11. Mühlstein

Geschichtentauscher erwachte. Draußen war es immer noch dunkel, aber es war Zeit aufzustehen. Er setzte sich auf, streckte sich ein wenig und freute sich, wie ausgeruht er war, seit er auf einem weichen Bett schlief. Es könnte mir gefallen, hier zu leben, dachte er.

Der Speck war so fett, daß er ihn in der Küche brutzeln hörte. Er wollte gerade seine Stiefel anziehen, als Mary an der Tür klopfte. »Ich bin mehr oder weniger vorzeigbar«, sagte er.

Sie trat ein, reichte ihm zwei Paar langer, dicker Socken. »Ich habe sie selbst gestrickt«, sagte sie.

»Solchen Socken würde ich nicht einmal in Philadelphia zu kaufen bekommen.«

»Im Winter wird es hier im Wobbish-Land ziemlich kalt, und…«

Sie beendete den Satz nicht. Schüchtern zog sie den Kopf ein und huschte wieder aus dem Raum.

Geschichtentauscher zog die Socken an und streifte die Stiefel darüber, dann grinste er. Er hatte kein schlechtes Gewissen, Geschenke anzunehmen. Er arbeitete genauso hart wie alle anderen und hatte sehr viel dazu beigetragen, die Farm winterfest zu machen.

Ohne irgendwelche Hilfe hatte er die Mühle für einen Mühlstein vorbereitet. Er selbst hatte das Heu vom Mühlenboden auf Karren geladen. Die Zwillinge, deren eigene Farmen ihnen noch nicht soviel Arbeit machten, da sie erst in diesem Sommer geheiratet hatten, hatten die Wagen in der großen Scheune entladen. Alles war geschehen, ohne daß Miller selbst auch nur eine Heugabel hätte anrühren müssen.

Andere Dinge jedoch liefen nicht so gut. Ta-Kumsaw und seine Shaw-Nee-Roten vertrieben so viele Leute unten aus Carthage, daß die Weißen Angst bekamen. Zwar war erfreulich, daß der Prophet in seiner großen Stadt auf der anderen Seite des Flusses ständig davon redete, daß seine Roten niemals die Hand zum Krieg erheben würden. Aber es gab sehr viele Rote, die so dachten wie Ta-Kumsaw, nämlich daß man die Weißen am besten nach Europa zurücktreiben sollte. Man sprach vom Krieg; es hieß, daß Bill Harrison unten in Carthage nur zu begierig war, dieses Feuer zu schüren, ganz zu schweigen von den Franzosen in Detroit, die die Roten ständig drängten, die amerikanischen Siedler in jenem Land anzugreifen, das die Franzosen als Teil Kanadas beanspruchten.

Die Leute in der Stadt Vigor Church redeten ständig darüber, aber Geschichtentauscher wußte, daß Miller das Gerede nicht allzu ernst nahm. Er hielt die Roten für Landtölpel, die nichts anderes wollten, als soviel Whiskey zu saufen, wie sie nur bekommen konnten. Geschichtentauscher hatte diese Einstellung schon früher beobachtet, allerdings nur in New England. Yankees schienen niemals zu begreifen, daß die Roten von New England, die überhaupt noch Mumm besaßen, alle schon längst nach Irrakwa übergesiedelt waren. Sicherlich würde es den Yankees die Augen öffnen, wenn sie sähen, daß die Irrakwa schwer arbeiteten, etwa mit Dampfmaschinen, die direkt aus England stammten. Eines Tages würden die Yankees erwachen und feststellen, daß die Roten keineswegs alle schnapstoll waren, und dann würden einige Weiße sich ganz schön abstrampeln müssen, um noch mit ihnen Schritt zu halten.

Bisher jedenfalls schenkte Miller dem Kriegsgerede keine sonderliche Beachtung. »Jedermann weiß doch, daß es in den Wäldern Rote gibt. Man kann sie nicht daran hindern, sich dort herumzutreiben, aber bisher fehlen mir noch keine Hühner, daher ist es also auch noch kein Problem.«

»Noch etwas Speck?» fragte Miller. Er schob Geschichtentauscher den Speck über den Tisch zu.

»Ich bin es nicht gewohnt, am Morgen soviel zu essen«, sagte Geschichtentauscher. »Seit ich hier bin, habe ich zu jeder Mahlzeit mehr zu essen bekommen, als ich sonst den ganzen Tag verzehrt habe.«

»Dann bekommt Ihr wenigstens etwas Fleisch auf die Knochen«, sagte Faith. Sie legte zwei heiße Brötchen auf seinen Teller, die mit Honig beschmiert waren.

»Ich bekommen keinen Bissen mehr herunter«, protestierte Geschichtentauscher.

Da glitten die Brötchen von Geschichtentauschers Teller. »Nehme sie schon«, meinte Al Junior.

»Greif nicht einfach so über den Tisch«, sagte Miller. »Und außerdem kannst du nicht beide Brötchen essen.«

In beunruhigend kurzer Zeit bewies Al Junior, daß sein Vater sich geirrt hatte. Dann wuschen sie sich den Honig von den Händen, legten die Handschuhe an und gingen hinaus zum Wagen. Im Osten erschien gerade das erste Licht, als David und Calm, die ein Stück farmabwärts wohnten, herbeigeritten kamen. Al Junior kletterte hinten auf den Wagen, zu den ganzen Werkzeugen und Seilen und Zelten und Vorräten — es würde einige Tage dauern, bevor sie zurückkehrten.

»Also… warten wir noch auf die Zwillinge und auf Measure?» fragte Geschichtentauscher.

Miller schwang sich auf den Kutscherbock. »Measure ist schon vorangeritten, er fällt Bäume für den Schlitten. Und Wastenot und Wantnot bleiben hier, reiten Streife von Haus zu Haus.«

Er grinste. »Kann die Frauenzimmer doch nicht ungeschützt zurücklassen, wo soviel über wilde Rote geredet wird, die hier umherstreifen, oder?«

Geschichtentauscher erwiderte das Grinsen. Offensichtlich war Miller doch nicht so selbstgefällig, wie er manchmal wirkte.

Bis zum Steinbruch war es ein recht langer Weg. Sie kamen am Wrack eines Wagens vorbei, in dessen Mitte ein zerborstener Mühlstein ruhte. »Das war unser erster Versuch«, erklärte Miller. »Aber dann ist eine Achse trockengelaufen und eingeklemmt, als wir diesen steilen Berg herabfuhren, worauf der ganze Wagen unter dem Gewicht des Steins zusammenbrach.«

Später gelangten sie an einen recht großen Fluß. Miller erzählte, wie sie versucht hatten, zwei Mühlsteine auf Flößen zu befördern, und wie das Floß jedesmal gesunken war.

»Wir haben Pech gehabt«, sagte Miller, doch seine Miene verfinsterte sich, als hätte irgendein Unhold persönlich dafür gesorgt, daß die Dinge mißlangen.

»Deshalb werden wir diesmal auch einen Schlitten und Rollen verwenden«, erklärte Al Junior und beugte sich von hinten über den Bock. »Und wenn etwas zerbrechen sollte, sind es nur Baumstämme, und dafür haben wir jede Menge Nachschub.«

»Solange es nicht regnet«, wandte Miller ein. »Oder schneit.«

»Der Himmel sieht nicht nach Regen aus«, meinte Geschichtentauscher.

»Der Himmel ist ein Lügner«, erwiderte Miller. »Gleichgültig, was ich tue, mir stellt sich immer das Wasser in den Weg.«

Als sie zum Steinbruch kamen, stand die Sonne bereits hoch am Himmel, obwohl es noch früher Morgen war. Natürlich würde der Rückweg sehr viel länger dauern. Measure hatte bereits sechs kräftige junge Bäume und ungefähr zwanzig kleinere gefällt. David und Calm machten sich sofort an die Arbeit, schälten Äste ab und machten sie so glatt und rund wie möglich. Zu Geschichtentauschers Überraschung nahm Al Junior den Sack mit dem Steinmetzwerkzeug auf und ging auf die Felsen zu.

»Wo gehst du hin?» fragte Geschichtentauscher.

»Oh, ich muß eine gute Stelle für das Hauen finden«, erwiderte Al Junior.

»Er hat ein Auge für Gestein«, erklärte Miller. Doch sagte er nicht alles, was er wußte.

»Und wenn du den Stein gefunden hast, was tust du dann?» fragte Geschichtentauscher.

»Na, dann haue ich ihn eben.«

Alvin stolzierte mit der Arroganz eines Jungen den Pfad hinauf, der wußte, daß er im Begriff war, die Arbeit eines Erwachsenen zu tun.

»Hat auch ein Händchen für Gestein«, fügte Miller hinzu.

»Aber er ist doch erst zehn Jahre alt«, wandte Geschichtentauscher ein.

»Der hat schon seinen ersten Stein gehauen, als er sechs war«, erwiderte Miller.

»Wollt Ihr damit sagen, daß es ein Zaubertalent ist?«

»Ich will damit überhaupt nichts sagen.«

»Wollt Ihr mir eins beantworten, Al Miller? Sagt mir doch, ob Ihr zufällig ein siebenter Sohn seid.«

»Warum fragt Ihr?«

»Es heißt unter jenen, die von derlei Dingen etwas verstehen, daß der siebente Sohn eines siebenten Sohnes mit dem Wissen darum geboren wird, wie die Dinge unter ihrer Oberfläche ausschauen. Deshalb sind sie auch solch gute Rutengänger.«

»Ach, heißt es das?«

Measure trat herbei, stellte sich vor seinem Vater auf, stemmte die Fäuste in die Hüften und blickte ihn beinahe empört an. »Pa, was soll es schon schaden, es ihm zu erzählen? Es weiß doch ohnehin schon jeder hier in der Gegend.«

»Vielleicht bin ich ja der Meinung, daß Geschichtentauscher schon viel mehr weiß, als ich möchte.«

»So etwas zu sagen, ist aber undankbar, Pa, zu einem Mann, der sich mehr als einmal als Freund erwiesen hat.«

»Er braucht mir nichts zu erzählen, was ich seiner Meinung nach nicht erfahren soll«, warf Geschichtentauscher ein.

»Dann werde ich es Euch erzählen«, erwiderte Measure. »Pa ist tatsächlich ein siebenter Sohn.«

»Und Al Junior auch«, fügte Geschichtentauscher hinzu. »Habe ich recht? Ihr habt es nie erwähnt, aber ich würde doch sagen, daß wenn ein Mann einem Sohn, der nicht sein Erstgeborener ist, seinen eigenen Namen gibt, so wird das wohl sein siebenter sein.«

»Unser ältester Bruder Vigor ist wenige Minuten nach Al Juniors Geburt im Hatrack River gestorben«, erklärte Measure.

