Der Besucher saß bequem auf dem Altar, lässig auf den linken Arm abgestützt, so daß sein Körper schräg lag. Reverend Thrower hatte einmal einen Gecken in Camelot eine derartig lässige Haltung annehmen sehen, ein Tunichtgut, der alles verachtete, wofür die puritanischen Kirchen Englands und Schottlands einstanden. Thrower war ziemlich unbehaglich zumute, den Besucher in einer solch respektlosen Pose zu sehen.
»Warum?» fragte der Besucher. »Nur weil du deiner fleischlichen Begierden ausschließlich dadurch Herr wirst, indem du auf deinem Stuhl gerade sitzt, die Knie zusammengelegt, die Hände vorsichtig in den Schoß gelegt, muß das noch nicht bedeuten, daß ich dasselbe tun muß.«
Thrower war verlegen. »Es ist nicht gerecht, mich wegen meiner Gedanken zurechtzuweisen.«
»Das ist es sehr wohl, wenn deine Gedanken mich für meine Taten zurechtweisen. Hüte dich vor Überheblichkeit, mein Freund. Halte dich selbst nur nicht für so rechtschaffen, daß du glaubst, du könntest über das Tun von Engeln richten.«
Es war das erste Mal, daß der Besucher sich selbst als Engel bezeichnet hatte.
»Ich habe mich als überhaupt nichts bezeichnet«, sagte der Besucher. »Du mußt lernen, deine Gedanken zu beherrschen, Thrower. Du ziehst viel zu voreilig deine Schlüsse.«
»Warum habt Ihr mich aufgesucht?«
»Es geht um den Erbauer dieses Altars«, erwiderte der Besucher. Er berührte eines der Kreuze, die Alvin Junior ins Holz gebrannt hatte.
»Ich habe mein Bestes getan, aber der Junge ist unbelehrbar. Er zweifelt alles an und widerspricht jeder Aussage der Theologie, als müßte sie dieselben Prüfungen der Logik und des inneren Zusammenhangs bestehen, wie sie in der Welt der Wissenschaft herrschen.«
»Mit anderen Worten, er erwartet von dir, daß deine Lehren einen Sinn ergeben.«
»Er ist nicht willens, die Vorstellung hinzunehmen, daß manche Dinge Geheimnisse bleiben, die nur der Geist Gottes verstehen kann. Mehrdeutigkeit läßt ihn frech werden, und Paradoxien entfachen seine offene Rebellion.«
»Ein schreckliches Kind.«
»Das schlimmste, das ich je gesehen habe«, sagte Thrower.
Die Augen des Besuchers blitzten. Thrower spürte ein Stechen in seinem Herzen.
»Ich habe es versucht«, sagte er. »Ich habe versucht, ihn dazu zu bringen, dem Herrn zu dienen. Doch der Einfluß seines Vaters…«
»Nur ein schwacher Mann gibt der Kraft anderer die Schuld für sein eigenes Versagen«, meinte der Besucher.
»Noch habe ich nicht versagt!» warf Thrower ein. »Ihr habt mir gesagt, daß ich den Jungen hätte, bis er vierzehn…«
»Ich habe dir gesagt, daß ich den Jungen habe, bis er vierzehn ist. Du hast ihn nur, solange er hier lebt.«
»Ich habe nichts davon gehört, daß die Millers fortziehen würden. Sie haben gerade ihren Mühlstein gesetzt, im Frühling wollen sie mit dem Mahlen anfangen, sie würden doch nicht gehen, ohne…«
Der Besucher erhob sich vom Altar. »Stell dir folgenden Fall vor, Reverend Thrower. Rein hypothetisch. Nehmen wir einmal an, du wärst im selben Raum mit dem schlimmsten Feind all dessen, wofür ich stehe. Nehmen wir an, daß er krank wäre und hilflos im Bett läge. Wenn er genesen sollte, würde man ihn deinem Zugriff entziehen und er würde also damit fortfahren, alles zu vernichten, was du und ich auf dieser Welt lieben. Stürbe er aber, so wäre unsere große Sache in Sicherheit. Nehmen wir ferner an, daß jemand ein Messer in deine Hand legte und dich bäte, eine schwierige Operation an dem Jungen zu vollziehen. Und nehmen wir auch an, daß du dabei ausglittest, nur ein winziges Stück, so daß dein Messer eine große Arterie durchtrennte. Und nehmen wir an, daß sein Lebenssaft so schnell ausströmen würde, daß er schon wenige Augenblicke später stürbe, sofern du nur ein wenig zögertest. Gesetzt diesen Fall, Reverend Thrower, was wäre dann deine Pflicht?«
Thrower war entsetzt. All sein Leben lang hatte er darauf hingearbeitet, zu lehren, zu überzeugen und zu ermahnen. Niemals jedoch, eine solch blutige Tat zu vollziehen, wie sie der Besucher ihm nahegelegt hatte. »Ich bin für derlei Dinge nicht geeignet«, erwiderte er.
»Bist du für das Reich Gottes geeignet?» fragte der Besucher.
»Aber der Herr sagte: Du sollst nicht töten.«
»Ach ja? Hat er das zu Joshua gesagt, als er ihn ins verheißene Land sandte? Ist es das, was er zu Saul sagte, als er ihn gegen die Amalekiter ausschickte?«
Thrower dachte an diese dunklen Passagen im Alten Testament und erzitterte vor Furcht bei dem Gedanken, selbst an solchen Dingen teilhaben zu sollen.
Doch der Besucher gab nicht nach. »Der Hohepriester Samuel befahl König Saul, alle Amalekiter zu töten, jeden Mann und jede Frau, jedes Kind. Doch Saul hatte nicht den Mut dazu. Er rettete den König der Amalekiter und brachte ihn lebend zurück. Und wie hat der Herr dieses Verbrechen des Ungehorsams bestraft?«
»Er hat David an seiner Statt zum König auserwählt«, murmelte Thrower.
Der Besucher stand nun dicht vor Thrower, seine Augen verbrannten ihn schier mit ihrem Feuer. »Und was hat Samuel, der Hohepriester, der sanfte Diener Gottes, getan?«
»Er hat Agag den König der Amalekiter herbeibringen lassen.«
Der Besucher ließ nicht nach. »Und was hat Samuel getan?«
»Er hat ihn getötet«, flüsterte Thrower.
»Wie beschreibt die Schrift das, was er tat?» brüllte der Besucher. Die Wände der Kirche bebten, das Glas der Fenster klirrte.
Thrower weinte vor Furcht, doch er sprach die Worte aus, die der Besucher von ihm hören wollte: »Samuel schlug Agag in Stücke… in Gegenwart des Herrn.«
Das einzige Geräusch in der Kirche war Thrower eigener, abgehackter Atmen, während er versuchte, seines hysterischen Weinens Herr zu werden. Der Besucher lächelte ihn an, die Augen voller Liebe und Vergebung. Dann war er verschwunden.
Thrower sank vor dem Altar auf die Knie und betete. »O Vater, ich würde für Dich sterben, aber bitte mich nicht, zu töten. Laß diesen Kelch an mir vorübergehen, ich bin zu schwach, ich bin unwürdig, lege diese Last nicht auf meine Schultern.«
Seine Tränen fielen auf den Altar. Er vernahm ein zischendes Geräusch und sprang erschrocken von dem Altar fort. Seine Tränen glitten wie Wasser auf einem Röstblech über die Altaroberfläche, bis sie schließlich verzehrt wurden.
