Sobald Elly ihn erblickte, war sie so lieb zu ihm, wie sie es nur sein konnte, bürstete den Schnee von ihm ab, half ihm aus dem Umhang und stellte nicht die leiseste Frage, wie es geschehen war.
Aber es machte keinen Unterschied, wie gütig sie auch sein mochte. Er schämte sich vor seiner eigenen Frau, denn früher oder später würde sie die Geschichte von einem dieser Kinder zu hören bekommen. Schon bald würde man sie sich den ganzen Wobbish hinauf und hinunter erzählen. Wie Brustwehr Gottes Weaver, Kaufmann des westlichen Landes, zukünftiger Gouverneur, von seinem alten Schwiegervater von der Veranda in den Schnee geworfen wurde. Man würde hinter vorgehaltenen Händen lachen, aber niemals offen, denn es gab kaum eine Menschenseele zwischen Lake Canada und dem Noisy River, die ihm kein Geld schuldete oder seiner Karten bedurfte, um ihre Landansprüche zu untermauern. Es würde eine Zeit kommen, da das Wobbish-Land zu einem Staat werden würde, und da würde man diese Geschichte an jeder Wahlurne erzählen. Sie mochten vielleicht einen Mann mögen, den sie auslachten, aber sie würden ihn nicht respektieren oder für ihn stimmen.
Er stand vor dem Ende all seiner Pläne. Seine Frau ähnelte einfach zu sehr ihrer Familie. Für eine Pionierfrau war sie zwar recht hübsch, aber ihr Aussehen kümmerte ihn jetzt nicht mehr. Er scherte sich nicht mehr um süße Nächte und sanfte Morgen und darum, daß sie an seiner Seite im Laden arbeitete. Alles, was ihn jetzt noch erfüllte, waren Scham und Wut.
»Tu das nicht.«
»Du mußt das nasse Hemd ausziehen. Wie hast du denn Schnee ins Hemd bekommen?«
»Ich habe gesagt, du sollst die Hände von mir nehmen!«
Überrascht wich sie zurück. »Ich habe doch nur…«
»Dein ›doch nur‹ kenne ich. Der arme kleine Brustwehr, tätschele ihn ganz einfach wie einen kleinen Jungen, dann fühlt er sich schon besser.«
»Du könntest dir den Tod holen…«
»Erzähl das mal deinem Vater! Wenn ich mir die Seele aus dem Leib huste, dann erzähl ihm, was es bedeutet, einen Mann in den Schnee hinauszuwerfen!«
»O nein!» rief sie. »Ich kann nicht glauben, daß Papa so etwas…«
»Siehst du? Du glaubst nicht mal deinem eigenen Mann!«
»Ich glaube dir sehr wohl, es sieht Pa nur überhaupt nicht…«
»Nein, meine Dame, es sieht eher aus wie der Teufel höchstpersönlich, so sieht es aus! Wenn man versucht, in diesem Haus das Wort Gottes auszusprechen, dann wird man in den Schnee hinausgeworfen!«
»Was hattest du oben im Haus zu suchen?«
»Ich habe versucht, das Leben deines Bruders zu retten. Zweifellos ist er jetzt tot.«
»Wie hättest du ihn retten können?«
Vielleicht wollte sie gar nicht so verächtlich klingen. Es spielte keine Rolle. Er wußte, was sie meinte. Da er keine verborgenen Kräfte besaß, konnte er nicht das geringste tun, um irgend jemandem zu helfen. Nach Jahren der Ehe glaubte sie noch immer an Hexerei, genau wie ihre Familie. Er hatte sie kein bißchen verändert. »Du bist immer noch dieselbe«, sagte er. »In dir steckt das Böse so tief, daß ich es nicht aus dir herausbeten kann, und ich kann es nicht aus dir herauspredigen, und ich kann es nicht aus dir herauslieben, und ich kann es nicht aus dir herausschreien!«
Als er ›herausbeten‹ sagte, schubste er sie ein wenig. Bei ›herauspredigen‹ stieß er sie schon härter, und sie taumelte zurück. Wie er ›herauslieben‹ sagte, packte er sie an den Schultern und schüttelte sie so heftig, daß das Haar sich aus seinem Knoten löste und um ihren Kopf flatterte. Während er ›herausschreien‹ brüllte, stieß er sie so kräftig, daß sie zu Boden stürzte.