»Hatrack«, wiederholte Geschichtentauscher.

»Kennt Ihr diesen Ort?» fragte Measure.

»Ich kenne jeden Ort. Aber aus irgendeinem Grund erweckt dieser Name in mir den Gedanken, daß ich mich schon früher daran hätte erinnern sollen, und ich weiß nicht weshalb. Der siebente Sohn eines siebenten Sohnes. Zaubert er den Mühlstein aus dem Fels hervor?«

»So drücken wir das nicht aus«, sagte Measure.

»Er haut«, sagte Miller. »Genau wie jeder Steinmetz.«

»Er ist zwar ein großer Junge, aber er ist immer noch ein Junge«, wandte Geschichtentauscher ein.

»Sagen wir so«, erklärte Measure, »wenn er den Stein haut, dann ist er etwas weicher, als wenn ich ihn haue.«

»Ich würde es zu schätzen wissen«, warf Miller ein, »wenn Ihr unten bleiben und beim Holzglätten und -kerben helfen könntet. Wir brauchen einen guten, festen Schlitten und einige wirklich runde, glatte Rollen.«

Was er nicht sagte, was Geschichtentauscher aber genau heraushörte, war: Bleib hier unten und stell nicht zu viele Fragen über Al Junior.

Also arbeitete Geschichtentauscher zusammen mit David, Measure und Calm bis in den Nachmittag hinein, wobei sie die ganze Zeit ein ständiges Klirren von Eisen auf Stein hörten. Alvin Juniors Schläge gab den Rhythmus für ihre Arbeit vor, wenngleich niemand es offen aussprach.

Doch Geschichtentauscher gehörte nicht zu denen, die schweigend arbeiten konnten. Da die anderen nicht allzu gesprächig waren, erzählte er die ganze Zeit Geschichten. Und da er es mit erwachsenen Männern zu tun hatte, ging es in seinen Geschichten nicht nur um Abenteuer und Heldentum und tragische Tode.

Tatsächlich widmete er den größten Teil des Nachmittags der Sage von John Adams: Wie sein Haus in Boston von einem Mob niedergebrannt wurde, nachdem er für zehn Frauen einen Freispruch erreicht hatte, die der Hexerei angeklagt worden waren. Wie Alex Hamilton ihn nach Manhattan Island eingeladen hatte, wo die beiden eine gemeinsame Rechtskanzlei eröffneten. Wie es ihnen in zehn Jahren gelungen war, die holländische Regierung dazu zu bewegen, die unbeschränkte Einwanderung von nicht holländisch sprechenden Menschen zu gestatten, bis Engländer, Schotten, Waliser und Iren in New Amsterdam und New Orange eine Mehrheit und in New Holland eine große Minderheit bildeten. Wie sie im Jahre 1780 Englisch zur zweiten offiziellen Sprache erklären ließen, gerade rechtzeitig für die holländischen Kolonien, die drei der sieben ursprünglichen Staaten des Amerikanischen Pakts bildeten.

»Ich wette, daß die Holländer diese Jungs gehaßt haben, als sie erst einmal damit fertig waren«, meinte David.

»Nein, dafür waren sie viel zu gute Politiker«, widersprach Geschichtentauscher. »Beide lernten sie Holländisch besser zu sprechen als die meisten Holländer, und sie zogen ihre Kinder auf holländischen Schulen holländischsprechend auf. Die waren so holländisch, daß, als Alex Hamilton sich um das Amt des Gouverneurs von New Amsterdam und John Adams um das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten bewarb, beide in den holländischen Teilen von New Netherland besser abschnitten als bei den Schotten und Iren.«

»Ich schätze, wenn ich mich um das Bürgermeisteramt bewerben sollte, könnte ich wohl diese Schweden und Holländer flußabwärts dazu bewegen, für mich zu stimmen«, sagte David.

»Für dich würde nicht einmal ich stimmen«, meinte Calm.

»Ich schon«, sagte Measure. »Und ich hoffe, daß du dich eines Tages tatsächlich als Bürgermeister bewirbst.«

»Das kann er gar nicht«, wandte Calm ein. »Das hier ist ja nicht einmal eine richtige Stadt.«

»Das wird sie aber einmal werden«, meinte Geschichtentauscher. »So etwas habe ich schon öfter gesehen. Wenn die Mühle erst einmal arbeitet, wird es nicht mehr lange dauern, und zwischen Eurer Mühle und Vigor Church leben dreihundert Leute.«

»Meint Ihr?«

»Im Augenblick kommen die Leute vielleicht drei- oder viermal im Jahr zu Brustwehrs Geschäft«, sagte Geschichtentauscher. »Aber wenn sie dort Mehl erhalten, werden sie sehr viel öfter kommen. Dann werden sie Eure Mühle eine Weile lang jeder anderen im Umkreis vorziehen, denn Ihr habt eine ausgebaute Straße und gute Brücken.«

»Wenn die Mühle Geld abwirft«, sagte Measure, »wird Pa bestimmt einen Buhrstein aus Frankreich bestellen. In West Hampshire hatten wir einmal einen, bevor die Flut die Mühle vernichtete. Und ein Buhrstein bedeutet feines weißes Mehl.«

»Und weißes Mehl bedeutet gute Geschäfte«, sagte David. »Wir Älteren, wir erinnern uns noch daran.«

Er lächelte wehmütig. »Damals waren wir beinahe reich.«

»Also«, meinte Geschichtentauscher. »Bei all dem Verkehr hier wird es nicht nur einen Laden und eine Kirche und eine Mühle geben. Unten im Wobbish gibt es guten weißen Ton. Da wird es nicht ausbleiben, daß auch ein Töpfer sein Geschäft aufmacht und Töpfer- und Steingut für das ganze Gebiet herstellt.«

»Ich wünschte mir, daß das möglichst bald käme«, bemerkte Calm. »Meine Frau sagt, daß sie es wirklich leid ist, das Essen immer auf Blechtellern servieren zu müssen.«

»So wachsen Städte«, erklärte Geschichtentauscher. »Ein guter Laden, eine Kirche, dann eine Mühle, dann eine Töpferei. Und übrigens auch Ziegeleien. Und wenn es eine Stadt gibt…«

»… dann kann David Bürgermeister werden«, sagte Measure.

»Ich nicht«, widersprach David. »Dieses ganze Politikgeschäft ist mir zuviel. Brustwehr will so etwas haben, nicht ich.«

»Brustwehr will König werden«, meinte Calm.

»Das ist aber eine unschöne Bemerkung«, sagte David.

»Aber sie stimmt«, erwiderte Calm. »Der würde doch sogar versuchen, Gott zu werden, wenn er glaubte, daß der Posten zu haben wäre.«

Measure erklärte Geschichtentauscher: »Calm und Brustwehr kommen nicht gut miteinander aus.«

»Ein sauberer Ehemann, der seine Frau eine Hexe nennt«, meinte Calm verbittert.

»Warum sollte er sie so nennen?» fragte Geschichtentauscher.

»Mit Sicherheit nennt er sie jetzt nicht mehr so«, sagte Measure. »Sie hat ihm versprochen, damit aufzuhören. All ihre Fähigkeiten für die Küche. Es ist eine Schande, eine Frau dazu zu zwingen, ihren Haushalt nur mit beider Hände Arbeit zu führen.«

»Das genügt«, sagte David. Geschichtentauscher bemerkte seinen warnenden Blick aus dem Augenwinkel.

Offensichtlich trauten sie Geschichtentauscher noch nicht genug, um ihn in die Wahrheit einzuweihen. Also ließ der alte Mann sie sein Geheimnis über ihre Schwester Eleanor wissen. »Es scheint mir, daß sie allerdings mehr davon benutzt, als Brustwehr errät«, warf Geschichtentauscher ein. »Auf ihrer Veranda steht ein raffiniertes Hexzeichen aus Körben. Und sie hat vor meinen Augen einen Beruhigungszauber auf ihn angewandt, an jenem Tag, da ich in der Stadt eintraf.«

Für einen Moment hielten die Brüder mit der Arbeit inne. Jeder schwieg, niemand sah Geschichtentauscher an. Jeder dachte nur, daß der alte Mann Eleanors Geheimnis gekannt und niemandem davon erzählt hatte. Auch nicht Brustwehr-Gottes Weaver. Dennoch war es eine Sache, daß er es wußte, eine andere aber, es ihm zu bestätigen. Also sagten sie nichts und machten sich einfach nur wieder daran, den Schlitten zu kerben und zu vertäuen.

Geschichtentauscher brach das Schweigen, indem er wieder zum eigentlichen Thema zurückkam. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bevor diese westlichen Gebiete genügend Einwohner haben, um sich selbst Staaten zu nennen, und um sich um Aufnahme in den Amerikanischen Pakt zu bewerben. Wenn das geschieht, wird man ehrliche Männer brauchen, die solche Ämter innehaben.«

»Hier im wilden Land werdet Ihr keinen Hamilton oder Adams oder Jefferson finden«, meinte David.

»Vielleicht nicht«, erwiderte Geschichtentauscher. »Aber wenn ihr ortsansässigen Jungen nicht eure eigene Regierung aufstellt, dann könnt ihr darauf wetten, daß es jede Menge Leute in den Städten geben wird, die bereit sind, es für euch zu tun. So wurde Aaron Burr Gouverneur von Suskwahenny, bevor Daniel Boone ihn neunundneunzig erschoß.«

»So, wie Ihr es erzählt, klingt es ja wie Mord«, meinte Measure. »Es war aber ein faires Duell.«

»So, wie ich die Sache sehe«, widersprach Geschichtentauscher, »ist ein Duell nichts als eine Abmachung zwischen zwei Mördern, die übereingekommen sind, abwechselnd zu versuchen, einander umzubringen.«

»Nicht, wenn einer davon ein alter Landjunge in Lederkleidung ist und der andere ein verlogener, betrügerischer Stadtmensch«, meinte Measure.

»Ich will keinen Aaron Burr haben, der versucht, Gouverneur des Lands Wobbish zu werden«, warf David ein. »Und diese Sorte Mann ist auch Bill Harrison unten in Carthage City. Eher würde ich für Brustwehr stimmen als für den.«

»Und ich würde eher für dich als für Brustwehr stimmen«, meinte Geschichtentauscher.