Der Herr hat mich abgewiesen. Ich habe geschworen, Ihm zu dienen, wie immer Er es verlangte, und nun, da Er mir befiehlt, so stark zu sein wie die großen Propheten früherer Zeit, entdecke ich, daß ich nur ein zerborstenes Gefäß in den Händen des Herrn bin. Ich kann das Schicksal nicht aufnehmen, das Er in mich hineingießen wollte.
Die Kirchentür öffnete sich und ließ einen Schwall eiskalter Luft hinein, die dem Geistlichen einen Schauer durch den Körper jagte. Er hob den Blick, fürchtend, daß es ein Engel sei, der ausgeschickt wurde, um ihn zu strafen.
Doch es war kein Engel, sondern Brustwehr-Gottes Weaver.
»Ich wollte Euer Gebet nicht unterbrechen«, sagte Brustwehr.
»Kommt herein«, erwiderte Thrower. »Schließt die Tür. Was kann ich für Euch tun?«
»Nicht für mich«, erwiderte Brustwehr.
»Kommt hierher. Nehmt Platz. Sagt es mir.«
Thrower hoffte, es möge ein Zeichen Gottes sein, daß Brustwehr soeben gekommen war. Ein Mitglied der Gemeinde, gekommen, um ihm zu helfen, sofort nachdem er gebetet hatte — gewiß wollte der Herr ihn wissen lassen, daß er doch noch angenommen worden sei.
»Es geht um den Bruder meiner Frau«, sagte Brustwehr. »Um den Jungen, Alvin Junior.«
Thrower spürte, wie ihn ein Beben der Angst durchfuhr. »Ich kenne ihn. Was ist mit ihm?«
»Ihr wißt, daß sein Bein zertrümmert wurde.«
»Ich habe davon gehört.«
»Ihr habt ihn nicht zufällig aufgesucht und gesehen, bevor er heilte?«
»Man hat mich im Glauben gelassen, daß ich in diesem Hause nicht willkommen sei.«
»Nun, dann will ich es Euch sagen, es war außerordentlich schlimm. Ein ganzer Hautabschnitt abgerissen. Gebrochene Knochen. Doch zwei Tage später war es schon wieder verheilt. War nicht einmal eine Narbe zu sehen. Drei Tage später ging er bereits wieder umher.«
»Dann muß es weniger schlimm gewesen sein, als Ihr dachtet.«
»Ich sage Euch doch, daß das Bein gebrochen war und daß die Wunde wirklich schlimm gewesen ist. Die ganze Familie hat geglaubt, daß der Junge sterben würde. Sie haben mich nach Nägeln für einen Sarg gefragt. Und in ihrer Trauer sahen sie so schlecht aus, daß ich schon damit rechnete, daß wir die Ma und den Pa des Jungen auch noch beerdigen müßten.«
»Dann kann er nicht so vollends genesen sein, wie Ihr es darstellt.«
»Nun, das Bein ist auch nicht vollends genesen, und deshalb komme ich zu Euch. Ihr wißt, daß ich nicht an solche Dinge glaube, aber ich sage Euch eins, die haben das Bein des Jungen verhext, damit es irgendwie wieder heilt. Elly behauptet, der Junge habe die Hexerei selbst ausgeführt. Ein paar Tage lang ging er sogar auf dem Bein, sogar ohne Schiene, doch der Schmerz hat nie nachgelassen, und nun sagt er, daß sein Knochen eine kranke Stelle habe. Er hat auch Fieber.«
»Es gibt für alles eine vollkommen natürliche Erklärung«, erwiderte Thrower.
»Nun, wie dem auch sei, ich sehe die Sache jedenfalls so: Der Junge hat mit seiner Zauberei den Teufel zu sich eingeladen, und nun frißt der Teufel ihn von innen auf. Und da Ihr doch ein geweihter Geistlicher Gottes seid, dachte ich, daß Ihr diesen Teufel vielleicht im Namen des Herrn Jesus Christus austreiben könntet.«
Aberglaube und Zauberei waren natürlich Unfug, doch wenn Brustwehr nun die Möglichkeit aufbrachte, daß in dem Jungen ein Teufel stecken könnte, so paßte es zu dem, was er von dem Besucher erfahren hatte. Vielleicht wollte der Herr, daß er das Böse aus dem Kind vertrieb, und nicht, daß er den Jungen tötete.
»Ich werde gehen«, sagte er. Er griff nach seinem schweren Umhang und schleuderte ihn um seine Schultern.
»Ich muß Euch allerdings warnen, daß niemand im Haus mich gebeten hat, Euch zu holen.«
»Ich bin bereit, mich dem Zorn der Ungläubigen zu stellen«, erwiderte Thrower. »Was mir Sorgen macht, das ist das Opfer der Teufelei, nicht seine törichte und abergläubische Familie.
Alvin lag auf dem Bett, brannte in der Hitze seines Fiebers. Bei Tageslicht hielten sie die Fensterläden verschlossen, damit das Licht seinen Augen nicht weh tat. In der Nacht jedoch ließ er sie öffnen, um kalte Luft einzulassen. Während der wenigen Tage, als er hatte gehen können, hatte er den Schnee gesehen, der die Weide bedeckte. Nun versuchte er sich vorzustellen, wie er unter dieser Schneedecke lag. Erleichterung von dem Feuer, das seinen Körper durchloderte.
Er konnte nicht genau genug in sich hineinsehen. Was er mit dem Knochen tat, mit den Muskelsträngen und den Hautschichten, das war schwerer, als die Risse im Felsgestein zu finden. Doch er konnte sich durch das Labyrinth seines Körpers bewegen, die großen Wunden finden, ihnen dabei helfen, sich zu schließen. Das meiste von dem jedoch, was vorging, war zu klein und zu schnell, als daß er es hätte verstehen können. Er konnte zwar die Ergebnisse sehen, aber nicht die einzelnen Bestandteile, begriff nicht, wie es geschah.
So war das auch mit der schlimmen Stelle in seinem Knochen. Er konnte den Unterschied zwischen der schlimmen Stelle und dem guten, gesunden Knochen spüren, konnte die Ränder der Krankheit ausmachen. Doch konnte er nicht richtig sehen, was geschah. Er konnte nichts dagegen tun: Er würde sterben.
Er war nicht allein im Zimmer. Irgend jemand saß immer an seinem Bett. Manchmal öffnete er die Augen und erblickte Mama oder Papa oder eines der Mädchen. Manchmal sogar einen der Brüder, auch wenn das bedeutete, daß der dafür seine Frau und seine Arbeit vernachlässigte. Das war Alvin ein Trost, zugleich war es aber auch eine Bürde.
Immer wieder dachte er, daß er sich beeilen und sterben sollte, damit sie alle wieder ihr normales Leben führen konnten.
An diesem Nachmittag saß Measure neben ihm. Alvin hatte ihn zwar begrüßt, als er hereingekommen war, doch es gab nicht viel zu besprechen. Wie geht es? Ich sterbe, danke, und dir? Irgendwie schwierig, das Gespräch aufrechtzuhalten. Measure erzählte, wie er und die Zwillinge versucht hatten, einen Schleifstein zu schlagen. Sie hatten einen weicheren Stein ausgesucht als jenen, mit dem Alvin gearbeitet hatte, und dennoch war es außerordentlich schwierig gewesen. »Schließlich haben wir es aufgegeben«, sagte Measure. »Es muß eben warten, bis du zum Berg hochgehen und uns selbst einen Stein holen kannst.«
Alvin antwortete nicht darauf, und seitdem hatte keiner mehr ein Wort gesagt. Alvin lag in seinem Bett und schwitzte, spürte die Fäulnis in seinem Knochen, wie sie langsam und unentwegt anwuchs. Measure saß da und hielt seine Hand.