Als sie stürzte, durchflutete ihn eine solche Scham, noch schlimmer als vorhin, da ihr Vater ihn in den Schnee hinausgeworfen hatte. Ein kräftiger Mann erniedrigt mich, also gehe ich nach Hause und stoße meine Frau umher; was bin ich doch für ein großer Mann! Dabei bin ich ein Christ gewesen, der niemals einem Mann oder einer Frau weh getan hat, und jetzt schlage ich meine eigene Frau.
Er wollte sich schon auf die Knie werfen und heulen wie ein Kind und um Vergebung flehen, als sie seine Miene sah, völlig verzerrt von Scham und Zorn. Sie wußte nicht, daß er sie geschlagen hatte, und so tat sie, was für eine Frau wie sie nur natürlich erschien. Sie bewegte die Finger zu einem Abwehrzauber und flüsterte ein Wort, um ihn zurückzuhalten.
Er konnte vor ihr nicht auf die Knie gehen. Er konnte keinen Schritt auf sie zu tun. Er konnte nicht einmal daran denken, einen Schritt auf sie zu zu tun. Ihr Abwehrzauber war so stark, daß er zurücktaumelte, auf die Tür zu, sie öffnete und im Hemd hinauslief. Alles, wovor er sich jemals gefürchtet hatte, war heute wahr geworden. Er hatte wahrscheinlich seine politische Zukunft eingebüßt, doch schlimmer noch: Seine eigene Frau übte Hexerei in seinem eigenen Haus, und zwar gegen ihn, und er hatte keinen Schutz dagegen. Sie war eine Hexe, und sein Haus war unrein.
Es war kalt. Er hatte keinen Umhang, nicht einmal eine Weste. Ihn fror bis auf die Knochen. Er mußte in irgendeinem Haus einkehren, doch hätte er es nicht ertragen, an irgend jemandes Tür zu klopfen, also blieb nur ein Ort, wo er hin konnte: den Hügel hinauf in die Kirche. Thrower lagerte dort Feuerholz, so daß ihm warm sein würde. Und in der Kirche würde er beten können und versuchen zu verstehen, weshalb der Herr ihm nicht half. Habe ich dir denn nicht gedient, o Herr?
Reverend Thrower öffnete die Tür der Kirche und schritt langsam und voller Furcht hinein. Er konnte es nicht ertragen, dem Besucher von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, wissend, daß er versagt hatte. Satan hätte keine Gewalt über ihn haben dürfen, um ihn auf diese Weise aus dem Haus zu treiben. Ein geweihter Geistlicher, im Auftrage des Herrn, der die Anweisungen befolgte, die ein Engel ihm erteilt hatte — Satan hätte nicht dazu in der Lage sein dürfen, ihn auf diese Weise aus dem Haus zu verstoßen, noch bevor er überhaupt wußte, wie ihm geschah.
Er nahm seinen Umhang ab und auch seine Jacke. In der Kirche war es heiß. Das Feuer im Ofen mußte länger gebrannt haben, als er erwartet hatte. Oder vielleicht empfand er auch die Hitze der Scham.
Es konnte nicht daran liegen, daß Satan stärker war als der Herr. Die einzige mögliche Erklärung war, daß Thrower selbst zu schwach war. Sein eigener Glaube hatte versagt.
Thrower kniete vor dem Altar nieder und rief den Namen des Herrn. »Vergib mir meinen Unglauben!» rief er. »Ich hielt das Messer, doch Satan stand wider mich auf, und ich hatte keine Kraft!«
Er rezitierte eine Litanei der Selbstbeschuldigung, ging alle seine Vergehen dieses Tages durch, bis er schließlich erschöpft war.