David grunzte. Er fuhr damit fort, Seil um die Kerben der Schlittenhölzer zu wickeln und sie miteinander zu verschnüren. Geschichtentauscher tat das gleiche auf der anderen Seite. Als er die beiden Seilenden miteinander verbinden wollte, unterbrach ihn Measure: »Wartet mal, ich hole Al Junior.«

Im Laufschritt eilte Measure die Anhöhe zum Steinbruch empor.

Geschichtentauscher ließ die Seilenden fallen. »Alvin Junior macht die Knoten? Ich hätte eigentlich gedacht, daß erwachsene Männer wie ihr sie fester hinbekommt.«

David grinste. »Er hat ein Talent dafür.«

»Hat sonst niemand von euch Talente?» fragte Geschichtentauscher.

»Ein paar.«

»David hat ein Talent für Damen«, meinte Calm.

»Calm hat tanzende Füße beim Heufest. Gibt auch keinen, der so fiedelt wie er«, sagte David. »Ist zwar manchmal ein bißchen schräg, aber er hält den Geigenbogen ganz schön beschäftigt.«

»Measure ist ein präziser Schütze«, sagte Calm. »Er hat ein Auge für Dinge, die so weit weg sind, daß die meisten Leute sie gar nicht sehen können.«

»Wir haben unsere Talente«, meinte David. »Die Zwillinge haben eine Art, zu wissen, wann sich Ärger zusammenbraut, und dafür, dort immer gerade rechtzeitig aufzutauchen.«

»Und Pa, der baut Sachen zusammen. Wenn wir Möbel bauen, lassen wir ihn alle Fugen machen.«

»Die Frauen haben Frauentalente.«

»Aber«, fügte Calm hinzu, »so einen wie Al Junior gibt es kein zweites Mal.«

David nickte ernst. »Es ist nur, Geschichtentauscher, daß er nichts davon zu wissen scheint. Ich meine, er ist irgendwie immer überrascht, wenn alles gutgeht. Er ist richtig stolz, wenn wir ihm eine Aufgabe geben.«

»Er ist ein guter Junge«, meinte Calm.

»Ein bißchen tolpatschig«, sagte David.

»Nicht tolpatschig«, widersprach Calm. »Meistens ist es ja nicht seine Schuld.«

»Sagen wir einfach, daß in seiner Gegenwart Unfälle eben öfter vorkommen.«

»Ich würde nicht sagen, daß er ein Unglücksrabe wäre oder so«, meinte Calm.

»Nein, Unglücksrabe würde ich nicht sagen.«

Geschichtentauscher bemerkte, daß sie tatsächlich beide das Wort ›Unglücksrabe‹ gesagt hatten. Natürlich sagte er nichts, denn schließlich war es ja die dritte Stimme, die ein Unglück wahr werden ließ. Sein Schweigen war die beste Abwehr gegen ein mögliches Unglück. Die beiden Brüder begriffen und schwiegen ebenfalls.

Nach einer Weile kam Measure mit Al Junior den Hügel herab. Geschichtentauscher wagte es nicht, die dritte Stimme zu sein, da er zuvor am Gespräch teilgenommen hatte. Doch es würde noch schlimmer sein, wenn Alvin als nächster sprach, da er ja mit einem Unglücksraben in Verbindung gebracht worden war. Daher hielt Geschichtentauscher seinen Blick auf Measure gerichtet und hob die Augenbrauen, um Measure anzuzeigen, daß von ihm eine Antwort erwartet wurde.

Measure beantwortete die Frage, von der er glaubte, daß Geschichtentauscher sie ihm gestellt hatte. »Oh, Pa ist oben am Fels. Hält Wache.«

Geschichtentauscher hörte, wie David und Calm erleichtert aufseufzten. Die dritte Stimme hatte keinen Unglücksraben im Sinn gehabt, so daß Alvin Junior in Sicherheit war.

Nun konnte Geschichtentauscher sich ungehindert fragen, weshalb Miller meinte, im Steinbruch Wache halten zu müssen. »Was soll einem Felsen schon passieren? Ich habe noch nie gehört, daß die Roten Steine stehlen würden.«

Measure zwinkerte. »Manchmal können mächtig seltsame Dinge passieren, vor allem mit Mühlsteinen.«

Alvin scherzte jetzt mit David und Calm, während er die Knoten band. Er strengte sich an, um sie so fest wie möglich zu bekommen, doch Geschichtentauscher sah, daß sein Talent sich nicht im Knoten selbst offenbarte. Während Al Junior die Seile verschnürte, schienen sie sich wie von allein ins Holz zu winden, und zwar in allen Kerben, was den ganzen Schlitten fester zusammenzog.

»Das ist fest genug, um auch als Floß dienen zu können«, sagte Al Junior und machte einen Schritt zurück, um sein eigenes Werk zu bewundern.

»Na ja, diesmal treibt es auf fester Erde«, meinte Measure. »Pa sagt, daß er in Wasser nicht einmal mehr hineinpissen wird.«

Da die Sonne im Westen allmählich unterging, begannen sie, ein Feuer zu entfachen. Den Tag über hatte die Arbeit sie warmgehalten, doch in der Nacht würden sie ein Feuer brauchen, um die Tiere abzuwehren und die Kälte zu ertragen.

Miller kam nicht herunter, nicht einmal zum Abendessen, und als Calm aufstand, um seinem Vater auf dem Hügel das Essen zu bringen, erbot sich Geschichtentauscher, mitzukommen.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Calm. »Das braucht Ihr wirklich nicht.«

»Ich möchte aber.«

»Pa — er hat es nicht gern, wenn sich viele Leute zu einer solchen Zeit am Felsen versammeln.«

Calm wirkte ein wenig verlegen. »Er ist ein Müller, und es ist sein Stein, der dort gehauen wird.«

»Ich bin nicht viele Leute«, erwiderte Geschichtentauscher. Calm sagte nichts mehr, und Geschichtentauscher folgte ihm den Fels hinauf.

Unterwegs kamen sie an zwei Stellen vorbei, wo früher schon Gestein gehauen worden war. Die Brocken aus behauenem Gestein hatte man dazu verwendet, um eine glatte Rampe vom Felsen hinunter zu bauen. Die Schnitte im Stein waren fast vollkommen rund. Geschichtentauscher hatte schon viele behauene und beschnittene Steine gesehen, doch nie solche — vollkommen rund, mitten in der Felswand. Meistens schlug man ein Stück heraus und rundete es erst am Boden ab. Calm ging seinetwegen nicht langsamer, so daß Geschichtentauscher keine Gelegenheit hatte, noch genauer hinzusehen, doch soweit er das beurteilen konnte, gab es keine Möglichkeit, wie der Steinhauer in diesem Steinbruch die Rückseite des Steins hatte schneiden können.

An der neuen Stelle sah es ganz genauso aus. Miller rechte gerade Steinsplitter zu einer ebenen Rampe vor dem Mühlstein zusammen. Geschichtentauscher ging ein Stück zurück und musterte in den letzten Flecken des Tageslichts die Felswand. Ganz allein arbeitend, hatte Al Junior an einem einzigen Tag die Vorderseite des Mühlsteins glattgehauen. Der Stein war praktisch poliert, noch immer an der Felswand hängend. Darüber hinaus war sogar schon das Mittelloch hineingeschnitten worden, um den Hauptschaft der Mühlenmaschine aufzunehmen. Es war vollends ausgehauen. Und auf der ganzen Welt gab es keine Möglichkeit, wie jemand einen Meißel anbringen konnte, um die Rückseite abzuschlagen.

»Das ist aber ein ordentliches Talent, das der Junge da hat«, meinte Geschichtentauscher.

Miller nickte zustimmend.

»Habe gehört, daß Ihr die Nacht hier oben verbringen wollt«, sagte Geschichtentauscher.

»Richtig gehört.«

»Würde Euch Gesellschaft stören?» fragte Geschichtentauscher.

Calm rollte die Augen.

Doch nach einer kleinen Weile zuckte Miller die Schultern. »Wie Ihr wollt.«

Calm blickte Geschichtentauscher mit weiten Augen an und hob die Augenbrauen, als wollte er sagen, daß es immer noch Zeichen und Wunder gäbe.

Nachdem Calm Millers Essen abgestellt hatte, ging er wieder davon. Miller legte den Rechen beiseite. »Habt Ihr schon gegessen?«

»Ich gehe Holz sammeln für das Feuer«, erwiderte Geschichtentauscher. »Solange es noch etwas hell ist. Eßt Ihr erst einmal.«

»Paßt auf Schlangen auf«, sagte Miller. »Die meisten haben sich zwar schon zum Winter zurückgezogen, aber man kann nie wissen.«

Geschichtentauscher achtete auf Schlangen, bekam aber keine zu sehen.

Schon bald hatten sie ein gutes Feuer, das die ganze Nacht brennen würde.

Im Licht des Feuers lagen sie in ihre Decken gehüllt. Geschichtentauscher fiel auf, daß Miller ein paar Ellen von dem Steinbruch entfernt weicheren Boden hätte finden können. Doch anscheinend war es von größter Wichtigkeit, den Mühlstein im Auge zu behalten.

Geschichtentauscher begann zu reden. Er sprach davon, wie schwer es für Väter sein mußte, mitanzusehen, wie ihre Söhne aufwuchsen, so voller Hoffnung für die Jungen, doch niemals wissend, wann der Tod kommen und das Kind fortholen würde. Es war ein Thema, auf das Alvin Miller nach einigem Zögern einging. Er erzählte die Geschichte von seinem ältesten Jungen Vigor, der im Hatrack River umgekommen war, nur wenige Minuten nach Alvin Juniors Geburt. Und dann kam er auf die vielen Momente zu sprechen, da Al Junior beinahe gestorben wäre. »Immer das Wasser«, sagte Miller zum Schluß. »Es glaubt mir zwar keiner, aber so ist es. Immer das Wasser.«

»Die Frage lautet«, meinte Geschichtentauscher, »ist das Wasser böse, will es einen guten Jungen vernichten? Oder ist es gut und versucht es, eine böse Macht zu vernichten?«

Eine solche Frage hätte viele Männer wütend gemacht, doch Geschichtentauscher hatte es schon lange aufgegeben, zu erraten, wie Miller auf etwas reagieren würde.