Measure begann zu pfeifen.
Das Geräusch erschreckte Alvin. Er war so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, daß die Musik aus großer Ferne zu kommen schien; er mußte eine ganze Strecke zurückreisen, um zu entdecken, woher sie stammte.
»Measure«, rief er; doch der Klang seiner Stimme war nur ein Flüstern.
Das Pfeifen verstummte. »Tut mir leid«, sagte Measure. »Stört es dich?«
»Nein«, sagte Alvin.
Measure begann wieder zu pfeifen, eine seltsame Melodie, die Alvin noch nie gehört hatte. Tatsächlich klang es gar nicht wie irgendein Lied. Es wiederholte sich nicht, sondern brachte immer neue Klangmuster hervor, als würde Measure alles gerade erfinden. Wie Alvin dalag und zuhörte, erschien ihm die Melodie wie eine Landkarte, die sich durch eine Wildnis zog, und er begann ihr zu folgen. Nicht daß er irgend etwas gesehen hätte, wie es der Fall gewesen wäre, wäre er einer richtigen Karte gefolgt. Sie schien ihm nur immer wieder die Mitte der Dinge zu zeigen, und alles, woran er dachte, stand in seinen Gedanken eben dort. Es war fast so, als könnte er alles denken, sehen, was er einst geleistet hatte, als würde er versuchen, eine Möglichkeit herauszufinden, um die schlimme Stelle an seinem Knochen zu heilen, nur daß er diesmal von weit entfernt daraufblickte, vielleicht hoch oben von einem Berg aus oder auf einer Lichtung, irgendwo, wo er mehr sehen konnte.
Nun dachte er an etwas, das er noch nie gedacht hatte. Als sein Bein zu Anfang gebrochen war und die ganze Haut zerfetzt, hatten alle Leute sehen können, wie schlimm es ihm ging, doch nur er selbst hatte sich helfen können. Er hatte es von innen heraus heilen müssen. Nun jedoch, da niemand die Wunde sehen konnte, brachte sie ihn um. Und obwohl er sie sehen konnte, konnte er nicht das geringste tun, um sie besser werden zu lassen.
Vielleicht würde ihn diesmal also ein anderer heilen. Überhaupt nicht mir irgendwelchen verborgenen Kräften, sondern mit einer einfachen Operation.
»Measure«, flüsterte er.
»Ich bin hier«, sagte Measure.
»Ich kenne eine Möglichkeit, mein Bein zu heilen«, sagte er.
Measure beugte sich vor. Alvin öffnete die Augen nicht, konnte aber den Atem seines Bruders an seiner Wange spüren.
»Die schlimme Stelle an meinem Knochen, die wird größer, aber sie hat sich noch nicht über alles ausgebreitet«, erklärte Alvin. »Ich kann sie zwar nicht heilen, aber ich schätze, wenn jemand diesen Teil meines Knochens wegschneiden und ihn aus dem Bein nehmen könnte, könnte ich den Rest wieder heilen.«
»Herausschneiden?«
»Pas Knochensäge, mit der er das Fleisch zerteilt, damit könnte es gehen, glaube ich.«
»Aber es gibt doch im Umkreis von dreihundert Meilen keinen einzigen Arzt, der so etwas macht.«
»Dann schätze ich, daß irgend jemand es möglichst schnell lernen sollte, sonst sterbe ich nämlich.«
Measures Atem ging nun schneller. »Du meinst, daß es dir das Leben retten würde, wenn man dir ein Stück aus dem Knochen sägt?«
»Es ist das beste, was mir einfällt.«
»Das könnte dein Bein aber schlimm zurichten«, meinte Measure.
»Wenn ich tot bin, wird es mir egal sein. Und wenn ich lebe, dann wird das ein schlimm zugerichtetes Bein wert sein.«
»Ich gehe Pa holen.«
Measure stieß seinen Stuhl zurück und verließ das Zimmer.
Thrower ließ Brustwehr auf dem Weg bis zu der Veranda der Millers vorangehen. Den Mann ihrer Tochter konnten sie kaum abweisen. Doch seine Sorge war unbegründet. Goody Faith öffnete die Tür, nicht ihr heidnischer Ehemann.
»Aber Reverend Thrower, wie gütig von Euch, uns aufzusuchen und hier vorbeizukommen«, sagte sie. Doch die Fröhlichkeit ihrer Stimme war nur vorgetäuscht, sofern ihr verhärmtes Gesicht die Wahrheit sprach. In diesem Haus hatte man in letzter Zeit nicht viel geschlafen.
»Ich habe ihn mitgebracht, Mutter Faith«, sagte Brustwehr. »Er ist nur gekommen, weil ich ihn darum gebeten habe.«
»Der Pastor unserer Kirche ist in unserem Haus willkommen, wann immer es ihm beliebt vorbeizuschauen«, sagte Faith. Sie führte sie in das große Zimmer. Einige Mädchen, die gerade Flickenquadrate herstellten, blickten von ihren Sesseln am Kamin zu ihm auf. Der kleine Junge, Cally, schrieb gerade seine Buchstaben auf eine Tafel, mit Holzkohle aus dem Feuer.
»Ich freue mich zu sehen, daß du deine Schreibübungen machst«, sagte Thrower.
Cally sah ihn nur an. In seinen Augen erkannte er Feindseligkeit. Anscheinend hatte der Junge etwas dagegen, daß sein Lehrer ihm hier in seinem Heim bei der Arbeit zusah.
»Du machst das gut«, sagte Thrower und versuchte, den Jungen zu besänftigen. Cally erwiderte nichts, sondern kritzelte weiter Wörter.
Brustwehr kam sofort zum Thema. »Mutter Faith, wir kommen wegen Alvin. Ihr wißt, wie ich zur Hexerei stehe, aber ich habe zuvor noch nie ein Wort gegen das gesagt, was ihr in Eurem Heim tut. Ich habe mir immer gesagt, daß das Eure Sache sei und nicht meine. Aber dieser Junge muß nun den Preis für das Böse zahlen, daß Ihr hier geduldet habt. Er hat sein Bein verzaubert, und jetzt ist ein Teufel in ihm und tötet ihn, und ich habe Reverend Thrower mitgebracht, um ihm diesen Teufel auszutreiben.«
Goody Faith wirkte völlig überrascht. »In diesem Haus gibt es keinen Teufel.«
Arme Frau, dachte Thrower, wenn du nur wüßtest, wie lange hier schon ein Teufel wohnt. »Es ist möglich, sich so sehr an die Anwesenheit eines Teufels zu gewöhnen, daß man sie überhaupt nicht mehr bemerkt.«
Eine Tür an der Treppe ging auf, und Mr. Miller trat ins Zimmer. »Nicht mit mir«, sagte er zu irgend jemandem in dem dahinterliegenden Zimmer. »Ich werde kein Messer an den Jungen anlegen.«
Als Cally die Stimme seines Vaters hörte, sprang er auf und lief auf ihn zu. »Brustwehr hat den ollen Thrower mitgebracht, Papa, um den Teufel umzubringen.«
Mr. Miller drehte sich um und schaute die Besucher an, als würde er sie kaum erkennen.
»Ich habe gute, kräftige Zauber auf dieses Haus gelegt«, sagte Goody Faith.
»Diese Zauber sind Einladungen an den Teufel«, sagte Brustwehr. »Ihr meint, daß sie Euer Haus schützten, tatsächlich aber vertreiben sie den Herrn.«
»Hier ist kein Teufel hereingekommen«, beharrte sie.