Erst dann, da seine Augen vom Weinen gerötet waren, seine Stimme matt und heiser, erkannte er, in welchem Augenblick sein Glaube unterhöhlt worden war. Es war, als er in Alvins Raum gestanden hatte, den Jungen auffordernd, seinen Glauben zu bekennen, und als der Junge die Mysterien Gottes verhöhnt hatte. »Wie kann etwas so Großes in mein Herz passen?«
Und obwohl Thrower die Frage als ein Produkt der Unwissenheit und des Bösen abgetan hatte, hatte sie doch sein Herz durchbohrt und war bis zum Kern seines Glaubens vorgestoßen. Gewißheiten, die ihn fast sein ganzes Leben genährt hatten, waren plötzlich durch die Fragen eines unwissenden Jungen zerbrochen. »Er hat mir meinen Glauben gestohlen«, sagte Thrower. »Ich bin als Mann Gottes in sein Zimmer getreten und als Zweifler wieder herausgekommen.«
»In der Tat«, sagte eine Stimme hinter ihm. Eine Stimme, die er kannte und die er jetzt sowohl fürchtete als auch ersehnte. Ach, verzeih mir, tröste mich, mein Besucher, mein Freund! Doch versäume es auch nicht, mich mit dem schrecklichen Zorn eines eifersüchtigen Gottes zu züchtigen.
»Dich zu züchtigen?» fragte der Besucher. »Wie könnte ich dich züchtigen, der du doch solch ein herrliches Exemplar von Mensch bist?«
»Ich bin nicht herrlich«, sagte Thrower niedergeschlagen.
»Genaugenommen bist du auch kaum menschlich«, sagte der Besucher. »In wessen Ebenbild bist du erschaffen worden? Ich habe dich ausgeschickt, mein Wort in dieses Haus zu tragen, und statt dessen haben sie beinahe dich bekehrt. Wie soll ich dich jetzt nennen? Einen Ketzer? Oder lediglich einen Skeptiker?«
»Einen Christen!» rief Thrower. »Vergib mir und nenne mich wieder einen Christen.«
»Du hieltest das Messer in deiner Hand, aber du hast es niedergelegt.«
»Das wollte ich nicht!«
»Schwach, schwach, schwach, schwach, schwach…«
Jedesmal, da der Besucher das Wort wiederholte, dehnte er es länger und länger aus, bis jede Wiederholung zu einem eigenen Lied wurde. Während er sang, begann er in der Kirche umherzuschreiten. Er rannte nicht, aber er schritt sehr schnell, viel schneller, als jeder Mensch es konnte. »Schwach, schwach…«
Er bewegte sich so schnell, daß Thrower sich ständig umdrehen mußte, um ihn im Auge zu behalten. Der Besucher schritt nicht mehr auf dem Boden. Er glitt die Wände entlang, so schnell und geschmeidig in seiner Bewegung wie eine Kellerassel, dann noch schneller, bis er zu einem bloßen Fleck wurde und Thrower ihn nicht mehr mit dem Blick festhalten konnte, indem er sich umdrehte. Thrower lehnte sich an den Altar, das Gesicht den leeren Bänken zugewandt, und sah zu, wie der Besucher immer und immer wieder vorbeiraste.
Nach und nach begriff Thrower, daß der Besucher seine Gestalt verwandelt hatte, daß er sich gestreckt hatte wie ein langes, schlankes Tier, eine Eidechse, ein Alligator, hellschuppig und leuchtend, länger und länger, bis sein Körper schließlich so lang war, daß er den ganzen Raum im Kreis umfaßte, ein riesiger Wurm, der seinen eigenen Schwanz zwischen den Zähnen packte.
