10. Visionen

Alvin Junior erwachte schweißgebadet aus einem Alptraum. Er keuchte, als hätte er gerade versucht, davonzulaufen, dabei wußte er, daß es kein Davonlaufen gab. Mit geschlossenen Augen lag er da, fürchtete sich eine Weile davor, sie zu öffnen, denn er wußte, daß der böse Traum auch dann immer noch dasein würde. Vor langer Zeit, als er noch sehr klein gewesen war, hatte er noch aufgeschrien, wenn dieser Alptraum kam. Doch als er versucht hatte, ihn Papa und Mama zu erklären, hatten sie immer dasselbe gesagt. »Aber das ist doch nichts, Sohn. Willst du mir erzählen, daß du dich so vor nichts fürchtest?«

Da hatte er sich beigebracht, nur noch leise vor sich hinzuschluchzen und niemals laut aufzuschreien, wenn der Traum kam.

Er öffnete die Augen, und der Traum floh in die Ecken des Raums zurück, wo er. ihn nicht unmittelbar anschauen mußte. Das erleichterte ihn schon etwas. Bleib da und laß mich in Ruhe, sagte er stumm.

Dann begriff er, daß es schon voller Tag war und daß Mama seine schwarzen Hosen und die Jacke aus grobem Tuch herausgelegt hatte und dazu ein sauberes Hemd. Seine Sonntagsindie-Kirchegehen-Kleider. Fast wäre er lieber zu seinem Alptraum zurückgekehrt, als mit so einem Gedanken zu erwachen.

Alvin Junior haßte den Sonntagmorgen. Er haßte es, sich fein anziehen zu müssen, so daß er sich nicht auf den Boden setzen oder sich ins Gras knien oder sich auch nur vorbeugen konnte, ohne sich irgendwie schmutzig zu machen und ohne daß Mama ihm gleich sagte, er solle den Tag des Herrn mehr ehren. Er haßte es, den ganzen Morgen auf Zehenspitzen durchs Haus schleichen zu müssen, weil Sabbat war und es am Sabbat keinen Lärm geben durfte. Am schlimmsten aber haßte er den Gedanken, vorne auf einer harten Bank sitzen zu müssen, wo Reverend Thrower ihn anschaute, während er über die Höllenfeuer predigte, die jene Gottlosen erwarteten, die die wahre Religion verachteten und ihr Vertrauen auf das schwache Verständnis des Menschen setzten.

Dabei verabscheute Alvin die Religion gar nicht wirklich, sondern nur Reverend Thrower; vor allem wegen der vielen Stunden in der Schule, nun, da die Erntezeit vorüber war. Alvin Junior war ein guter Leser, und beim Rechnen bekam er auch meistens die richtigen Ergebnisse. Doch das genügte dem blöden Thrower nicht. Er mußte auch immer gleich Religion dazu unterrichten. Die anderen Kinder — die Schweden und die Knickerbocker von flußaufwärts, die Schotten und die Englischen von flußabwärts bekamen immer nur Prügel, wenn sie frech waren oder dreimal hintereinander eine falsche Antwort gaben. Alvin Junior jedoch bekam von Thrower bei jeder Gelegenheit den Rohrstock, so schien es ihm, und dabei ging es auch nie um das Bücherwissen, sondern immer nur um Religion.

Natürlich war es da keine große Hilfe, daß Alvin die Bibel immer zu den unpassendsten Zeiten komisch fand. Das hatte Measure gesagt, damals, als Alvin aus der Schule davongelaufen und sich in Davids Haus versteckt hatte, bis Measure ihn endlich am Abend aufgespürt hatte. »Wenn du bloß nicht immer lachen würdest, wenn er aus der Bibel vorliest, würdest du auch nicht so oft gehauen werden.«

Aber es war doch komisch! Wenn Jonatan all diese Pfeile gen Himmel schoß und sie ihr Ziel verfehlten. Wenn Jerobeam nicht genügend Pfeile aus seinem Fenster verschoß. Wenn der Pharao immer neue Raffiniertheiten erfand, um die Israeliten am Fortgehen zu hindern. Wenn Samson so blöd war, daß er Delilah sein Geheimnis anvertraute, noch nachdem sie ihn bereits zweimal verraten hatte. »Wie soll ich das denn verhindern, daß ich lachen muß?«

»Denk einfach an die Schwielen an deinem Hintern«, meinte Measure. »Das sollte dir das Grinsen eigentlich aus dem Gesicht vertreiben.«