»Nicht von allein«, erwiderte Brustwehr. »Ihr habt ihn mit Eurer Zauberei herbeigerufen. Ihr habt den Heiligen Geist mit Eurer Hexerei und Eurem Götzenkult aus dem Haus vertrieben und ebenso alles Gute, so daß die Teufel ganz natürlich eindringen. Sie kommen immer, wenn sie auch nur die leiseste Möglichkeit sehen, Unheil zu stiften.«
Thrower machte sich schon ein wenig Sorgen, daß Brustwehr zuviel über Dinge redete, die er nicht wirklich verstand. Es wäre besser gewesen, wenn er einfach nur gefragt hätte, ob Thrower an Alvins Bett für den Jungen beten dürfe.
Und was immer auch in Mr. Millers Kopf gerade vorgehen mochte, so war es doch deutlich zu erkennen, daß dies nicht unbedingt die beste Zeit war, um den Mann zu provozieren. Langsam schritt er auf Brustwehr zu. »Wollt Ihr etwa behaupten, daß das, was in das Haus eines Mannes eindringt, um Unheil zu stiften, der Teufel ist?«
»Ich gebe nur Zeugnis als jemand, der den Herrn Jesus Christus liebt«, begann Brustwehr, doch bevor er weitersprechen konnte, hatte Miller ihn an den Schultern gepackt und ihn zur Tür umgedreht.
»Jemand sollte besser diese Tür aufmachen!» brüllte Miller. »Sonst bekommt sie gleich ein mächtig riesiges Loch in die Mitte«
»Was glaubst du, was du da tust, Alvin Miller!» rief seine Frau.
»Eine Teufelsaustreibung!» rief Miller. Inzwischen hatte Cally die Tür aufgeschwungen, und Miller schob seinen Schwiegersohn bis an den Rand der Veranda und warf ihn in den Schnee. Dann verschloß Miller die Tür, ohne auf die Schreie draußen zu achten.
»Was für ein großer Mann du doch bist«, sagte Goody Faith höhnisch. »Den Mann deiner eigenen Tochter hinauszuwerfen!«
»Ich habe nur etwas getan, von dem er behauptete, daß der Herr es haben wolle«, erwiderte Miller. Dann richtete er seinen Blick auf den Pastor.
»Brustwehr hat nicht in meinem Namen gesprochen«, sagte Thrower milde.
»Wenn du Hand an einen Mann Gottes legen solltest«, sagte Goody Faith, »dann wirst du den Rest deines Lebens in einem kalten Bett schlafen.«
»Würde nicht im Traum daran denken, den Mann auch nur anzurühren«, sagte Miller. »Aber so, wie ich es sehe, bleibe ich von seinem Haus fern, da sollte er auch aus meinem bleiben.«
»Ihr mögt vielleicht nicht an die Macht des Gebetes glauben«, sagte Thrower.
»Schätze, das hängt wohl davon ab, wer das Beten erledigt und wer das Zuhören«, meinte Miller.
»Und doch«, sagte Thrower, »glaubt Eure Frau an die Religion Jesu Christi, in der ich zum Geistlichen berufen und geweiht wurde. Es ist ihr Glaube, und mein Glaube auch, daß es der Genesung des Jungen dienen könnte, wenn ich an seinem Bett betete.«
»Wenn Ihr in Eurem Gebet auch so geschwollen daherredet«, meinte Miller, »dann wird es ein Wunder sein, wenn der Herr überhaupt weiß, wovon Ihr da sprecht.«
»Und wenn Ihr auch nicht glauben mögt, daß ein solches Gebet helfen könnte«, fuhr Thrower fort, »So kann es doch gewiß nicht schaden, nicht wahr?«
Miller wandte den Blick von Thrower zu seiner Frau hinüber und dann wieder zurück. Thrower zweifelte nicht im geringsten daran, daß er schon längst neben Brustwehr-Gottes im Schnee liegen würde, wenn Faith nicht anwesend wäre. Doch Faith war da und hatte schon die Drohung der Lysistrata ausgesprochen. Ein Mann bekam keine vierzehn Kinder, wenn das Bett seiner Frau nicht anziehend auf ihn wirkte. Miller gab nach. »Geht hinein«, sagte er. »Aber belästigt den Jungen nicht zu lange.«
Thrower nickte gnädig. »Nur ein paar Stunden«, sagte er.
»Minuten!» beharrte Miller. Doch Thrower war bereits auf die Tür neben der Treppe zugegangen, und Miller machte keine Anstalten, ihn aufzuhalten. Er würde Stunden mit dem Jungen zur Verfügung haben, wenn er es wollte. Er schloß die Tür hinter sich. Es hatte keinen Zweck, es zuzulassen, daß irgendeiner dieser Heiden sich einmischte.
»Alvin«, sagte er.
Der Junge lag ausgestreckt unter einer Decke, auf seiner Stirn perlte Schweiß. Seine Augen waren geschlossen. Doch nach einer Weile öffnete er den Mund ein wenig. »Reverend Thrower«, flüsterte er.
»Ja«, erwiderte Thrower. »Alvin, ich bin gekommen, um für dich zu beten, damit der Herr deinen Körper von dem Teufel befreie, der dich krank macht.«
Nach einer weiteren Pause, als würde es eine Weile dauern, bis Throwers Worte zu ihm durchgedrungen waren, antwortete Alvin: »Das ist kein Teufel.«
»Man kann kaum erwarten, daß ein Kind sich in religiösen Dingen gut auskennt«, meinte Thrower. »Aber ich muß dir mitteilen, daß nur jene Genesung erfahren, die auch den Glauben haben, geheilt zu werden.«
Dann verbrachte er einige Minuten damit, die Geschichte von der Tochter des Zenturio und von der Frau zu erzählen, die blutete und nur das Tuch des Erlösers berührte. »Du erinnerst dich, was er zu ihr sagte. Dein Glaube hat dich gesund gemacht, sagte er. Und deshalb, Alvin Miller, muß dein Glaube stark sein, bevor der Herr dich gesund machen kann.«
Der Junge antwortete nicht. Da Thrower seine beachtliche Redegabe beim Erzählen beider Geschichten eingesetzt hatte, ärgerte ihn die Möglichkeit ein bißchen, daß der Junge vielleicht eingeschlafen sei. Etwas unsanft berührte er ihn an der Schulter.
Alvin zuckte zusammen. »Ich habe Euch gehört«, murmelte er.
Es war nicht gut, daß der Junge immer noch so mürrisch war, nachdem er das lichtspendende Wort des Herrn vernommen hatte. »Nun?» fragte Thrower. »Glaubst du?«
»An was?» murmelte der Junge.
»An das Evangelium! An den Gott, der dich heilen würde, wenn du nur dein Herz erweichen ließest!«
»Glaube an Gott«, flüsterte er.
Thrower kannte die Geschichte seiner Religion viel zu gut, um nicht genauere Erklärungen hören zu wollen. Es genügte nicht, den Glauben an eine Gottheit zu bekennen. Es gab so viele Gottheiten, und alle bis auf eine waren falsch. »An welchen Gott glaubst du, Al Junior?«
»Gott«, sagte der Junge.
»Sogar die heidnischen Mohren beten den schwarzen Stein von Mekka an und nennen ihn Gott! Glaubst du an den wahren Gott? Nein, ich verstehe, du bist zu schwach und fiebrig, um deinen Glauben erklären zu können. Ich werde dir helfen, junger Alvin. Ich werde dir Fragen stellen, und du antwortest einfach mit ja oder nein.«
Alvin lag still da und wartete.