Und Thrower sah vor seinem eigenen Geiste, wie winzig und unwürdig er war, verglichen mit diesem herrlichen Wesen, das von tausend verschiedenen Farben funkelte, das von innerem Feuer glühte und die Dunkelheit ein- und Licht ausatmete. Ich verehre dich! rief er in seinem Inneren. Du bist alles, nach dem ich verlange! Küsse mich mit deiner Liebe, auf daß ich deine Herrlichkeit kosten möge!
Plötzlich hielt der Besucher inne, und das riesige Maul kam auf ihn zu. Nicht um ihn zu verschlingen, denn Thrower wußte, daß er sogar zu unwürdig war, um verschlungen zu werden. Nun schaute er die schreckliche Lage des Menschen: Er sah, daß er wie eine Spinne von einem dünnen Faden über der Höllengrube hing und daß der einzige Grund, weshalb Gott ihn nicht stürzen ließ, darin lag, daß er nicht einmal der Vernichtung würdig war. Gott haßte ihn nicht. Er war so abscheulich, daß Gott ihn verachtete. Thrower blickte dem Besucher in die Augen und verzweifelte. Denn da waren weder Liebe noch Vergebung noch Zorn noch Verachtung. Die Augen waren völlig ausdruckslos. Die Schuppen blendeten, verteilten das Licht eines inneren Feuers. Doch dieses Feuer schimmerte nicht durch die Augen. Sie waren nicht einmal schwarz. Sie waren einfach nicht da, eine schreckliche Leere, die zitterte, die nicht stillhalten wollte. Thrower wußte, daß dies seine eigene Spiegelung war. Er war nichts. Seine Existenz war ohne Wert und Bedeutung. Die einzige Wahl, die ihm noch blieb, war die Vernichtung, die Ent-Schöpfung, um die Welt zu jener größeren Herrlichkeit wiederherzustellen, die gewesen wäre, wäre Philadelphia Thrower niemals geboren worden.
Throwers Beten weckte Brustwehr. Er lag neben dem Franklin-Ofen. Vielleicht hatte er ihn ein bißchen zu heiß geschürt, doch dessen bedurfte es auch, um die Kälte in seinen Gliedern zu vertreiben.
Brustwehr wollte sofort etwas sagen, um Thrower wissen zu lassen, daß er da war, doch als er die Worte vernahm, die Thrower betete, fuhr er entsetzt zusammen. Thrower sprach von Messern und Arterien und davon, wie er die Feinde Gottes hätte in Stücke schneiden sollen. Nach einer Minute war ihm alles klar: Thrower war überhaupt nicht zu Millers gegangen, um diesen Jungen zu retten, sondern um ihn zu töten! Was ist das für eine Welt, dachte Brustwehr, wenn ein Christenmensch seine Frau schlägt und eine Christenfrau ihren Mann verhext und ein Christenpriester einen Mord plant und um Vergebung bittet, weil er bei der Ausführung dieses Verbrechens versagt hat!
Plötzlich aber hörte Thrower auf zu beten. Er war so heiser und sein Gesicht war so rot, daß Brustwehr schon an einen Schlag glaubte. Aber nein, Thrower hob den Kopf, als würde er jemandem lauschen. Brustwehr lauschte ebenfalls, und er konnte auch etwas hören, wie Leute, die in einem Windsturm sprachen, so daß man nie genau verstand, was sie sagten.
Eine Vision, dachte Brustwehr. Reverend Thrower hat gerade eine Vision.
Und tatsächlich begann Thrower zu sprechen, und die leise Stimme antwortete, und schon bald drehte Thrower sich um seine eigene Achse, immer herum, schneller und schneller, als würde er etwas an den Wänden beobachten. Brustwehr versuchte festzustellen, was er beobachtete, konnte es aber nie ausmachen. Es war wie ein Schatten, der sich über die Sonne zog — man konnte ihn weder kommen noch gehen sehen, doch für eine Sekunde lang war es dunkler und kälter.
