie sich seiner stets bewußt, so wie der Koch am Priesterkolleg sich stets der Anwesenheit seines Hundes bewußt gewesen war, ohne jemals zu ihm zu sprechen oder in seiner Arbeit auch nur innezuhalten.

Und es war auch nicht nur die Familie des Jungen, die so sorgfältig auf ihn achtete. Alle verhielten sich so — die Deutschen, die Skandinavier, die Engländer, die Neuankömmlinge und die Alteingesessenen gleichermaßen. Als wenn der Schutz und die Pflege dieses Jungen ein Gemeinschaftsvorhaben gewesen wäre wie der Bann einer Kirche.

»Langsam, langsam, langsam!» rief Wastenot, der neben dem östlichen Stützpfahl saß, um den schweren Balken an Ort und Stelle zu lenken. Genauso mußte es sein, damit die Balken sich gegenseitig stützten und ein kräftiges Dach ergaben.

»Zu weit in deine Richtung«, rief Measure. Er stand auf dem Gerüst über dem Kreuzbalken, auf dem der kurze Pfahl ruhte, der die beiden Dachbalken an der Stelle stützen sollte, wo ihre abgerundeten Enden in der Mitte aufeinandertrafen. Dies war die wichtigste Stelle des ganzen Dachs; sie mußten die Enden der beiden schweren Balken auf das obere Ende eines Pfahls legen, der kaum zwei Handspannen breit war. Deshalb stand Measure auch dort, denn er hatte seinem Namen mittlerweile alle Ehre gemacht und war scharfäugig und vorsichtig.

»Richtig!» rief Measure. »Noch mehr!«

»Wieder in meine Richtung!» rief Wastenot.

»Langsam!» rief Measure.

»Legt ab!» rief Wastenot.

Dann rief auch Measure sein »Legt ab!«, und die Männer am Boden lösten die gespannten Seile. Als die Leinen erschlafften, stießen sie ein Jubeln hervor, denn nun zog sich der Dachbalken durch die halbe Länge der Kirche. Es war zwar keine Kathedrale, aber das größte Gebäude, an das je ein Mensch im Umkreis von hundert Meilen zu denken gewagt hatte. Schon die bloße Tatsache seiner Errichtung hatte bewirkt, daß die Siedler gekommen waren, um zu bleiben; und weder die Franzosen noch die Spanier, weder die Cavaliers noch die Yankees, ja nicht einmal die wilden Roten mit ihren Feuerpfeilen — kein Mensch würde diese Leute dazu bewegen, diesen Ort jemals wieder zu verlassen.

Und so begab sich Reverend Thrower ins Innere, zusammen mit all den anderen, um zum ersten Mal den Himmel von einem Dachbalken eingenommen zu sehen, der nicht weniger als vierzig Fuß lang war — und das war erst die Hälfte dessen, was einmal sein würde. Meine Kirche, dachte Thrower, ist schon jetzt viel prachtvoller als das meiste, was ich in Philadelphia selbst zu Gesicht bekommen habe.

Oben auf dem schwachen Gerüst war Measure damit beschäftigt, einen Holzpflock durch die Kerbe am Ende des Dachbalkens hinein in das Loch am oberen Teil des Stützpfahl zu treiben. Wastenot leistete die gleiche Arbeit an seinem Ende. Diese Pflöcke würden den Balken an Ort und Stelle halten, bis die Querstreben ausgelegt werden konnten. War das erledigt, so würde der Dachbalken so fest sein, daß sie den Kreuzbalken fast entfernen könnten, würde er nicht dort für den Leuchter benötigt, der die Kirche bei Nacht erhellen sollte. Bei Nacht, damit das getönte Glas die Dunkelheit draußen erhellen konnte. Von einem solch wunderbaren Ort träumte Reverend Thrower. Sollten die schlichten Gemüter dieser Leute doch vor Ehrfurcht verstummen, wenn sie diesen Ort erblickten, um über die Herrlichkeit Gottes nachzudenken.