»Alvin Miller, glaubst du an einen Gott ohne Körper und Leidenschaften? An den großen unerschaffenen Schöpfer, dessen Mittelpunkt überall ist, dessen Umfang jedoch niemals gefunden werden kann?«
Der Junge schien eine Weile darüber nachzudenken, bevor er antwortete. »Das macht für mich nicht das leiseste bißchen Sinn«, sagte er.
»Er soll auch gar nicht für den fleischlichen Geist Sinn ergeben«, sagte Thrower. »Ich frage dich lediglich, ob du an den Einen glaubst, an das aus sich selbst heraus existierende Wesen, das so groß ist, daß Er das ganze Universum ausfüllt, und doch so allesdurchdringend, daß Er auch in deinem Herzen lebt.«
»Wie kann etwas so Großes in mein Herz passen?» wollte Alvin wissen.
Der Junge war offensichtlich zu ungebildet und einfältig, um hochentwickelte theologische Paradoxien zu begreifen. Und doch ging es hier mehr als nur um ein Leben oder gar eine Seele — es ging um all die Seelen, von denen der Besucher gesagt hatte, daß dieser Junge sie verderben würde, wenn er nicht zum wahren Glauben bekehrt werden konnte. »Das ist das Schöne daran«, sagte Thrower und legte Gefühl in seine Stimme. »Gott ist jenseits unseres Verstehens; und doch geruht Er in seiner unendlichen Liebe, uns zu erlösen, trotz unserer Unwissenheit und Torheit.«
»Ist Liebe denn keine Leidenschaft?» wollte der Junge wissen.
»Wenn du Schwierigkeiten mit der Vorstellung von Gott hast«, sagte Thrower, »dann will ich dir eine weitere Frage stellen, die vielleicht passender ist. Glaubst du an die bodenlose Grube der Hölle, wo die Bösen in Flammen zucken und doch niemals aufgebrannt werden? Glaubst du an Satan, den Feind Gottes, der deine Seele zu stehlen wünscht, um dich als Gefangener in sein Reich zu führen und dich in alle Ewigkeit zu quälen?«
Der Junge schien sich ein wenig aufzurichten, kehrte Thrower den Kopf zu, wenngleich er die Augen immer noch nicht öffnete. »An so etwas könnte ich wohl glauben«, sagte er.
Ah, ja, dachte Thrower. Dieser Junge hat tatsächlich Erfahrung mit dem Teufel. »Hast du ihn gesehen, Kind?«
»Wie sieht denn Euer Teufel aus?» flüsterte der Junge.
»Es ist nicht mein Teufel«, erwiderte Thrower. »Wenn du in den Gottesdiensten zugehört hättest, dann wüßtest du es, denn ich habe ihn viele Male beschrieben. Wo ein Mensch Haare auf dem Kopf hat, hat der Teufel die Hörner eines Stiers. Dort, wo ein Mensch Hände besitzt, besitzt der Teufel die Tatzen eines Bars. Er hat die Hufe eines Ziegenbocks, und seine Stimme ist das Brüllen eines reißenden Löwen.«
Zu Throwers Erstaunen lächelte der Junge jetzt, und sein Brustkorb schüttelte sich in stummem Lachen. »Und Ihr nennt uns abergläubisch«, sagte er.
Thrower hätte nie geglaubt, wie fest der Teufel eine Kinderseele im Griff haben konnte, hätte er nicht diesen Jungen bei der Beschreibung des Ungeheuers Luzifer vor Freude lachen sehen. Diesem Lachen mußte ein Ende gesetzt werden! Es war ein Vergehen gegen Gott!
Thrower schlug mit seiner Bibel gegen die Brust des Jungen, worauf Alvin erschrocken ausatmete. Dann, mit der Hand auf das Buch drückend, spürte Thrower, wie Worte der Eingebung ihn erfüllten, und er rief mit mehr Leidenschaft, als er jemals zuvor in seinem Leben verspürt hatte: »Satan, im Namen des Herrn, ich wehre dich ab! Ich befehle dir, von diesem Jungen abzulassen, von diesem Raum, von diesem Haus auf alle Zeiten! Strebe nie wieder danach, an diesem Ort eine Seele zu besitzen, sonst wird die Macht Gottes die Vernichtung bis an die äußersten Grenzen der Hölle tragen!«
Dann folgte Schweigen. Nur das angestrengte Atmen des Jungen war zu hören. Soviel Friede herrschte im Raum, soviel erschöpfte Rechtschaffenheit in Throwers eigenem Herzen, daß er überzeugt war, der Teufel hatte sein Gebet tatsächlich beachtet und war prompt verschwunden.
»Reverend Thrower«, sagte der Junge.
»Ja, mein Sohn?«
»Könntet Ihr jetzt bitte die Bibel von meiner Brust nehmen? Ich schätze, wenn da irgendwelche Teufel waren, dann sind sie jetzt weg.«
Dann begann der Junge wieder zu lachen, so daß die Bibel unter Throwers Hand auf und ab hüpfte.
In diesem Augenblick verwandelte sich Throwers Jubel in bittere Enttäuschung. In der Tat, schon die bloße Tatsache, daß der Junge so teuflisch lachen konnte, da doch die Bibel noch immer auf seinem Körper lag, war Beweis genug, daß keine Macht der Erde ihm das Böse austreiben konnte. Der Besucher hatte recht gehabt. Thrower hätte niemals das mächtige Werk verweigern dürfen, das zu tun der Besucher ihm aufgetragen hatte. Es hatte in seiner Macht gestanden, das Tier der Apokalypse zu töten, und er war zu schwach gewesen, um den göttlichen Ruf anzunehmen. Ich hätte ein Samuel sein können, der den Feind Gottes in Stücke haut. Statt dessen aber bin ich ein Saul, ein Schwächling, der nicht töten kann, was zu sterben der Herr befohlen hat. Nun werde ich mitansehen müssen, wie dieser Junge sich mit der Macht Satans in ihm erhebt, und ich werde wissen, daß er nur gedeiht, weil ich schwach war.
Der Raum war plötzlich unerträglich heiß. Er glaubte förmlich zu ersticken. Erst jetzt merkte er, wie schweißgetränkt seine Kleider waren. Das Atmen fiel ihm schwer. Doch was hatte er erwarten können? Es war der heiße Atem der Hölle, der in diesem Raum wehte. Keuchend nahm er die Bibel, hielt sie zwischen sich und das satanische Kind, das unter seiner Decke lag und fieberhaft kicherte, und floh.
Im großen Raum blieb er stehen rang nach Atem. Er hatte ein Gespräch unterbrochen, doch achtete er kaum darauf. Was zählten die Gespräche dieser unwissenden Menschen schon, verglichen mit dem, was er soeben erfahren hatte? Ich habe in der Gegenwart des Dieners Satans dagestanden, der sich als kleiner Junge maskiert; doch sein Hohn hat ihn mir offenbart. Ich hätte schon vor Jahren wissen müssen, was dieser Junge ist, als ich seinen Kopf befühlte und feststellte, wie vollkommen ausgewogen er war. Nur eine Fälschung konnte so vollkommen sein. Das Kind war niemals wirklich. Ach, wenn ich doch nur die Kraft der großen alten Propheten besäße, auf daß ich den Feind schlagen und meinem Herrn die Trophäe zurückbringen könnte!