Dann hörte das Schattenspiel auf. Brustwehr sah ein Schimmern in der Luft, ein Aufblitzen hier und dort, wie wenn eine Glasscheibe das Sonnenlicht einfing. Ob Thrower die Herrlichkeit Gottes schaute, wie Moses es getan hatte? Unwahrscheinlich, wenn man das Gesicht des Pfarrers ansah. Brustwehr hatte noch nie ein solches Gesicht gesehen. Wie das Gesicht eines Mannes aussehen mochte, der zusehen mußte, wenn sein eigenes Kind getötet wurde.
Das Schimmern und das Glitzern verschwanden. Die Kirche war wieder still. Brustwehr wollte auf Thrower zulaufen und ihn fragen: Was habt Ihr gesehen! Was war es für eine Vision! War es eine Prophezeiung?
Aber Thrower machte nicht den Eindruck, als würde er jetzt gerne Fragen beantworten. Er sah aus, als wünschte er zu sterben. Ganz langsam schritt der Prediger von dem Altar fort. Er schlenderte zwischen den Bänken umher, stieß manchmal dagegen, achtete nicht darauf, wohin sein Körper sich bewegte, es war ihm gleichgültig. Schließlich hielt er vor dem Fenster inne, mit dem Gesicht dem Glas zugewandt, doch Brustwehr wußte, daß er nichts sah, er stand einfach nur da, die Augen weit geöffnet, sah aus wie der Tod.
Reverend Thrower hob die rechte Hand, die Finger gespreizt, und legte seine Handfläche auf eine Glasscheibe.
Er drückte zu. Er drückte und schob so fest, daß Brustwehr glaubte, das Glas müsse jeden Moment zerspringen. »Hört auf!» schrie Brustwehr. »Ihr werdet Euch schneiden!«
Thrower gab nicht einmal das leiseste Anzeichen, daß er ihn gehört hatte, sondern drückte weiter seine Hand gegen das Fenster. Brustwehr begann, auf ihn zuzugehen. Muß diesen Mann doch aufhalten, bevor er das Glas zerbricht und sich den Arm aufschneidet.
Mit einem Krachen zerbrach die Scheibe. Throwers Arm fuhr bis zur Schulter hindurch. Der Prediger lächelte. Er zog seinen Arm wieder ein Stück in die Kirche hinein und stieß seine Hand in die Glasscherben im Fensterrahmen.
Brustwehr versuchte, Thrower vom Fenster fortzureißen, doch der Mann hatte eine Kraft an sich, wie Brustwehr sie noch nie erlebt hatte. Schließlich mußte er ihn zu Boden werfen. Überall war Blut verspritzt. Brustwehr packte Throwers Arm, der von oben bis unten mit Blut besudelt war. Der Priester versuchte, sich von ihm fortzurollen. Brustwehr hatte keine Wahl. Zum ersten Mal, seit er ein Christenmensch geworden war, ballte er die Hand zur Faust, hieb sie Thrower unter das Kinn und schlug ihn ohnmächtig.
Muß die Blutung aufhalten, dachte Brustwehr. Doch zuerst mußte er das Glas herausholen. Manche der großen Stücke ragten gut sichtbar aus dem Fleisch, er brauchte sie nur herauszuziehen. Doch andere, kleinere Scherben zumeist saßen tief; sie waren kaum zu erkennen und außerdem schleimig von Blut, so daß er sie auch kaum zu fassen bekam. Doch endlich hatte er alles Glas entfernt, das er finden konnte. Zum Glück strömte aus keiner der Wunden Blut. Brustwehr zog sein Hemd aus, so daß er nun bis zur Hüfte nackt war, während durch das zerbrochene Fenster der kalte Wind hereinwehte, doch er bemerkte es kaum. Er riß das Hemd einfach in Streifen, um damit die Wunde zu verbinden. Dann setzte er sich und wartete darauf, daß Thrower erwachte.