Plötzlich wurde Thrower aus seinen Gedanken gerissen. Measure stieß einen Angstschrei aus, und alle mußten entsetzt mitansehen, daß der mittlere Pfeiler unter den Hieben von Measures Schlegel auf den Holzpflock gesplittert war und zu zittern begonnen hatte. Das riß den Balken am anderen Ende aus Wastenots Händen und zerschmetterte das Gerüst wie Zunder. Der Dachbalken schien einen Augenblick in der Luft schwebenzubleiben, völlig waagerecht, dann donnerte er herab, als hätte der Herr selbst ihn zu Boden geschleudert.

Reverend Thrower ahnte, daß jemand unmittelbar unter diesem Balken stehen würde, genau dort, wo er zu Boden gehen würde. Er wußte es, weil er sich des Jungen bewußt war, den sein eigener Schrei »Alvin!» an genau der falschen Stelle stehenbleiben ließ.

Im nächsten Moment sah Thrower, wie recht er hatte. Seine Ahnung bewahrheitete sich. Dort unten stand Alvin und blickte zu den Balken herauf, der ihn erschlagen würde. Ja, der Junge würde zerschmettert werden, zermalmt, sein Blut würde über das weiße Holz des Kirchbodens spritzen. Diesen Fleck bekomme ich nie wieder heraus, dachte Thrower — ein wahnwitziger Gedanke, doch im Augenblick des Todes konnte niemand sein eigenes Denken beherrschen.

Thrower sah den Aufprall wie einen blendenden Lichtblitz. Er hörte das Krachen von Holz. Er hörte die Schreie. Dann erblickte er den Balken am Boden, genau dort, wo sich Alvin befunden hatte, aber — o Wunder! — in der Mitte war der Balken in zwei Teile gespalten, und zwischen den beiden Teilen stand Alvin, sein Gesicht aschfahl von Entsetzen.

Unversehrt. Der Junge war völlig unversehrt.

Thrower verstand weder Deutsch noch Schwedisch, doch er wußte sehr wohl, was das aufgeregte Gerede in seiner Nähe bedeutete. Sollen sie doch Gott lästern — ich muß verstehen, was hier geschehen ist, dachte Thrower. Er schritt zu dem Jungen hinüber, legte die Hände auf den Kopf des Kindes, suchte nach einer Verletzung. Nicht ein Haar war ihm gekrümmt worden, doch der Kopf des Jungen fühlte sich warm an, sehr warm, als hätte er neben einem Feuer gestanden. Dann kniete Thrower sich nieder und musterte das Holz des Dachbalkens. Es war so säuberlich durchgeschnitten, als wäre das Holz eben so gewachsen, gerade breit genug, um den Jungen völlig zu verfehlen.

Im nächsten Augenblick kam auch Als Mutter, nahm ihren Jungen auf, schluchzend vor Erleichterung. Auch Kleinalvin weinte. Doch Thrower mußte sich um anderes kümmern. Schließlich war er ein Mann der Wissenschaft, und was er hier gesehen hatte, war unmöglich. Er ließ die Männer die Länge des Dachbalkens abschreiten und ließ ihn erneut abmessen. Der Balken lag in seiner ursprünglichen Länge auf dem Boden — das Ostende ebensoweit vom Westende entfernt, wie es sein sollte. Das jungengroße Stück in der Mitte war einfach verschwunden. Verschwunden in einem kurzen Feuerblitz, der Alvins Kopf und die Enden des Holzes so heiß wie Kohlen zurückgelassen, zugleich aber in keiner Weise gezeichnet oder versengt hatte.

Dann fing Measure am Querbalken zu schreien an, von dem er an den Armen herabhing; er hatte sich nach dem Einsturz des Gerüsts daran festklammern können. Wantnot und Calm kletterten hinauf und holten ihn unbeschadet herunter. Reverend Thrower widmete alledem keine Aufmerksamkeit. Das einzige, woran er denken konnte, war ein sechsjähriger Junge, der unter einem herabstürzenden Dachbalken stehen konnte, so daß der Balken auseinanderbrach und Platz für ihn machte. Wie das Rote Meer sich für Moses geteilt hatte, zur rechten Hand und zur linken.