»Das habe ich mich auch schon gefragt«, entgegnete Miller ohne sonderliche Erregung. »Ich habe ihn genau beobachtet, Geschichtentauscher. Natürlich besitzt er ein Talent, die Menschen dazu zu bringen, ihn zu lieben. Sogar seine Schwestern. Seit er alt genug war, um in ihr Essen zu spucken, hat er sie gnadenlos gepeinigt. Und doch gibt es nicht eine von ihnen, der nicht irgend etwas einfiele, um ihm eine besondere Freude zu machen. Sie bringen es zwar fertig, seine Socken zuzunähen oder Ruß auf seinen Stuhl zu schmieren, aber zugleich würden sie für ihn sterben.«

»Ich habe festgestellt«, meinte Geschichtentauscher, »daß manche Leute die Fähigkeit haben, die Liebe anderer zu gewinnen, ohne sie jemals verdient zu haben.«

»Ich habe darüber auch schon nachgedacht«, erwiderte Miller. »Aber der Junge weiß gar nicht, daß er dieses Talent besitzt. Er bringt die Menschen nicht durch Tricks dazu, zu tun, was er will. Er läßt sich von mir bestrafen, wenn er etwas Falsches getan hat. Und wenn er wollte, könnte er mich durchaus daran hindern.«

»Wieso denn?«

»Weil er weiß, daß ich manchmal, wenn ich ihn sehe, in ihm meinen Sohn Vigor erblicke, meinen Erstgeborenen, und dann kann ich ihm nicht weh tun, auch wenn der Schmerz zu seinem Besten wäre.«

Möglich, daß diese Begründung zum Teil der Wahrheit entsprach, überlegte Geschichtentauscher. Aber mit Sicherheit war es nicht die ganze Wahrheit.

Ein wenig später, nachdem Geschichtentauscher das Feuer geschürt hatte, erzählte Miller die Geschichte, deretwegen Geschichtentauscher gekommen war.

»Ich habe eine Geschichte«, sagte er, »die möglicherweise in Euer Buch gehört.«

»Versucht es einmal«, erwiderte Geschichtentauscher.

»Sie ist allerdings nicht mir selbst widerfahren.«

»Es muß etwas sein, das Ihr mit eigenen Augen gesehen habt«, erklärte Geschichtentauscher. »Ich habe schon die verrücktesten Geschichten erzählt bekommen, von denen jemand gehört hat, daß sie dem Freund eines Freundes geschehen seien.«

»Oh, ich habe es durchaus mitangesehen. Es geht jetzt schon ein paar Jahre lang, und ich habe einige Unterhaltungen mit dem Burschen geführt. Die Geschichte dreht sich um einen Schweden flußabwärts. Wir haben ihm dabei geholfen, seine Blockhütte und seine Scheune zu bauen, als er hierherkam, ein Jahr nach uns. Und schon damals habe ich ihn ein wenig beobachtet. Ihr müßt nämlich wissen, daß er einen Jungen hat, einen blonden Schwedenjungen, Ihr wißt schon, wie die manchmal aussehen.«

»Mit fast weißem Haar?«

»Wie Frost in der Morgensonne, so weiß und glänzend.«

»Ich kann ihn im Geiste sehen«, erwiderte Geschichtentauscher.

»Und diesen Jungen hat sein Vater sehr geliebt. Mehr als sein eigenes Leben. Ihr kennt doch diese Bibelgeschichte von dem Vater, der seinem Jungen einen Rock von vielen Farben gab?«

»Man hat sie mir erzählt.«

»So liebte er seinen Jungen. Aber ich habe die beiden den Fluß entlangschreiten sehen, und da ist der Vater ganz plötzlich losgesprungen, hat seinen Jungen gestoßen und ihn in den Wobbish gestürzt. Nun war es so, daß der Junge sich an einem Holzscheit festhielt und sein Vater und ich ihm halfen, wieder an Land zu kommen, aber es war schon beängstigend mitanzusehen, wie der Vater sein eigenes Kind beinahe umgebracht hätte. Sicher, es wäre zwar nicht absichtlich gewesen, aber das hätte den Jungen nicht weniger tot gemacht oder den Vater weniger schuldlos.«

»Ich kann mir vorstellen, daß der Vater so etwas nie verkraftet hätte.«

»Natürlich nicht. Doch nicht lange danach sah ich ihn noch ein paarmal. Wie er Holz hackte und die Axt heftig schwang, und wenn der Junge nicht im selben Augenblick ausgerutscht und hingestürzt wäre, so hätte sich ihm die Axt in den Schädel gebohrt; ich habe noch nie jemanden gesehen, der so etwas überlebt hätte.«

»Ich auch nicht.«

»Und ich habe mir versucht vorzustellen, was da wohl geschah. Was der Vater wohl denken mußte. Also ging ich eines Tages zu ihm und sagte: ›Nels, Ihr solltet etwas vorsichtiger sein, wenn Euer Junge dabei ist. Sonst schlagt Ihr ihm eines Tages noch einmal den Kopf ab.‹

Und Nels hat geantwortet: ›Mr. Miller, das war kein Unfall.‹ Na, in diesem Augenblick hättet Ihr mich mit einem Säuglingsrülpser umhauen können. Was meinte er damit, kein Unfall? Und er sagte zu mir: ›Ihr wißt überhaupt nicht, wie schlimm es ist. Ich denke manchmal, daß eine Hexe mich verflucht hat oder der Teufel mich packt, aber ich arbeite einfach so gut vor mich hin, denke daran, wie sehr ich den Jungen liebe, und plötzlich habe ich den Wunsch, ihn zu töten. Das erste Mal hat es mich überfallen, als er noch ein Säugling war, ich stand oben auf der Treppe, hielt ihn, und plötzlich war eine Stimme in meinem Kopf, die sagte: ›Wirf ihn runter‹, und ich wollte es tun, obwohl ich zugleich wußte, daß es die schrecklichste Tat auf der Welt gewesen wäre. Ich war versessen darauf, ihn hinunterzuwerfen, wie ein Junge, wenn er unbedingt einen Käfer mit einem Stein zerquetschen will.

Nun, ich habe gegen dieses Gefühl angekämpft und habe den Jungen so fest an mich gedrückt, daß ich ihn beinahe erstickt hätte. Und als ich ihn schließlich wieder in seine Wiege zurücklegte, da wußte ich, daß ich ihn von nun an nie wieder diese Treppe hinauftragen würde.

Aber ich konnte ihn doch nicht alleinlassen, nicht wahr? Es war mein Junge, und er wuchs auf und wurde so heiter und ausgelassen, daß ich ihn einfach lieben mußte. Blieb ich weg, so weinte er, weil sein Papa nicht mit ihm spielte. Blieb ich aber bei ihm, so kehrten diese Gefühle zu mir zurück, immer und immer wieder. Zwar nicht jeden Tag, aber an vielen Tagen, manchmal so schnell, daß ich es schon tat, bevor ich überhaupt wußte, was geschah. Wie an dem Tag, als ich ihn in den Fluß gestürzt habe, da bin ich falsch aufgetreten und gestolpert, aber noch während ich diesen Schritt tat, wußte ich, daß er falsch war und daß ich stolpern und gegen ihn stoßen würde, ich wußte es einfach, aber ich hatte keine Zeit mehr, um mich selbst daran zu hindern. Und ich weiß auch, daß ich mich eines Tages nicht mehr im Zaum halten kann, daß ich es gar nicht tun will, aber eines Tages, wenn ich diesen Jungen zwischen den Händen habe, werde ich ihn umbringen.‹«

Geschichtentauscher sah, wie sich Millers Arm bewegte, als wollte er Tränen von seiner Wange fortwischen.

»Ist das nicht seltsam?» fragte Miller. »Daß ein Mann solche Gefühle für seinen eigenen Sohn hegt?«

»Hat dieser Bursche auch noch andere Söhne?«

»Ein paar. Warum?«

»Ich habe mich nur gerade gefragt, ob er auch jemals das Bedürfnis verspürt hatte, die anderen umzubringen.«

»Ich habe ich ihn das auch gefragt, und er meinte, nicht im geringsten.«

»Nun, Mr. Miller, was habt Ihr ihm geantwortet?«

Miller atmete einige Male tief durch. »Ich wußte nicht, was ich ihm sagen sollte. Manche Dinge sind einfach zu groß, als daß ein Mann wie ich sie verstehen könnte. Ich meine, so wie dieses Wasser hinter meinem Jungen Alvin her ist, um ihn umzubringen. Und dann dieser Schwede mit seinem Sohn. Vielleicht gibt es auch Kinder, die gar nicht erwachsen werden sollen. Meint Ihr das auch, Geschichtentauscher?«

»Ich glaube, es gibt Kinder, die sind so bedeutsam, daß irgend jemand — irgendeine Macht auf der Welt — sie tot wissen will. Aber es gibt immer auch andere Mächte, vielleicht auch stärkere Mächte, die wollen, daß sie überleben.«

»Warum zeigen sich diese Mächte dann nicht, Geschichtentauscher? Warum kommt nicht irgendeine Macht vom Himmel herab, sucht diesen armen Schweden auf und sagt: ›Fürchte dich nicht länger, dein Junge ist in Sicherheit, sogar vor dir!‹«

»Vielleicht sprechen diese Mächte ja nicht in Worten. Vielleicht zeigen diese Mächte einem einfach nur, was sie tun.«

»Die einzige Macht, die sich auf dieser Welt zeigt, ist jene, die tötet.«

»Ich weiß ja nicht, wie es mit diesem Schwedenjungen steht«, meinte Geschichtentauscher, »aber ich würde schon sagen, daß auf Eurem Sohn ein mächtiger Schutz ruht. Nach allem, was Ihr erzählt habt, ist es doch ein Wunder, daß er nicht schon zehnmal gestorben ist.«

»Das ist wahr.«

»Ich glaube, daß etwas über ihn wacht.«

»Nicht gut genug.«

»Das Wasser hat ihn doch noch nie bekommen, nicht wahr?«

»Es ist ihm schon so nahe gekommen, Geschichtentauscher!«

»Und was diesen Schwedenjungen betrifft, so weiß ich, daß er jemanden hat, der über ihn wacht.«

»Wer denn?» wollte Miller wissen.

»Nun, sein eigener Vater natürlich.«

»Sein eigener Vater ist auch sein Feind«, meinte Miller.