Thrower stellte überrascht fest, daß er nicht tot war. Er lag mit dem Rücken auf einem harten Boden, mit einem schweren Tuch bedeckt. Sein Kopf schmerzte. Sein Arm schmerzte noch schlimmer. Er erinnerte sich, wie er versucht hatte, diesen Arm zu zerschneiden, und er wußte, daß er es erneut versuchen mußte, doch konnte er nicht mehr denselben Todeswunsch in sich wecken, den er zuvor empfunden hatte. Selbst wenn er sich an den Besucher in der Gestalt der großen Echse erinnerte, vermochte Thrower sich nicht daran zu erinnern, wie es sich angefühlt hatte. Er wußte nur, daß es das schlimmste Gefühl der Welt gewesen war.
Sein Arm war fest verbunden. Aber wer hatte ihn verbunden?
Er hörte das Geräusch, wie wenn ein feuchter Lappen gegen Holz geschleudert wurde. Im Winterzwielicht, das durch das Fenster trat, konnte er jemanden erkennen, der die Wand wusch. Eine der Fensterscheiben war mit einem Stück Holz verdeckt.
»Wer ist da?» fragte Thrower. »Wer seid Ihr?«
»Nur ich.«
»Brustwehr-Gottes.«
»Dabei, die Wände abzuwaschen. Das ist nämlich eine Kirche und kein Schlachthaus.«
Natürlich mußte alles voll Blut sein. »Tut mir leid«, sagte Thrower.
»Das Saubermachen macht mir nicht aus«, sagte Brustwehr. »Ich glaube, ich habe alles Glas aus Eurem Arm entfernt.«
»Ihr seid nackt«, bemerkte Thrower.
»Euer Arm trägt jetzt mein Hemd.«
»Ihr müßt frieren.«
»Vielleicht habe ich in der Nacht gefroren, aber jetzt habe ich das Fenster abgedeckt und den Ofen aufgeheizt. Ihr aber seht totenbleich aus.«
Thrower versuchte, sich aufzusetzen, doch es gelang ihm nicht. Er war zu schwach; sein Arm schmerzte sehr.
Brustwehr drückte ihn zurück. »Also Ihr bleibt jetzt schön liegen, Reverend Thrower. Legt Euch einfach zurück. Ihr habt sehr viel durchgemacht.«
»Ja.«
»Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, aber ich war hier in der Kirche, als Ihr hereinkamt. Ich habe neben dem Ofen geschlafen — meine Frau hat mich nämlich aus dem Haus geworfen. Ich bin heute schon zweimal hinausgeworfen worden.«
Er lachte, ohne wirklich fröhlich zu sein. »Und da habe ich Euch gesehen.«
»Gesehen?«
»Ihr hattet eine Vision, nicht wahr?«
»Habt Ihr ihn gesehen?«
»Ich habe nicht viel gesehen. Hauptsächlich Euch, aber ab und zu ist etwas aufgeblitzt, wenn Ihr versteht, was ich meine. Es lief um die Wände.«
»Ihr habt es gesehen«, sagte Thrower. »Ach, Brustwehr, es war entsetzlich, es war wunderschön.«
»Habt Ihr Gott geschaut?«
»Gott geschaut? Gott besitzt keinen Leib, den man schauen kann, Brustwehr. Nein, ich habe einen Engel geschaut, den Engel der Züchtigung. Gewiß war es dies, was Pharao sah, den Todesengel, der durch die Städte Ägyptens zog und die Erstgeborenen holte.«
»Oh«, sagte Brustwehr verwirrt. »Hätte ich Euch denn dann lieber sterben lassen sollen?«
»Wenn ich hätte sterben sollen, so hättet Ihr mich nicht retten können«, sagte Thrower. »Weil Ihr mich gerettet habt, weil Ihr im Augenblick meiner Verzweiflung hier wart, ist dies ein sicheres Zeichen, daß ich leben soll. Ich wurde gezüchtigt, aber nicht vernichtet. Brustwehr Gottes, ich habe noch eine Chance.«
Brustwehr nickte, aber Thrower konnte sehen, daß er sich wegen irgend etwas Sorgen machte. »Was ist denn?» fragte Thrower. »Was ist es, das ihr mich fragen wollt?«
Brustwehrs Augen weiteten sich. »Könnt Ihr etwa hören, was ich denke?«
»Wenn ich es könnte, brauchte ich Euch nicht zu fragen.«
Brustwehr lächelte. »Schätze nicht.«
»Ich werde Euch sagen, was Ihr wissen wollt, so ich kann.«
»Ich habe Euch beten hören«, sagte Brustwehr. Er wartete, als wäre dies schon die Frage.