»Siebenter Sohn«, murmelte Wastenot. Der Junge saß auf dem herabgestürzten Dachbalken, knapp neben von der Bruchstelle.

»Wie?» fragte Reverend Thrower.

»Nichts«, sagte der junge Mann.

»Du hast »siebenter Sohn‹ gesagt«, sagte Thrower. »Aber der kleine Calvin ist doch der siebente.«

Wastenot schüttelte den Kopf. »Wir hatten noch einen Bruder. Er ist wenige Minuten nach Als Geburt gestorben.«

Wastenot schüttelte erneut den Kopf. »Der siebente Sohn eines siebenten Sohnes.«

»Aber dann ist er ja eine Teufelsbrut!» sagte Thrower entsetzt.

Wastenot sah ihn voller Verachtung an. »Vielleicht glaubt ihr in England so etwas, aber wir hier sehen in so einem einen Heiler, vielleicht aber auch einen Rutengänger, und zwar einen sehr guten, egal, was er sein mag.«

Dann dachte Wastenot an etwas und grinste. »Teufelsbrut‹«, wiederholte er, die Worte bösartig betonend. »Klingt mir eher nach Hysterie.«

Voller Zorn schritt Thrower aus der Kirche.

Er fand Mistress Faith auf einem Schemel sitzend, wie sie Alvin im Schoß hielt und ihn sanft tadelte. »Habe dir doch gesagt, du sollst nicht einfach loslaufen, ohne hinzusehen, immer unterwegs, kann dich ja niemals stillhalten, da wird man ja kirre, wenn man auf dich aufpassen soll«

Dann erblickte sie Thrower, der vor ihr stand, und verstummte.

»Keine Sorge«, sagte sie schließlich, »ich werde ihn nicht wieder hierher mitnehmen.«

»Das beruhigt mich um seiner Sicherheit willen«, erwiderte Thrower. »Wenn ich daran denken müßte, daß meine Kirche um den Preis des Lebens eines Kindes hätte erbaut werden müssen, so hätte ich lieber den Rest meines Lebens im Freien gepredigt.«

Sie musterte ihn eindringlich und erkannte, daß er es von ganzem Herzen ernst meinte. »Ist nicht Eure Schuld«, sagte sie. »Er war schon immer ein tapsiger Junge. Er scheint Dinge zu überleben, an denen jedes gewöhnliche Kind sterben würde.«

»Ich würde… ich würde gerne begreifen, was dort drinnen geschehen ist.«

»Der Dachbalken hat gewackelt, natürlich«, sagte sie. »So etwas passiert schon einmal.«

»Ich meine, wie er ihn verfehlen konnte. Der Balken ist auseinandergebrochen, noch bevor er seinen Kopf berührt hat. Ich möchte gerne seinen Kopf befühlen, wenn ich darf…«

»Nicht einmal eine Schramme daran«, erwiderte sie.

»Ich weiß. Ich möchte fühlen, ob ich feststellen kann…«

Sie verdrehte die Augen und murmelte: »Rutengehen nach Gehirnen«, zugleich nahm sie aber auch die Hände fort, damit er den Kopf des Kindes befühlen konnte: ganz langsam und vorsichtig, um die Landkarte des jungen Schädels verstehen zu lernen und die Furchen und die Ausbuchtungen zu lesen. Dazu mußte er kein Buch konsultieren, die Bücher waren ohnehin Unfug, sie brachten ausnahmlos nur idiotische Verallgemeinerungen wie: »Der Rote hat stets einen Höcker unmittelbar über dem Ohr, was Wildheit und Kannibalismus anzeigt«, obwohl die Roten natürlich ebenso viele Kopfformen aufwiesen wie die Weißen. Nein, Thrower vertraute diesen Büchern nicht — doch hatte er tatsächlich einiges über Leute mit besonderen Fähigkeiten in Erfahrung gebracht, und Höcker hatten sie alle gemeinsam. Er hatte gewisse Erfahrungswerte herausbekommen, gleichsam eine Karte der menschlichen Schädelformen entworfen; wie er seine Hände über Als Kopf fahren ließ, kannte er sich also aus.