»Das glaube ich nicht«, widersprach Geschichtentauscher. »Wißt Ihr, wie viele Väter ungewollt ihre Söhne töten? Da ziehen sie zur Jagd aus, und ein Schuß verirrt sich. Oder ein Wagen zermalmt den Jungen, oder er stürzt. Das passiert doch ständig. Vielleicht haben diese Väter einfach nicht gesehen, was geschah. Aber dieser Schwede ist klüger, er sieht, was geschieht, und er paßt auf sich auf, reißt sich immer noch rechtzeitig zusammen.«

Miller klang schon ein wenig hoffnungsfroher. »So, wie Ihr es darstellt, klingt es, als wäre der Vater gar nicht so schlecht.«

»Wenn er so schlecht wäre, Mr. Miller, dann wäre dieser Junge schon längst tot und beerdigt.«

»Vielleicht.«

Miller dachte eine Weile nach. Tatsächlich tat er es so lange, daß Geschichtentauscher ein wenig einnickte. Ruckartig erwachte er wieder, als Miller bereits sprach.

»… und es wird einfach immer nur schlimmer, nicht besser. Immer schwieriger, diese Gefühle abzuwehren. Es ist nicht lange her, da stand er oben in der… in seiner Scheune… und lud Heu ab. Und unter ihm war sein Junge, und alles, wessen es bedurft hätte, war, die Gabel fliegen zu lassen; er hätte sagen können, daß die Heugabel ihm ausgerutscht sei, und niemand hätte es jemals erfahren. Einfach nur fliegen lassen und diesen Jungen voll durchbohren. Und er wollte es auch tun. Versteht Ihr mich? Es war so schwierig, diese Gefühle abzuwehren, schwieriger denn je, und er gab einfach auf. Er entschied einfach, die Sache hinter sich zu bringen, nachzugeben. Und in diesem Augenblick, erschien ein Fremder in der Tür und rief: ›Nein!‹ Und ich stellte die Heugabel ab — das hat er gesagt: ›Ich stellte die Heugabel ab, aber ich zitterte so schlimm, daß ich kaum noch gehen konnte, weil ich wußte, daß der Fremde mich mit dem Mord in meinem Herzen gesehen hatte. Er muß mich für den schlimmsten Mann auf Erden halten, weil ich daran dachte, meinen eigenen Jungen zu töten, er hat ja nicht den leisesten Verdacht, wie sehr ich all diese Jahre davor mit mir gerungen habe…‹«

»Vielleicht wußte dieser Fremde ja etwas über die Mächte, die im Herzen eines Menschen arbeiten können«, meinte Geschichtentauscher.

»Meint Ihr?«

»Oh, sicher kann ich mir da nicht sein, aber vielleicht hat dieser Fremde auch gesehen, wie sehr dieser Vater seinen Jungen liebte. Vielleicht war der Fremde lange Zeit verwirrt, aber schließlich begann er zu erkennen, daß das Kind außergewöhnlich war und mächtige Feinde besaß. Und dann begriff er vielleicht, daß der Junge noch so viele Feinde haben mochte, sein Vater aber nicht dazugehörte. Und er wollte diesem Vater etwas mitteilen.«

»Was wollte der Fremde ihm mitteilen?«

Miller fuhr sich wieder mit dem Ärmel über die Augen.

»Vielleicht wollte er sagen: ›Ihr habt alles getan, was Ihr konntet, und nun ist es zu mächtig für Euch geworden. Nun solltet Ihr diesen Jungen fortschicken. Vielleicht zurück zu Verwandten in den Osten oder in die Lehre in irgendeine Stadt.‹ Das mag für diesen Vater vielleicht hart sein, da er den Jungen so sehr liebt, aber er wird es tun, weil er weiß, daß wirkliche Liebe darin besteht, den Jungen außer Gefahr zu bringen.«

»Ja«, sagte Miller.

»Und wenn wir schon dabei sind«, sagte Geschichtentauscher, »Vielleicht solltet ihr mit Eurem eigenen Jungen, Alvin, auch etwas Ähnliches tun.«

»Vielleicht«, erwiderte Miller.

»Würdet Ihr nicht sagen, daß ihm vom Wasser in dieser Gegend eine gewisse Gefahr droht? Irgend jemand beschützt ihn oder irgend etwas. Aber wenn Alvin vielleicht gar nicht hier lebte…«

»Dann würden einige der Gefahren verschwinden«, ergänzte Miller.

»Denkt einmal darüber nach«, riet Geschichtentauscher.

»Es ist eine schreckliche Sache«, meinte Miller, »seinen Jungen fortzuschicken, damit er bei Fremden lebt.«

»Aber es ist noch schrecklicher, ihn zu beerdigen.«

»Ja«, stimmte Miller ihm zu. »Das ist das Schrecklichste auf der Welt.«

Nun sagten sie beide nichts mehr und schliefen nach einer kurzen Weile ein.

Der Morgen war kalt. Miller gestattete es Al Junior nicht, zum Fels emporzusteigen, bevor die Sonne nicht den Morgentau vertrieben hatte. Statt dessen verbrachten sie den Vormittag damit, den Boden von der Felswand bis zum Schlitten vorzubereiten, damit sie den Stein den Berg hinabrollen konnten.

Inzwischen war sich Geschichtentauscher sicher, daß Al Junior eine verborgene Kraft angewandt hatte, um den Mühlstein aus der Felswand zu hauen. Geschichtentauscher war neugierig. Er wollte feststellen, wie mächtig diese Macht genau war, damit er sie besser verstand. Und da Al Junior vermutlich gar nicht wußte, was er tat, mußte Geschichtentauschers sehr überlegt vorgehen. »Wie kerbt Ihr Euren Stein?» fragte Geschichtentauscher.

Miller zuckte die Schultern. »Früher habe ich Buhrstein verwendet. Die werden alle mit Sichelkerben versehen.«

»Könnt Ihr mir das zeigen?» fragte Geschichtentauscher.

Mit einer Ecke seines Rechens malte Miller einen Kreis in den mit Reif überzogenen Boden. Dann zeichnete er eine Reihe von Bögen, die sich von der Kreismitte über die Kanten zogen. Zwischen jedem Bogenpaar zog er einen kürzeren Bogen, der am Kreisrand begann, aber stets nur zwei Drittel der Strecke bis zum Mittelpunkt lang war. »So«, sagte Miller.

»Die meisten Mühlsteine in Pennsylvania und Suskwahenny besitzen eine Viererkerbung«, sagte Geschichtentauscher. »Kennt Ihr diesen Schnitt?«

»Zeigt ihn mir.«

Also zog Geschichtentauscher einen weiteren Kreis. Der war nicht ganz so gut zu erkennen, da der Reif langsam forttaute. Anstelle von gekrümmten zog er gerade Linien von der Kreismitte bis zur Kante, und die kürzeren Linien gabelten sich unmittelbar von den längeren ab und verliefen gerade zum Rand. »Manche Müller ziehen das vor, weil man so alles länger scharf halten kann. Da die Linien alle gerade sind, erhält man einen schönen, gleichmäßigen Zug, wenn man den Stein benutzt.«

»Das verstehe ich«, meinte Miller. »Aber ich weiß nicht so recht. Ich bin an diese Bogenlinien gewöhnt.«

»Nun, wie Ihr wollt«, sagte Geschichtentauscher. »Ich bin nie Müller gewesen, daher kann ich es nicht beurteilen. Ich erzähle nur Geschichten über das, was ich gesehen habe.«

»Oh, ich habe nichts dagegen, daß Ihr es mir zeigt«, erwiderte Miller.

Al Junior stand da und musterte beide Kreise.

»Ich glaube, wenn wir diesen Stein nach Hause geschafft bekommen«, meinte Miller, »werde ich es mit dieser Viererkerbung versuchen. Sieht mir danach aus, als wäre es damit leichter, sauber zu mahlen.«

Schließlich war der Boden wieder trocken, und Al Junior schritt zur Felswand hinüber. Die anderen Jungen waren alle unten, brachen das Lager ab oder brachten die Pferde hinauf zum Steinbruch. Nur Miller und Geschichtentauscher sahen zu, wie Al Junior seinen Hammer schließlich an die Felswand führte. Er mußte noch etwas hauen, um den Kreis rundherum fertigzubekommen.

Zu Geschichtentauschers Überraschung setzte Al Junior den Meißel an und hieb einmal mit dem Hammer darauf, worauf ein ganzer Steinbrocken, fast sechs Zoll lang, von der Felswand absplitterte und zu Boden bröckelte.

»Aber dieser Stein ist ja so weich wie Kohle«, meinte Geschichtentauscher. »Was soll denn das für einen Mühlstein abgeben?«

Miller grinste und schüttelte den Kopf.

Al Junior wich von dem Stein zurück. »Oh, Geschichtentauscher, es ist schon harter Stein, es sei denn, man kennt genau die richtigen Stellen, um ihn zu brechen. Versucht es nur, Ihr werdet sehen.«

Er reichte ihm Hammer und Meißel. Geschichtentauscher nahm sie entgegen und trat auf den Fels zu. Vorsichtig setzte er den Meißel an den Stein, nicht ganz im Lot. Dann, nachdem er ein paarmal leicht dagegen geklopft hatte, verpaßte er dem Meißel mit dem Hammer einen ordentlichen Hieb.

Der Meißel sprang ihm aus der Linken, und der Aufprall war so stark, daß er den Hammer fallenließ. »Tut mir leid«, sagte er, »ich habe so etwas zwar schon einmal gemacht, aber ich muß wohl die Fähigkeit verloren haben…«

»Oh, das liegt nur am Stein«, meinte Al Junior. »Er ist ein bißchen launisch. Er gibt nur in bestimmte Richtungen nach.«

Geschichtentauscher inspizierte die Stelle, die er hatte hauen wollen. Er konnte sie nicht wiederfinden. Sein mächtiger Hieb hatte nicht die leiseste Spur hinterlassen.

Al Junior nahm das Werkzeug und setzte den Meißel wieder an. Geschichtentauscher hatte den Eindruck, als würde er genau dieselbe Stelle wählen. Doch Al tat so, als hätte er ihn völlig anders angesetzt. »Seht Ihr, es ist nur leicht gewinkelt.«

Er schlug mit dem Hammer zu, das Eisen schepperte, Fels krachte, und wieder prasselten Steinbrocken zu Boden.

»Jetzt verstehe ich, warum Ihr ihm hier die Arbeit überlaßt«, meinte Geschichtentauscher.

»Scheint mir das beste zu sein«, meinte Miller.

Nach wenigen Minuten war der Stein völlig gerundet. Geschichtentauscher sagte nichts mehr, er beobachtete nur, was Al tat.