Doch Thrower wußte nicht genau, wie er die Worte deuten sollte. »Ich war verzweifelt, weil ich vor dem Herrn versagt hatte. Mir wurde eine Mission aufgetragen, doch im entscheidenden Moment ward mein Herz von Zweifeln erfüllt.«
Mit seiner gesunden Hand griff er nach Brustwehr und packte ihn. »Brustwehr-Gottes«, sagte er, »laßt nie den Zweifel in Euer Herz ein. Stellt niemals etwas in Frage, von dem Ihr wißt, daß es wahr ist. Das ist das Tor, durch welches Ihr es dem Satan gestattet, Zutritt und Macht über Euch zu erlangen.«
Doch das war nicht die Antwort auf Brustwehrs Frage.
»Fragt mich, was Ihr mich fragen wollt«, sagte Thrower, »wenn ich kann, will ich Euch die Wahrheit sagen.«
»Ihr habt über das Töten gebetet«, sagte Brustwehr.
Thrower hatte nie daran gedacht, irgend jemandem von der Bürde zu erzählen, die der Herr ihm auferlegt hatte. Doch wenn der Herr nicht gewollt hätte, daß Brustwehr dieses Geheimnis erfuhr, so hätte Er es auch nicht gestattet, daß der Mann ihn hier in der Kirche hätte hören können. »Ich glaube«, sagte Thrower, »daß es Gott der Herr war, der Euch zu mir geführt hat. Ich bin schwach, Brustwehr, und ich habe in dem versagt, was der Herr von mir verlangte. Doch nun erkenne ich, daß Ihr, ein Mann des Glaubens, mir als Freund und Helfer gesandt wurdet.«
»Was hat der Herr verlangt?» fragte Brustwehr.
»Keinen Mord, mein Bruder. Der Herr hat nie von mir verlangt, einen Menschen zu töten. Es war ein Teufel, den zu töten ich ausgesandt wurde. Ein Teufel in Menschengestalt, der in jenem Haus lebt.«
Tief in Gedanken versunken, schürzte Brustwehr die Lippen. »Der Junge ist nicht nur besessen, wollt Ihr das damit sagen? Es ist nichts, was Ihr einfach bannen könntet?«
»Ich habe es versucht, aber er hat über die Heilige Schrift gelacht und meine Worte des Exorzismus verhöhnt. Er ist nicht besessen, Brustwehr Gottes. Er ist die Brut des Teufels selbst.«
Brustwehr schüttelte den Kopf. »Meine Frau ist kein Teufel, und sie ist seine eigene Schwester.«
»Sie hat die Hexerei aufgegeben und ist daher gereinigt worden«, warf Thrower ein.
Brustwehr lachte kurz erbittert auf. »Das habe ich auch gedacht.«
Nun begriff Thrower, weshalb Brustwehr Zuflucht in der Kirche gesucht hatte: Sein eigenes Haus war befleckt worden.
»Brustwehr-Gottes, werdet Ihr mir dabei helfen, dieses Land, diese Stadt, dieses Haus, diese Familie von den bösen Einflüssen zu reinigen, die sie verdorben haben?«
»Wird das meine Frau retten?» fragte Brustwehr. »Wird es ihre Liebe zur Hexerei brechen?«
»Möglicherweise«, sagte Thrower. »Vielleicht hat der Herr uns zusammengeführt, damit wir beide unsere Häuser reinigen können.«
»Was immer es verlangen mag«, sagte Brustwehr, »gegen den Teufel bin ich auf Eurer Seite.«