Irgend jemand zupfte an seinem Ärmel. »Seid Ihr gesund, Reverend?«
Es war Goody Faith, doch Reverend Thrower dachte nicht daran, ihr zu antworten. Er drehte sich herum und blickte auf die Feuerstelle. Dort auf dem Sims sah er ein geschnitztes Bild; in seinem verwirrten Zustand konnte er es nicht sofort erkennen. Es schien das Gesicht einer gequälten Seele zu sein, umgeben von zuckenden Fangarmen. Flammen, dachte er, und da ist eine Seele, die in Pech und Schwefel ertrinkt, im Höllenfeuer verbrennt. Das Bild war ihm eine Qual, und erfüllte ihn gleichzeitig mit Befriedigung, denn seine Gegenwart in diesem Haus zeigte, wie eng diese Familie mit der Hölle verbunden war. Er stand inmitten seiner Feinde. Ein Satz des Psalmisten kam ihm in den Sinn: Stiere von Bashan zieht mich an, und ich kann all meine Knochen zählen. Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?
»Hier«, sagte Goody Faith. »Nehmt Platz.«
»Ist der Junge in Ordnung?» wollte Miller wissen.
»Der Junge?» fragte Thrower. Er konnte kaum sprechen. Der Junge ist ein Ungeheuer aus Sheol, und du fragst, wie es ihm geht? »Den Umständen entsprechend«, sagte Thrower.
Da wandten sie sich ab und kehrten zu ihrem Gespräch zurück. Nach und nach verstand er, worüber sie sprachen. Es schien, als wollte Alvin, daß jemand ihm den erkrankten Teil seines Knochens wegsägte. Measure hatte sogar eine feinzahnige Knochensäge aus dem Schuppen mitgebracht. Der Streit fand zwischen Faith und Measure statt, weil Faith nicht wollte, daß irgend jemand ihren Sohn aufschnitt, und zwischen Miller und den beiden anderen, weil Miller sich weigerte, es zu tun, während Faith nur bereit war einzuwilligen, wenn Alvins Vater das Schneiden selbst übernahm.
»Wenn du glaubst, daß es getan werden sollte«, sagte Faith, »dann verstehe ich nicht, wie du wollen kannst, daß irgend jemand außer dir selbst es tut.«
»Ich nicht«, sagte Miller.
»Er hat nach dir gefragt, Pa. Er hat gesagt, er wird die Schnitte vorher auf dem Bein markieren. Du brauchst nur ein Stück Haut aufschneiden und zurücklegen, darunter liegt dann der Knochen, und schneidest du die schlimme Stelle heraus.«
»Normalerweise falle ich eigentlich nicht in Ohnmacht«, sagte Faith, »aber mir wird gerade schwindlig.«
»Wenn Al Junior sagt, es soll getan werden, dann tut es!» sagte Miller. »Aber nicht ich!«
Und da schaute Reverend Thrower, wie einen Lichtstrahl in einem dunklen Zimmer, seine Erlösung. Der Herr bot ihm genau die Gelegenheit, die der Besucher ihm prophezeit hatte. Die Gelegenheit, ein Messer in der Hand zu halten, damit in das Bein des Jungen hineinzuschneiden und aus Versehen die Arterie zu durchtrennen und das Blut so lange zu vergießen, bis das Leben aus ihm gewichen war. Wovor er in der Kirche zurückgeschreckt war, weil er Alvin für einen einfachen Jungen gehalten hatte, das würde er nun freudig tun, jetzt, da er den Teufel in einer Kindergestalt geschaut hatte.
»Ich bin bereit«, sagte Thrower.
Sie sah ihn an.
»Ich bin zwar kein Arzt«, sagte er, »aber ich verstehe etwas von Anatomie. Ich bin schließlich Wissenschaftler.«
»Kopfhöcker«, sagte Miller.
»Habt Ihr schon jemals Rinder oder Schweine geschlachtet?» fragte Measure.
»Measure«, rief seine Mutter entsetzt. »Dein Bruder ist doch kein Tier!«
»Ich wollte nur wissen, ob er sich gleich übergibt, sobald er Blut sieht.«
»Ich habe schon Blut gesehen«, sagte Thrower. »Und ich habe auch keine Furcht, wenn das Schneiden der Erlösung dient.«
»Oh, Reverend Thrower, das können wir doch nicht von Euch verlangen«, sagte Goody Faith.
»Nun erkenne ich, daß es vielleicht doch die Eingebung war, die mich heute hierher geführt hat, nachdem ich diesem Hause so lange ferngeblieben bin.«
»Was Euch hierher geführt hat, war mein törichter Schwiegersohn«, brummte Miller.
»Nun«, sagte Thrower, »es war ja nur ein Gedanke. Ich kann verstehen, daß Ihr nicht wollt, daß ich es tue, und kann es Euch gewiß nicht verübeln. Auch wenn es bedeutet, das Leben Eures Sohnes zu retten, so ist es doch immer eine gefährliche Sache, einem Fremden zu gestatten, in den Körper Eures Kindes hineinzuschneiden.«
»Ihr seid kein Fremder«, widersprach Faith.
»Was, wenn etwas falsch verläuft? Seine Verletzung könnte die Bahn bestimmter Blutgefäße verändert haben. Ich könnte eine Arterie durchtrennen, dann würde er in wenigen Augenblicken verbluten. Dann klebte das Blut Eures Kindes an meinen Händen.«
»Reverend Thrower«, sagte Faith, »einen Unfall können wir Euch nicht zur Last legen. Wir können es nur versuchen.«
»Es ist sicher, daß er sterben wird, wenn wir nicht irgend etwas unternehmen«, warf Measure ein. »Er sagt, daß wir sofort schneiden müssen, bevor die schlimme Stelle sich zu weit ausbreitet.«
»Vielleicht einer Eurer älteren Söhne«, sagte Thrower.
»Wir haben keine Zeit, um sie noch zu holen!» rief Faith. »Ach, Alvin, er ist der Junge, dem du deinen Namen gegeben hast. Willst du ihn jetzt etwas sterben lassen, nur weil du diesen Prediger nicht magst?«
Miller schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Dann tut es.«
»Er möchte aber lieber, daß du es tust, Pa«, sagte Measure.
»Nein!» erwiderte Miller heftig. »Besser irgend jemand, nur nicht ich. Besser sogar, er tut es.«
Thrower erblickte Enttäuschung, ja sogar Verachtung in Measures Miene. Er erhob sich und schritt zu dem sitzenden Measure hinüber, der in den Händen ein Messer und die Knochensäge hielt. »Junger Mann«, sagte er, »urteilt über keinen Mann, er sei ein Feigling. Ihr könnt nicht wissen, welche Beweggründe er in seinem Herzen verbirgt.«
Thrower wandte sich zu Miller um und bemerkte einen Blick der Überraschung und der Dankbarkeit im Gesicht des Mannes. »Gib ihm die Werkzeuge«, sagte Miller.
Measure streckte das Messer und die Knochensäge auf. Thrower zog ein Taschentuch hervor und ließ Measure die Geräte vorsichtig hineinlegen.
Es war alles so einfach gewesen. Binnen weniger Minuten hatte er sie dazu gebracht, daß sie ihn darum baten, das Messer zu nehmen, ja sogar dazu, ihn im voraus von jedem Unfall freizusprechen. Er hatte sogar ein wenig die Achtung Alvin Millers gewonnen. Ich habe euch alle getäuscht, dachte er triumphierend. Ich bin eurem Herrn des Bösen ein ebenbürtiger Gegner. Ich habe den großen Täuscher getäuscht, und noch in dieser Stunde werde ich seine ruchlose Brut in die Hölle zurückjagen.