Der Junge legte sein Werkzeug beiseite, trat zu dem Mühlstein und umarmte ihn gleichsam. Die rechte Hand krümmte sich um seine Kante. Mit der Linken befühlte er die Rinne auf der gegenüberliegenden Seite. Alvin preßte die Wange gegen den Stein. Seine Augen waren geschlossen. Es sah ganz so aus, als würde er dem Fels lauschen.

Er begann sanft zu summen. Irgendeine kleine, geistlose Melodie. Er bewegte die Hände. Verschob seine Stellung. Lauschte mit dem anderen Ohr.

»Also«, meinte Alvin, »ich kann es ja kaum glauben.«

»Was glauben?» wollte sein Vater wissen.

»Diese letzten paar Hiebe müssen den Fels richtig erschüttert haben. Der hintere Teil ist bereits abgesplittert.«

»Ihr meint, dieser Mühlstein schwebt jetzt frei?» fragte Geschichtentauscher.

»Ich glaube, wir können ihn jetzt herausstoßen«, sagte Alvin. »Dazu werden wir die Seile brauchen, aber wir werden ihn schon ohne allzu viele Schwierigkeiten herausholen.«

Die Brüder trafen mit den Seilen und den Pferden ein. Alvin schob ein Seil hinter den Stein. Obwohl er die Rückseite mit keinem einzigen Hieb behauen hatte, fügte das Seil sich mühelos ein. Dann ein weiteres Seil, dann noch eins, und schon bald rissen sie alle daran, erst links, dann rechts, um den schweren Stein langsam aus seinem Bett in der Felswand zu bewegen.

»Wenn ich es nicht selbst gesehen hätte«, murmelte Geschichtentauscher.

»Habt Ihr aber«, sagte Miller.

Sie hatten ihn erst wenige Zoll bewegt, als sie die Seile wechselten und vier davon durch das Mittelloch zogen, um sie an das Pferdegespann zu schirren, das bergaufwärts über dem Stein stand. »Er wird mühelos bergabwärts rollen«, erklärte Miller Geschichtentauscher. »Die Pferde dienen als Bremse, sie geben Gegenzug.«

»Er sieht mir sehr schwer aus.«

»Legt Euch einfach nicht vor ihn«, meinte Miller.

Vorsichtig begannen sie ihn zu rollen. Miller packte Alvins Schulter und hielt den Jungen ein gutes Stück vom Stein entfernt — noch dazu bergauf. Geschichtentauscher half bei den Pferden, so daß er die Rückseite des Steins erst richtig zu sehen bekam, als er unten neben dem Schlitten auf ebener Erde lag.

Er war völlig glatt und so flach wie Eis in einer Schüssel. Nur daß er nach der Vierermanier gekerbt war, mit geraden Furchen, die sich vom Mittelloch bis zur Außenkante zogen.

Alvin kam heran und stellte sich neben ihn. »Habe ich es richtig gemacht?» fragte er.

»Ja«, erwiderte Geschichtentauscher.

»Es war wirklich großes Glück«, meinte der Junge. »Ich habe einfach gespürt, daß dieser Stein bereit war, genau an diesen Linien abzubrechen. Er wollte einfach abbrechen, völlig mühelos.«

Geschichtentauscher fuhr mit dem Finger sanft über den Rand einer Furche.

Etwas stach ihn. Er führte den Finger an den Mund, saugte daran und schmeckte Blut.

»Hat eine schöne scharfe Kante, der Stein, nicht wahr?» fragte Measure. Es klang, als würde derlei jeden Tag passieren. Doch Geschichtentauscher konnte die Ehrfurcht in seinem Blick erkennen.

»Gut gehauen«, meinte Calm.

»Bisher der Allerbeste«, sagte David.

Dann kippen sie ihn sanft auf den Schlitten, mit der gefurchten Seite nach oben, während die Pferde sich gegen einen plötzlichen Sturz anstemmten.

»Tut Ihr mir einen Gefallen, Geschichtentauscher?» fragte Miller.

»Wenn ich es kann.«

»Nehmt Alvin jetzt mit Euch nach Hause zurück. Seine Arbeit ist erledigt.«

»Nein, Papa!» rief Alvin. Er lief zu seinem Vater hinüber. »Du kannst mich doch jetzt nicht nach Hause schicken!«

»Wir können keinen zehnjährigen Jungen gebrauchen, während wir einen Stein von dieser Größe bewegen«, widersprach sein Vater.

»Aber ich muß doch auf den Stein aufpassen, um sicherzugehen, daß er nicht bricht oder platzt, Pa!«

Die älteren Söhne musterten abwartend ihren Vater. Geschichtentauscher fragte sich, worauf sie wohl hoffen mochten. Sicherlich waren sie schon zu alt, um die besondere Liebe ihres Vaters zu seinem siebenten Sohn übelzunehmen. Auch sie mußten darauf hoffen, daß Schaden von dem Jungen ferngehalten wurde. Und doch bedeutete es ihnen allen so viel, daß der Stein sicher und heil am Ziel ankam, um seinen Dienst in der Mühle tun zu können.

»Du kannst bis zum Sonnenaufgang mit uns reiten«, entschied Miller. »Dann sind wir fast zu Hause, so daß du und Geschichtentauscher zurückkehren und die Nacht im Bett verbringen könnt.«

»Das behagt mit sehr«, meinte Geschichtentauscher.

Offensichtlich war Alvin Junior nicht ganz zufrieden, doch er erwiderte nichts.

Noch vor dem Mittag hatten sie den Schlitten in Bewegung gesetzt. Zwei Pferde vorne, zwei hinten, um ihn zu bremsen, waren an den Stein selbst angeschirrt. Dieser ruhte auf der hölzernen Plattform des Schlittens, der wiederum auf sieben oder acht der kleineren Rollen gleichzeitig glitt. Der Schlitten bewegte sich vor, auf weitere Rollen zu, die vor ihm lagen, während die Jungen hinten sofort die Rollen unter den Seilen des Folgegespanns hervorzogen, nach vorne eilten und sie hinter das Zuggespann legten. Das bedeutete, daß jeder Mann für jede Meile, die der Stein sich bewegte, etwa fünf Meilen laufen mußte.

Geschichtentauscher wollte mithelfen, doch David, Calm und Measure ließen es nicht zu. So wurde ihm schließlich die Bewachung des Hintergespanns übertragen, wobei Alvin auf einem der Pferde saß. Miller trieb das Zuggespann voran und ging die Hälfte der Zeit dabei rückwärts, um sicherzugehen, daß er für die Jungen nicht zu schnell war.

So verging Stunde um Stunde. Miller bot ihnen an, anzuhalten und sich auszuruhen, doch sie schienen nicht zu ermüden. Geschichtentauscher war überrascht, wie gut die Rollbalken durchhielten. Ohne größere Schwierigkeiten kamen sie voran.

Und als die Sonne in einer Flut roter Wolken allmählich hinter dem Horizont verschwand, erblickte Geschichtentauscher vor ihnen die Gemeindeweide. Sie hatten die ganze Reise an einem einzigen Nachmittag geschafft.

»Ich glaube, ich habe die kräftigsten Brüder auf der ganzen Welt«, murmelte Alvin.

Daran zweifle ich keinen Augenblick, dachte Geschichtentauscher. Du, der du ohne Werkzeuge mit deinen bloßen Händen einen Stein aus dem Berg hauen kannst, indem du einfach nur die richtigen Risse im Fels ›findest‹, in deiner Gegenwart überrascht es nicht, daß deine Brüder über beinahe genausoviel Kraft verfügen. Wie schon so oft zuvor, versuchte Geschichtentauscher auch diesmal, Klarheit über die Natur der verborgenen Mächte zu bekommen. Gewiß gab es doch irgendein Naturgesetz, das ihren Gebrauch beherrschte — der Alte Ben hatte das immer gesagt. Und doch dieser Junge hier konnte durch bloßen Glauben und durch bloßes Wollen Gestein schneiden wie Butter. Es gab eine Theorie, die besagte, daß die verborgene Kraft aus der Freundschaft zu einem bestimmten Element herrührte, doch welches Element konnte all das vollbringen, was Alvin tat? Die Erde? Die Luft? Das Feuer? Gewiß nicht das Wasser, denn Geschichtentauscher wußte, daß Millers Geschichten stimmten. Wieso konnte Alvin Junior sich irgend etwas wünschen, so daß die Erde selbst sich seinem Willen beugte, während andere sich so sehr nach etwas sehen konnten, ohne damit auch nur eine Brise in Bewegung zu setzen?

Als sie den Stein durch die Tore rollten, brauchten sie Laternen im Inneren des Mühlhauses. »Jetzt können wir ihn auch gleich an Ort und Stelle bringen«, meinte Miller. Geschichtentauscher stellte sich die Befürchtungen vor, die Millers Geist durchzogen. Wenn er den Stein aufrecht stehen ließe, würde er mit Sicherheit am Morgen davonrollen und ein ganz bestimmtes Kind zerquetschen, während es gerade in aller Unschuld Wasser ins Haus trug. Da der Stein auf wunderbare Weise an einem einzigen Tag vom Berg heruntergekommen war, wäre es töricht gewesen, ihn irgendwoanders aufzubewahren als an seinem vorgesehenen Platz.

Sie führten ein Gespann hinein und schirrten es an den Stein an, wie sie es getan hatten, als sie ihn im Steinbruch auf den Schlitten gegeben hatten. Das Gespann sollte gegen das Gewicht des Steins anziehen, während sie ihn auf das Fundament hoben.

Im Augenblick jedoch ruhte der Stein unmittelbar außerhalb des Fundaments auf aufgehäufter Erde. Measure und Calm bohrten ihre Hebepfähle unter seine Außenseite, bereit, ihn aufzustellen und an Ort und Stelle fallen zu lassen. Der Stein schwankte ein wenig, während sie daran arbeiteten. David hielt die Pferde fest, da es eine Katastrophe geben würde, wenn sie zu früh zogen und den Stein in die falsche Richtung kippte, bis er mit seiner gefurchten Seite auf der Erde lag.

Geschichtentauscher stand daneben und sah zu, wie Miller seinen Söhnen mit nutzlosen Rufen wie »Vorsichtig!» und »Jetzt langsam!» Anweisungen erteilte. Seit sie den Mühlstein hereingebracht hatten, hatte Alvin neben ihm gestanden. Eines der Pferde wurde unruhig. Miller reagierte sofort. »Calm, geh und hilf deinem Bruder mit den Pferden!«

In diesem Augenblick bemerkte Geschichtentauscher, daß Alvin nun doch nicht mehr neben ihm stand. Er trug einen Besen in der Hand und schritt forsch auf den Mühlstein zu. Vielleicht hatte er ein paar lose Steine auf dem Fundament entdeckt, die er wegfegen wollte. Die Pferde wichen zurück; die Leinen wurden schlaff. Geschichtentauscher erkannte, gerade als Alvin hinter dem Stein verschwand, daß nichts diesen Stein daran hindern konnte, gänzlich umzufallen, jetzt, da die Seile so schlaff waren, sofern er in eben diesem Augenblick umfallen sollte.