Doch nichts Bemerkenswertes entdeckte er. Kein Merkmal, das sich über die anderen erhob. So durchschnittlich war Alvins Schädel, daß er ein Lehrbuchbeispiel für eine normale Kopfform abgegeben hätte, wären solche lesenswerten Lehrbücher überhaupt vorhanden gewesen.

Er nahm die Finger wieder von dem Kopf, und der Junge, der unter seinen Händen aufgehört hatte zu weinen, drehte sich auf dem Schoß seiner Mutter zu ihm um. »Reverend Thrower«, sagte er, »Eure Hände sind so kalt, daß ich fast erfriere.«

Dann sprang er vom Schoß seiner Mutter und rannte davon, dem deutschen Jungen etwas zurufend, mit dem er vorher so heftig gerangelt hatte.

Faith lachte reumütig. »Seht Ihr, wie schnell die Kinder vergessen können?«

»Und Ihr auch«, erwiderte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich nicht«, sagte sie. »Ich vergesse nicht das geringste.«

»Ihr lächelt bereits wieder.«

»Ich lebe weiter, Reverend Thrower. Ich lebe einfach weiter. Das ist nicht dasselbe, wie zu vergessen.«

Er nickte.

»Also… sagt mir, was Ihr entdeckt habt«, sagte sie.

»Entdeckt?«

»Beim Befühlen seiner Höcker. Beim Gehirnruten. Hat er eins?«

»Normal. Absolut normal. An seinem Schädel ist nichts Auffälliges.«

Sie grunzte. »Nichts ungewöhnlich?«

»So ist es.«

»Na, wenn Ihr mich fragt, dann ist das aber wirklich ungewöhnlich, sofern jemand nur klug genug ist, um es zu bemerken.«

Sie nahm den Schemel auf und trug ihn davon, im Gehen nach Al und Cally rufend.

Nach einem kurzen Augenblick begriff Reverend Thrower, daß sie recht hatte. Niemand war so vollkommen durchschnittlich. Jeder Mann hatte irgendeinen Zug, der stärker ausgeprägt war als die anderen. Es war nicht normal, daß Al so gut ausgewogen war. Jede nur erdenkliche Fähigkeit zu besitzen, die sich am Schädel ablesen ließ, und dies in genau gleichmäßigen Proportionen. Das Kind war alles andere als durchschnittlich, es war außergewöhnlich, obgleich Thrower keine Ahnung hatte, was es für sein Leben bedeuten würde. Ein Hansdampf in allen Gassen, der nichts richtig beherrschte? Oder ein Meister aller Dinge?

Aberglaube hin, Aberglaube her, Thrower geriet ins Grübeln. Der siebente Sohn eines siebenten Sohnes, eine erstaunliche Kopfform und das Wunder — ein anderes Wort fand er dafür nicht — des Dachbalkens. Nach dem Gesetz der Natur hätte jedes gewöhnliche Kind heute den Tod gefunden. Doch irgend jemand oder irgend etwas beschützte dieses Kind, und das Gesetz der Natur hatte nachgeben müssen.

Als das Gerede verstummt war, machten die Männer sich wieder an ihre Arbeit. Der ursprüngliche Balken war natürlich nutzlos geworden, und so trugen sie die beiden Teile hinaus. Nach allem, was geschehen war, hegten sie keine Absicht, die Balken noch irgendwie weiterzuverwenden. Statt dessen machten sie sich ans Werk, bis zum späten Nachmittag hatten sie einen neuen Balken gefertigt und das Gerüst wieder aufgebaut. Bei Anbruch der Nacht stand das ganze Dachgerüst endlich. Niemand sprach mehr von dem wundersamen Vorfall, zumindest nicht in Throwers Gegenwart, und als er den zersplitterten Stützpfahl suchen ging, konnte er ihn nirgendwo mehr finden.

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