»Wer soll den Jungen festhalten?» fragte Thrower. »Selbst wenn wir ihm Wein geben, wird der Schmerz ihn sich aufbäumen lassen, wenn man ihn nicht festhält.«
»Ich halte ihn fest«, sagte Measure.
»Er wird keinen Wein trinken«, sagte Faith. »Er sagt, daß er einen klaren Kopf behalten muß.«
»Er ist ein zehnjähriger Junge«, sagte Thrower. »Wenn Ihr darauf besteht, daß er ihn trinkt, muß er Euch gehorchen.«
Faith schüttelte den Kopf. »Er weiß, was am besten ist. Er hält Schmerzen sehr gut aus. So etwas habt Ihr noch nie gesehen.«
Das glaube ich, dachte Thrower. Der Teufel in dem Jungen schwelgt zweifellos im Schmerz, und er will nicht, daß der Wein diese Ekstase mindert. »Also gut«, sagte er. »Dann gibt es keinen Grund, es noch länger hinauszuzögern.«
Er schritt ins Schlafzimmer voran und riß die Decke von Alvins Körper. Alvin begann in der plötzlichen Kälte zu zittern, obgleich er noch immer vom Fieber schwitzte.
»Ihr habt gesagt, daß er die zu schneidende Stelle markiert hat?«
»Al«, sagte Measure. »Reverend Thrower hier wird das Schneiden übernehmen.«
»Papa«, sagte Alvin.
»Es hat keinen Zweck, ihn darum zu bitten«, sagte Measure. »Er weigert sich schlichtweg.«
»Bist du sicher, daß du keinen Wein haben willst?» fragte Faith.
Alvin begann zu weinen. »Nein«, sagte er. »Ich bin schon in Ordnung, solange Pa mich festhält.«
»Das genügt«, sagte Faith. »Er mag vielleicht nicht schneiden, aber er wird hier bei dem Jungen bleiben.«
Sie stürmte aus dem Raum.
»Ihr habt gesagt, daß der Junge die Stelle markieren würde«, sagte Thrower.
»Hier, Al, ich setze dich jetzt auf. Ich habe etwas Holzkohle dabei, und du markierst auf deinem Bein genau die Stelle, wo das Hautstück hochgehoben werden soll.«
Alvin stöhnte, als Measure ihn in eine sitzende Stellung hob, doch seine Hand war ruhig, als er ein großes Rechteck auf sein Schienbein zeichnete. »Schneidet von unten hoch und laßt den oberen Teil dran«, sagte er. Seine Stimme war belegt und träge, jedes Wort war ihm eine Anstrengung. »Measure, du hältst das Hautstück zurück, während er schneidet.«
»Das wird Ma tun müssen«, sagte Measure. »Denn ich muß dich festhalten, damit du dich nicht aufbäumst.«
»Ich werde mich nicht aufbäumen«, sagte Alvin. »wenn Pa mich festhält.«
Miller kam langsam ins Zimmer, unmittelbar hinter ihm seine Frau. »Ich halte dich fest«, sagte er. Er nahm Measures Platz ein, setzte sich hinter den Jungen, beide Arme deutlich um ihn gelegt. »Ich halte dich fest«, wiederholte er.
»Also gut, dann«, sagte Thrower.
Er wartete eine ganze Weile.
»Habt Ihr nicht etwas vergessen, Reverend?» fragte Measure.
»Was denn?» fragte Thrower.
»Das Messer und die Säge«, sagte er.
Thrower sah in sein Taschentuch, das er in der linken Hand hielt. Leer. »So etwas, gerade waren sie doch noch hier drin!«
»Ihr habt sie beim Hineingehen draußen auf den Tisch gelegt«, sagte Measure.
»Ich hole sie«, sagte Goody Faith und eilte aus dem Zimmer.
Sie warteten und warteten und warteten. Schließlich stand Measure auf. »Kann mir gar nicht vorstellen, was sie aufhält.«
Thrower folgte ihm aus dem Zimmer. Sie fanden Goody Faith im großen Raum vor, wie sie zusammen mit den Mädchen Steppkaros nähte.
»Ma«, sagte Measure. »Was ist denn mit der Säge und dem Messer?«
»Ach du liebe Güte«, sagte Faith, »ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist. Ich habe doch glatt vergessen, weshalb ich hierhergekommen bin.«
Sie nahm das Messer und die Säge und marschierte zurück ins Zimmer. Measure zuckte, zu Thrower gewandt, die Schultern und folgte ihr. Jetzt, dachte Thrower. Jetzt werde ich alles tun, was der Herr je von mir erwartete. Der Besucher wird sehen, daß ich meinem Erlöser ein wahrer Freund bin, und mein Platz im Himmel wird mir sicher sein. Nicht wie dieser arme erbärmliche Sünder, den die Flammen der Hölle holen werden.
»Reverend«, sagte Measure. »Was tut Ihr da?«
»Dieses Bild«, sagte Thrower.
»Was ist denn damit?«
Thrower blickte auf das Bild über dem Sims. Es zeigte keine Seele in der Hölle, sondern den ältesten Jungen der Familie, Vigor, wie er im Fluß ertrank. Er hatte diese Geschichte mindestens ein dutzendmal gehört. Doch warum stand er nun hier und schaute das Bild an, da er doch im Nebenraum eine große und schreckliche Mission zu erfüllen hatte?
»Seid Ihr in Ordnung?«
»Vollkommen in Ordnung«, erwiderte Thrower. »Ich bedurfte nur eines Augenblicks stummen Gebetes und der Meditation, bevor ich mich an diese Aufgabe schicke.«
Kühn trat er ins Zimmer und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, auf dem das Satanskind zitternd das Messer erwartete. Thrower blickte sich nach den Werkzeugen des heiligen Mords um. Sie waren nirgendwo zu sehen. »Wo ist das Messer?» fragte er.
Faith sah Measure an. »Hast du die Sachen denn nicht mitgebracht?» fragte sie.
»Du hast sie doch hereingebracht«, erwiderte Measure.
»Aber als du hinausgegangen bist, um den Prediger zu holen, da hast du sie mitgenommen«, sagte sie.
»Habe ich das?«
Measure blickte verwirrt drein. »Dann muß ich sie wohl draußen abgelegt haben.«
Er stand auf und verließ den Raum.
Thrower begann zu erkennen, daß hier etwas Seltsames vorging, obwohl er es nicht genau bestimmen konnte. Er schritt zur Tür und wartete auf Measures Rückkehr.
Dort stand Cally, seine Schiefertafel in der Hand, und sah zu dem Geistlichen empor. »Werdet Ihr meinen Bruder umbringen?» fragte er.
»So etwas solltest du nicht einmal denken«, erwiderte Thrower.
Measure sah verlegen aus, als er Thrower die Instrumente reichte. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß ich sie einfach so auf den Sims gelegt haben soll.«
Dann schob sich der junge Mann an Thrower vorbei ins Zimmer.
Einen Augenblick später folgte Thrower ihm in Alvins Raum und setzte sich neben das enthüllte Bein mit dem daraufgemalten schwarzen Kasten. »Nun, wo habt Ihr sie jetzt hingetan?» fragte Faith.
Thrower merkte, daß er weder das Messer noch die Säge hielt. Er war völlig verwirrt.
Cally stand in der Tür. »Warum habt Ihr mir die Werkzeuge gegeben?» fragte er. Tatsächlich hielt jetzt er die beiden Klingen.
»Das ist eine sehr gute Frage«, sagte Measure und musterte den Pastor mit gerunzelter Stirn. »Warum habt Ihr sie Cally gereicht?«
»Das habe ich gar nicht«, sagte Thrower. »Ihr müßt sie ihm gegeben haben.«
»Ich habe sie Euch direkt in die Hände gelegt«, sagte Measure.