Aber in einer vernünftigen Welt würde er mit Sicherheit nicht umfallen.

Doch Geschichtentauscher wußte inzwischen, daß es überhaupt keine vernünftige Welt war. Alvin Junior hatte einen mächtigen, unsichtbaren Gegner, der sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen würde.

Geschichtentauscher sprang vor. Als er gerade auf gleicher Höhe mit dem Stein war, spürte er, wie die Erde unter seinen Füßen nachgab, nicht viel, nur ein paar Zoll, doch dieser Einbruch genügte, um den Mühlstein in Schräglage zu bringen. Der Stein drohte zu kippen — nein, er würde mit tödlicher Sicherheit kippen und Alvin Junior zermalmen.

Mit einem Schrei bekam Geschichtentauscher Alvins Arm zu fassen und riß ihn zurück. Erst da sah Alvin, wie der große Stein auf ihn stürzte. Geschichtentauschers Bewegung war kraftvoll genug, um den Jungen mehrere Fuß zurückzureißen, doch noch immer befanden sich die Beine des Jungen im Schatten des Steins. Jetzt fiel er immer schneller, zu schnell, als daß Geschichtentauscher noch hätte reagieren können: Alvins Beine würden zerquetscht werden, und das war vielleicht schlimmer als ein plötzlicher Tod.

Doch in diesem Augenblick, als er den Stein in seinem mörderischen Sturz beobachtete, sah Geschichtentauscher, wie sich urplötzlich ein Riß durch den ganzen Stein zog. Die beiden Hälften sprangen auseinander, jede davon in einer solchen Richtung, daß sie neben Alvins Bein zu Boden gehen würden, ohne ihn zu berühren.

Kaum hatte Geschichtentauscher Laternenlicht durch die Mitte des Steins schimmern sehen, als Alvin selbst ausrief: »Nein!«

Jedermann hätte glauben müssen, daß der Junge gegen seinen drohenden Tod anschrie. Doch für Geschichtentauscher, der neben dem Jungen auf dem Boden lag, bedeutete dieser Ruf etwas völlig anderes: Ohne auf seine eigene Gefährdung zu achten, schrie Alvin gegen das Zerbersten des Mühlsteins an. Nach all seiner Arbeit und all der Mühe, den Stein nach Hause zu bringen, konnte er es nicht ertragen, ihn zerbrechen zu sehen.

Und weil er es nicht ertragen konnte, geschah es auch nicht. Die Steinhälften sprangen wieder zusammen wie eine Nadel, die auf einen Magneten reagierte, und der Stein stürzte in einem Stück zu Boden. Der Schatten des Mühlsteins hatte seine Spur auf dem Boden übertrieben. Er zerquetschte Alvins Beine nicht. Sein linkes Bein blieb sogar völlig unversehrt, das rechte aber wurde arg in Mitleidenschaft gezogen. Zwar wurde es nicht überrollt, doch der Stein schrammte über Als Schienenbein und schälte Haut und Muskeln ab. Doch das Bein wäre nicht gebrochen worden, hätte es nicht quer auf dem Besenstiel gelegen. Der Stein drückte Alvins Bein gegen den Stiel, gerade kräftig genug, um beide Knochen des Unterschenkels säuberlich in zwei Stücke zu brechen. Die spitzen Kanten des Knochens durchbohrten die Haut und traten wie beide Seiten einer Schraubklemme heraus. Das Bein aber lag nicht unter dem Mühlstein und war nicht zerquetscht worden.

Die Luft war angefüllt von dem Krachen von Stein auf Stein, von den lauten, tiefkehligen Schreien der Männer, die vom Entsetzen überrascht wurden, vor allem aber von dem durchdringenden Schmerzensschrei des Jungen.

Bevor ein anderer die Stelle erreicht hatte, hatte Geschichtentauscher bereits gesehen, daß Alvins beide Beine nicht unter dem Stein lagen. Alvin versuchte sich aufzusetzen und seine Verletzung zu betrachten. Entweder war ihr Anblick oder der Schmerz zuviel, jedenfalls verlor er das Bewußtsein. Da hatte Alvins Vater ihn erreicht. Er hatte zwar nicht am nächsten gestanden, hatte aber schneller reagiert als Alvins Brüder. Geschichtentauscher versuchte ihn zu beruhigen, denn so, wie die Knochen den Besenstiel griffen, sah das Bein überhaupt nicht gebrochen aus. Miller hob seinen Sohn auf, doch das Bein hing fest. Selbst in seiner Ohnmacht rang der Schmerz dem Jungen ein grausames Stöhnen ab. Measure nahm sich schließlich soweit zusammen, um an dem Bein zu reißen und es von dem Besenstiel zu befreien.

David hielt bereits eine Laterne, und als Miller den Jungen davontrug, wies David ihm den Weg. Measure und Calm wollten folgen, doch Geschichtentauscher rief ihnen zu: »Die Frauen werden David und eurem Vater helfen, aber irgend jemand muß noch hier nach dem Rechten sehen.«

»Ihr habt recht«, meinte Calm. »Vater wird sobald nicht zurückkommen.«

Die beiden jungen Männer benutzten die Stangen, um den Stein so weit zu heben, daß Geschichtentauscher den Besenstiel und die Seile hervorziehen konnte, die noch immer an die Pferde angeschirrt waren. Zu dritt räumten sie dann die ganze Ausrüstung aus der Mühle, brachten die Pferde in den Stall und verstauten Werkzeuge und Vorräte. Erst dann kehrte Geschichtentauscher ins Haus zurück, um festzustellen, daß Alvin Junior in seinem Bett schlief.

»Ich hoffe, es macht Euch nichts aus«, sagte Anne besorgt.

»Natürlich nicht«, erwiderte Geschichtentauscher.

Die anderen Mädchen und Cally räumten gerade die Teller vom Abendessen fort. In Geschichtentauschers altem Zimmer saßen Faith und Miller neben dem Bett, beide aschfahl und mit zusammengepreßten Lippen, neben Alvin mit seinem geschienten Bein.

David blieb neben der Tür stehen. »Es war ein sauberer Bruch«, flüsterte er Geschichtentauscher zu. »Aber die Schnitte in der Haut — wir befürchten eine Infektion. Er hat die ganze Haut am vorderen Schienbein verloren. Wir haben sie wieder angenäht so gut es ging. Ich weiß nicht, ob so ein Bruch jemals verheilen kann.«

Faith hob den Kopf. »Versteht Ihr etwas von Heilkunde, Geschichtentauscher?«

»Was ein Mann eben lernt, wenn er versucht zu tun, was er kann, unter jenen, die ebensowenig davon verstehen wie er.«

»Wie konnte das geschehen?» fragte Miller. »Warum ausgerechnet jetzt, wo ihm so oft nichts passiert ist?«

Er blickte zu Geschichtentauscher empor. »Ich hatte zu glauben begonnen, daß der Junge einen Beschützer hat.«

»Den hat er auch.«

»Dann hat der Beschützer ihn im Stich gelassen.«

»Er hat ihn nicht im Stich gelassen«, widersprach Geschichtentauscher. »Einen Augenblick lang, während der Stein stürzte, sah ich, wie er auseinanderbrach, breit genug, um ihn nicht zu berühren.«

»Wie der Dachbalken«, flüsterte Faith.

»Es ist aber kein Riß mehr darin«, meinte Miller.

»Nein«, sagte Geschichtentauscher. »Weil Alvin Junior es ihm verwehrt hat, sich zu spalten.«

»Soll das heißen, daß er ihn wieder zusammengefügt hat? Damit er ihn trifft und sein Bein zerschmettert?«

»Ich will damit sagen, daß er überhaupt nicht an sein Bein gedacht hat«, meinte Geschichtentauscher. »Nur an den Stein.«

»Oh, mein Junge, mein lieber Junge«, murmelte Faith gedankenvoll.

»Ist so etwas möglich?» fragte David. »Daß der Stein auseinanderbrach und wieder ganz wurde, und alles innerhalb von Sekunden?«

»Das muß so sein«, sagte Geschichtentauscher, »denn es ist geschehen.«

Faith beugte sich über ihren Sohn.

»Er ist wach«, sagte sein Vater.

»Ich werde etwas Rum für den Jungen holen«, sagte David. »Um den Schmerz zu lindern. Brustwehr wird welchen im Laden haben.«

»Nein«, murmelte Alvin.

»Der Junge sagt nein«, erklärte Geschichtentauscher.

»Was weiß er schon, da er so unter Schmerz steht?«

»Er muß bei klarem Verstand bleiben, wenn er kann«, erklärte Geschichtentauscher. Er kniete neben dem Bett nieder, direkt rechts neben Faith, so daß er noch näher am Gesicht des Jungen war als sie. »Alvin, kannst du mich verstehen?«

Alvin stöhnte leise.

»Dann hör mir zu. Dein Bein ist sehr schlimm verletzt. Die Knochen sind gebrochen, aber sie sind wieder gerichtet worden — sie werden schon wieder heilen. Doch die Haut ist abgerissen, und obwohl deine Mutter sie wieder genäht hat, besteht die Möglichkeit, daß die Haut absterben und brandig wird, um dich zu töten. Die meisten Ärzte würden dir jetzt das Bein amputieren, um dein Leben zu retten.«

Alvin warf den Kopf vor und zurück und versuchte zu schreien, doch er brachte nur ein Stöhnen heraus: »Nein, nein, nein.«

»Ihr macht die Dinge nur noch schlimmer!» sagte Faith zornig.

Geschichtentauscher blickte den Vater um Erlaubnis an, fortzufahren.

»Quält den Jungen nicht«, sagte Miller.

»Es gibt ein Sprichwort«, sagte Geschichtentauscher. »Der Apfelbaum fragt die Birke nicht, wie er wachsen soll, noch fragt der Löwe das Pferd, wie er seine Beute jagen kann.«

»Was hat das zu bedeuten?» fragte Faith.