»Der Prediger hat sie mir gegeben«, sagte Cally.
»Nun, dann bring sie her«, sagte schließlich seine Mutter.
Gehorsam schickte er sich an, in den Raum zu treten. Dabei hielt er die Klingen wie Kriegstrophäen. Wie beim Angriff einer großen Armee; ja, eine große Armee, wie die Armee der Irsraeliter, die Josua ins verheißene Land führte. So hielten auch sie ihre Waffen, hoch erhoben über ihren Köpfen, als sie immer und immer wieder um die Stadt Jericho marschierten. Marschierten und marschierten. Und am siebten Tag hielten sie inne und bliesen in ihre Trompeten und stießen einen großen Schrei aus, und da stürzten die Mauern ein, und sie hielten ihre Schwerter und Messer hoch über ihren Köpfen und stürmten die Stadt, hieben auf Männer, Frauen und Kinder ein, allesamt Feinde Gottes, auf daß das verheißene Land von ihrem Schmutz gereinigt würde und bereit wäre, das Volk Gottes aufzunehmen. Am Ende des Tages waren sie blutüberströmt, und Josua stand in ihrer Mitte, der große Prophet Gottes, ein blutiges Schwert über seinem Kopf haltend, und er rief. Was rief er?
Ich kann mich nicht mehr erinnern, was er rief. Wenn ich mich doch nur erinnern könnte, was er rief, dann wüßte ich auch, warum ich hier auf dem Weg stehe, umgeben von schneebedeckten Bäumen.
Reverend Thrower blickte auf seine Hände und dann auf die Bäume. Er mußte sich eine halbe Meile vom Haus der Millers befinden, und er trug nicht einmal seinen schweren Umhang.
Dann dämmerte ihm die Wahrheit: Satan hatte ihn hierher befördert, in Augenschnelle, anstatt es zuzulassen, daß er das Tier tötete. Thrower hatte versagt, bei seiner einzigen Gelegenheit, Größe zu beweisen. Er lehnte sich gegen einen kalten, schwarzen Baumstamm und weinte bitterlich.
Cally kam ins Zimmer, die beiden Klingen über dem Kopf haltend. Measure wollte gerade das Bein fest packen, als der alte Thrower plötzlich abrupt aufstand und hastig den Raum verließ, als müßte er schleunigst zum Abort.
»Reverend Thrower«, rief Ma. »Wo geht Ihr hin?«
Doch inzwischen hatte Measure begriffen. »Laß ihn gehen, Ma«, sagte er.
Sie hörten, wie sich die Vordertür des Hauses öffnete, dann vernahmen sie die schweren Schritte des Geistlichen auf der Veranda.
»Geh und schließe die Vordertür, Cally«, sagte Measure.
Ausnahmsweise gehorchte Cally ohne Widerrede. Ma blickte Measure an, dann Pa, dann wieder Measure. »Ich verstehe nicht, warum er einfach so gegangen ist«, sagte sie.
Measure gewährte ihr ein leises Halblächeln und sah Pa an. »Aber du weißt es, nicht wahr, Pa?«
»Vielleicht«, sagte er.
Measure erklärte es seiner Mutter. »Diese Messer und der Prediger, die können nicht zur selben Zeit mit Al Junior in diesem Zimmer sein.«
»Aber warum denn nicht?» erwiderte sie. »Er sollte doch die Operation durchführen!«
»Na, das wird er jetzt jedenfalls mit Sicherheit nicht mehr tun«, meinte Measure.
Das Messer und die Knochensäge lagen auf der Decke.
»Pa«, sagte Measure.
»Ich nicht«, sagte Pa.
»Ma«, sagte Measure.
»Ich kann nicht«, sagte Faith.
»Nun denn«, sagte Measure, »schätze, ich bin wohl gerade Arzt geworden.«
Er sah Alvin an.
Das Gesicht des Jungen hatte eine tödliche Blässe, die noch schlimmer war als die Rötung des Fiebers. Doch es gelang ihm ein Lächeln, und er flüsterte: »Schätze schon.«
»Ma, du wirst das Hautstück hochhalten müssen.«
Sie nickte.
Measure nahm das Messer auf und führte die Klinge an die untere Markierung.
»Measure«, flüsterte Al Junior.
»Ja, Alvin?» fragte Measure.
»Ich kann den Schmerz ertragen und ganz stillhalten, wenn du nur pfeifst.«
»Ich kann aber keine Melodie halten, wenn ich zur gleichen Zeit versuche, gerade zu schneiden«, wandte Measure ein.
»Brauche keine Melodie«, sagte Alvin.
Measure sah dem Jungen in die Augen und hatte keine andere Wahl, als zu tun, was er verlangte. Schließlich war es ja Als Bein, und wenn er einen pfeifenden Doktor haben wollte, dann sollte er ihn auch bekommen. Measure atmete tief ein und begann zu pfeifen, keinerlei Melodie, einfach nur Noten. Er legte das Messer wieder an den schwarzen Strich an und begann zu schneiden. Zunächst nur flach, weil er hörte, wie Al die Luft einzog.
»Pfeif weiter«, flüsterte Alvin. »Bis zum Knochen.«
Measure pfiff weiter, und diesmal schnitt er schnell und tief zu. Bis auf den Knochen in der Mitte des Strichs. Je ein tiefer Schlitz an beiden Seiten empor. Dann grub er das Messer unter die beiden Ecken und hob Haut und Muskel zurück. Am Anfang blutete es recht heftig, doch das hörte fast sofort wieder auf. Measure überlegte, daß es etwas sein mußte, was Alvin in seinem Inneren tat, um die Blutung zu stoppen.
»Faith«, sagte Pa.
Ma beugte sich vor und legte die Hand an das blutige Hautstück. Al streckte eine zitterten Hand vor und zeichnete einen Keil auf den blutgestreiften Knochen seines eigenen Beins. Measure legte das Messer beiseite und nahm die Säge auf. Sie machte ein schreckliches, quietschendes Geräusch, während er sägte. Aber Measure pfiff einfach nur und sägte, sägte und pfiff. Und schon bald hielt er einen Knochenkeil in der Hand. Er sah nicht anders aus als der restliche Knochen.
»Bist du sicher, daß das die richtige Stelle war?» fragte er.
Al nickte langsam.
»Habe ich auch alles herausgeholt?» wollte Measure wissen. Al saß ein paar Augenblicke da, dann nickte er wieder.
»Willst du, daß Ma das jetzt wieder vernäht?» fragte Measure.
Al antwortete nicht.
»Er ist ohnmächtig geworden«, sagte Pa.
Das Blut begann wieder zu fließen, nur ein bißchen, sickerte in die Wunde. Ma hatte eine Nadel und Faden in dem Nadelkissen, das sie um den Hals trug. In kürzester Zeit hatte sie den Hautstreifen wieder zurückgelegt und vernähte ihn mit einer prächtigen, festen Naht.
»Pfeif du nur immer weiter, Measure«, sagte sie.
Also pfiff er immer weiter, während sie immer weiter nähte, bis sie die Wunde ganz verbunden hatten und Alvin sich schlafend zurücklegte wie ein Baby. Alle drei standen sie auf, um zu gehen. Pa legte dem Jungen eine Hand auf die Stirn, so sanft, wie es nur ging.
»Ich glaube, sein Fieber ist verschwunden«, sagte er.
Measures Pfeifen wurde richtig fröhlich, als sie durch die Tür schlüpften.