»Es bedeutet, daß es mich nichts angeht, zu versuchen, ihm beizubringen, wie er die Kräfte anwenden soll, die ich nicht einmal im Ansatz verstehe. Aber da er selbst nicht weiß, wie er es tun kann, muß ich es doch wohl versuchen, oder nicht?«

Miller überlegte einen Augenblick. »Fahrt fort, Geschichtentauscher. Es ist besser, wenn er erfährt, wie schlimm es steht, ob er sich nun selbst heilen kann oder nicht.«

Geschichtentauscher hielt die Hand des Jungen sanft zwischen seinen eigenen. »Alvin, du möchtest doch dein Bein behalten, nicht wahr? Dann mußt du daran denken, wie du an den Stein gedacht hast. Du mußt an die Haut auf deinem Bein denken, wie sie an den Knochen so anwächst, wie sie soll. Du mußt es dir ausdenken. Du wirst jede Menge Zeit dafür haben, wenn du hier liegst. Denke nicht an den Schmerz, denke an das Bein, wie es sein sollte, nämlich wieder heil und kräftig.«

Alvin lag da und kniff die Augen vor Schmerz zusammen.

»Wirst du das tun, Alvin? Kannst du es versuchen?«

»Nein«, sagte Alvin.

»Du mußt gegen den Schmerz ankämpfen, damit du dein eigenes Talent benutzen kannst, um die Dinge wieder zu richten.«

»Das werde ich niemals tun«, sagte Alvin.

»Warum nicht!» rief Faith.

»Der leuchtende Mann«, sagte Alvin. »Ich habe es ihm versprochen.«

Geschichtentauscher erinnerte sich an Alvins Eid vor dem leuchtenden Mann, und sein Mut sank.

»Wer ist denn der leuchtende Mann?» fragte Miller.

»Eine… Heimsuchung, die er hatte, als er klein war«, erklärte Geschichtentauscher.

»Wie kommt es, daß wir noch nie davon erfahren haben?» wollte Miller wissen.

»Es war in der Nacht, als der Dachbalken brach«, sagte Geschichtentauscher. »Alvin hat dem leuchtenden Mann versprochen, daß er seine Kraft niemals zu seinem eigenen Vorteil anwenden wird.«

»Aber Alvin«, wandte Faith ein, »hier geht es doch nicht darum, daß du reich wirst, sondern darum, dein Leben zu retten.«

Der Junge zuckte nur wieder vor Schmerz und schüttelte den Kopf.

»Würdet Ihr mich mit ihm allein lassen?» fragte Geschichtentauscher. »Nur für ein paar Minuten, damit ich mit ihm reden kann?«

Noch bevor Geschichtentauscher seinen Satz beendet hatte, drängte Miller Faith aus der Zimmertür.

»Alvin«, sagte Geschichtentauscher. »Du weißt, daß ich dich nicht anlügen werde. Ein Eid ist eine schreckliche Sache, und niemals würde ich einem Menschen raten, sein Wort zu brechen, nicht einmal, um sein eigenes Leben retten. Daher werde ich dir auch nicht sagen, daß du deine Macht zu deinem eigenen Guten anwenden sollst. Kannst du mich verstehen?«

Alvin nickte.

»Aber denk einmal nach. Denk an den Entmacher, wie er durch die Welt zieht. Niemand sieht ihn bei seinem Werk, wie er die Dinge niederreißt und vernichtet. Niemand außer einem einzigen, einsamen Jungen. Wer ist dieser Junge, Alvin?«

Alvins Lippen bildeten das Wort, obwohl er keinen Ton hervorbrachte: Ich.

»Und diesem Jungen ist eine Kraft gegeben worden, die er nicht einmal andeutungsweise versteht. Die Macht, gegen das Entmachen des Feinds anzubauen. Und noch mehr als das, Alvin — nämlich auch das Verlangen, etwas zu erbauen. Ein Junge, der jedes Aufblitzen des Entmachers mit seinem Tun erwidert. Nun sag mir eins, Alvin, diejenigen, die dem Entmacher helfen, sind das die Freunde oder die Feinde der Menschen?«

»Feinde«, sagten Alvins Lippen.

»Wenn du dem Entmacher also dabei hilfst, seinen gefährlichsten Gegner zu vernichten, bist du doch ein Feind der Menschheit, nicht wahr?«

»Ihr verdreht die Sache«, sagte er keuchend.

»Ich deute sie nur richtig«, erwiderte Geschichtentauscher. »Dein Eid lautete, daß du deine eigene Macht nie zu deinem eigenen Vorteil verwenden solltest. Aber wenn du stirbst, dann dient dies nur dem Entmacher, aber wenn du lebst, dann ist das zum Besten der ganzen Menschheit.«

Alvin wimmerte, mehr wegen des Schmerzes in seinem Geiste als wegen des Schmerzes in seinem Körper.

»Aber dein Eid war eindeutig, nicht wahr? Niemals zu deinem eigenen Vorteil. Warum aber ersetzt du nicht einen Eid durch einen anderen, Alvin? Leiste jetzt einen Schwur, daß du dein ganzes Leben dem Kampf gegen den Entmacher weihst. Wenn du diesen Eid einhältst, und das wirst du tun, Alvin, denn du bist ein Junge, der Wort hält — wenn du diesen Schwur hältst, dann wird die Rettung deines Lebens wahrhaftig zum Wohle anderer sein und überhaupt nicht zu deinem eigenen.«

Geschichtentauscher wartete, bis Alvin schließlich matt nickte.

»Schwörst du, Alvin Junior, daß du dein Leben leben wirst, um den Entmacher zu besiegen, um die Dinge wieder ganz richtig zu machen?«

»Ja«, flüsterte der Junge.

»Dann sage ich dir, daß du nach den Bedingungen deines eigenen Versprechens dich selbst heilen mußt.«

Alvin packte Geschichtentauschers Arm. »Wie«, flüsterte er.

»Das weiß ich nicht, Junge«, sagte Geschichtentauscher.

»Wie du deine Macht benutzen mußt, das mußt du selbst herausfinden. Ich kann dir nur sagen, daß du es versuchen mußt, sonst bekommt der Feind seinen Sieg, und dann muß ich deine Geschichte damit beenden, wie dein Leichnam ins Grab herabgelassen wurde.«

Zu Geschichtentauschers Überraschung lächelte Alvin. Dann begriff Geschichtentauscher den Witz. Seine Geschichte würde ohnehin mit dem Grab enden, gleichgültig, was er heute tat. »Also gut, Junge«, sagte Geschichtentauscher. »Aber lieber hätte ich noch ein paar weitere Seiten über dich, bevor ich unter das Buch Alvin das Finis setze.«

»Ich werde es versuchen», flüsterte Alvin.

Wenn er es versuchte, dann würde er mit Sicherheit auch Erfolg haben. Alvins Beschützer hatte ihn nicht soweit geführt, nur um ihn jetzt sterben zu lassen. Geschichtentauscher zweifelte nicht daran, daß Alvin die Macht besaß, sich selbst zu heilen, wenn er nur herausbekam, wie es geschehen mußte. Sein eigener Körper war sehr viel komplizierter als der Stein. Doch wenn er leben sollte, mußte er auch die Wege seines eigenen Fleisches kennenlernen.

Man errichtete Geschichtentauscher draußen im großen Zimmer ein Bett. Er erbot sich, neben Alvins Bett auf dem Boden zu schlafen, doch Miller lehnte ab: »Das ist mein Platz.«

Geschichtentauscher fiel es schwer, einzuschlafen. Mitten in der Nacht gab er es schließlich auf, zündete mit einem Holz aus dem Feuer eine Laterne an und ging hinaus.

Der Wind war frisch. Ein Sturm braute sich zusammen, und vielleicht würde es sogar schneien. In der großen Scheune waren die Tiere unruhig. Geschichtentauscher kam der Gedanke, daß er heute abend möglicherweise nicht allein im Freien war. Vielleicht lauerten Rote in den Schatten, oder vielleicht wanderten sie sogar zwischen den Gebäuden der Farm umher und beobachteten ihn. Er erschauerte einmal, dann schüttelte er die Furcht ab. Die Nacht war zu kalt. Selbst die blutrünstigsten Choc-Taws und Cree-Eks, die vom Süden zum Spionieren herbeigekommen wären, müßten zu klug sein, um sich bei einem solchen drohenden Sturm noch draußen aufzuhalten.

Schon bald würde Schnee fallen. Hätte Alvin sie mit dem Mühlstein nicht an einem Tag zurückeilen lassen, sie hätten wahrscheinlich versuchen müssen, mitten im Schneefall den Stein mit dem Schlitten nach Hause zu bringen.

Geschichtentauscher fand sich in der Mühle wieder, den Stein betrachtend. Er sah so fest aus, daß es schwerfiel sich vorzustellen, wie irgend jemand ihn jemals bewegen sollte. Wieder berührte er seine Oberfläche, wobei er vorsichtig genug war, um sich nicht daran zu schneiden. Seine Finger fuhren über die flachen Furchen, wo das Mehl sich sammeln würde, wenn das große Wasserrad den Mittelpfahl drehte und den oberen Mühlstein auf dem unteren herum und herum bewegte, so stetig, wie die Erde sich um die Sonne bewegte, Jahr um Jahr, die Zeit in Staub verwandelnd, so sicher, wie die Mühle Getreide zu Mehl mahlte.

Er blickte hinab an die Stelle, wo der Boden unter dem Mühlstein ein Stück nachgegeben hatte, um ihn umzukippen und den Jungen fast zu töten. Der Boden der Mulde glitzerte im Laternenlicht. Geschichtentauscher kniete nieder und tauchte seinen Finger in Wasser. Es mußte sich unterirdisch gesammelt haben, um den Grund aufzuweichen.

Ah, Entmacher, dachte Geschichtentauscher, zeige dich mir, dann baue ich ein solches Gebäude, daß du darin auf alle Zeiten angekettet und gefangen bleiben wirst. Doch so sehr er sich bemühte, er konnte keine bebende Luft erkennen, die sich Alvin Millers siebentem Sohn gezeigt hatte. Schließlich nahm Geschichtentauscher die Laterne auf und verließ die Mühle. Die ersten Schneeflocken fielen. Der Wind hatte sich fast gelegt. Der Schnee kam immer schneller und schneller, tänzelte im Licht der Laterne. Als er das Haus erreicht hatte, war der Boden grau von Schnee, der Wald in der Ferne unsichtbar. Er ging ins Haus, legte sich auf den Boden, ohne auch nur seine Stiefel auszuziehen, und schlief ein.

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