»Aber das fällt mir doch immer erst ein, nachdem ich bereits gelacht habe.«

»Dann wirst du wahrscheinlich so lange keinen Stuhl brauchen, bis du fünfzehn geworden bist«, sagte Measure. »Denn Mama nimmt dich niemals von dieser Schule, und Thrower wird dich niemals in Frieden lassen, und du kannst dich nicht auf alle Zeiten in Davids Haus verstecken.«

»Warum nicht?«

»Weil, wenn du dich vor deinem Feind versteckst, es dasselbe ist, als würdest du ihn gewinnen lassen.«

Measure wollte ihn also nicht in seinem Versteck lassen, und er mußte zurückkehren — um auch noch von Pa eine Tracht Prügel zu bekommen, weil er allen einen Schrecken eingejagt hatte, indem er davongelaufen war und sich so lange versteckt hielt. Trotzdem hatte Measure ihm irgendwie geholfen. Es war ein Trost zu wissen, daß auch ein anderer bereit war, auszusprechen, daß Thrower sein Feind war. Alle anderen erzählten immer nur, wie gottesfürchtig und gebildet Thrower war und wie nett es doch von ihm sei, die Kinder am Born seiner Weisheit zu tränken, daß Alvin am liebsten gekotzt hätte.

Obwohl Alvin nun seine Miene in der Schule meistens beherrschte und weniger oft verprügelt wurde, war der Sonntag der scheußlichste Kampf von allen, weil er dann immer auf dieser harten Bank saß und Thrower zuhören mußte, wobei er die Hälfte der Zeit am liebsten lauthals losgelacht hätte. Während er die andere Hälfte ihr am liebsten aufgestanden wäre, um zu rufen: »Das ist so ziemlich das Dämlichste, was ich von einem Erwachsenen jemals gehört habe!«

Er hatte sogar das Gefühl, daß Pa ihn nicht sonderlich hart verhauen würde, wenn er Thrower so etwas sagte, da Pa noch nie viel von dem Mann gehalten hatte. Aber Mama — die würde ihm niemals vergeben, wenn er im Hause des Herrn Gott lästerte.

Der Sonntagmorgen, entschied er, soll den Sündern einen Vorgeschmack auf den ersten Tag der Ewigkeit in der Hölle geben.

Wahrscheinlich würde Mama es nicht einmal Geschichtentauscher erlauben, heute auch nur die allerwinzigste Geschichte zu erzählen, es sei denn, sie stammte aus der Bibel. Und da Geschichtentauscher anscheinend niemals Geschichten aus der Bibel erzählte, schätze Alvin Junior, daß der heutige Tag nichts Gutes bringen würde.

Mamas Stimme tönte die Treppe hinauf. »Alvin Junior, ich bin es so leid, daß du immer drei Stunden brauchst, um dich Sonntag morgens anzuziehen, daß ich dich gleich nackt mit in die Kirche schleppe!«

»Ich bin gar nicht nackt!» rief Alvin hinunter. Doch da er gerade sein Nachthemd trug, war das wahrscheinlich noch schlimmer, als nackt zu sein. Er riß sich das Flanellnachthemd vom Leib, hängte es an einen Haken und begann, sich so schnell wie möglich anzuziehen.

Es war schon sonderbar. Jeden anderen Tag brauchte er nur nach seinen Kleidern zu greifen, ohne überhaupt nachzudenken, und dann waren die auch da, jedes Teil, das er haben wollte. Hemd, Hose, Strümpfe, Schuhe. Doch an einem Sonntagmorgen schien es, als würden die Kleider vor seiner Hand davonlaufen. Dann griff er nach seinem Hemd und erwischte die Hose. Er griff nach einer Socke und bekam einen Schuh zu fassen.

Als Mama also schließlich gegen die Tür polterte, war es daher nicht allein Alvins Schuld, daß er noch nicht einmal seine Hose angezogen hatte.

»Du hast das Frühstück verpaßt! Du bist noch immer halbnackt! Wenn du dir einbildest, daß die ganze Familie deinetwegen zu spät in die Kirche kommt, dann…«

»… bilde ich dir gleich was ein«, sagte Alvin.

Es war doch gar nicht seine Schuld, daß sie immer dasselbe sagte. Aber sie wurde so wütend auf ihn, als hätte er so tun müssen, als würde es ihn überraschen, sie es in diesem Sommer zum neunzigstenmal sagen zu hören. O ja, sie war ganz und gar bereit, ihn zu verhauen, oder sogar nach Pa zu rufen, als plötzlich Geschichtentauscher zu seiner Rettung kam.

»Goody Faith«, sagte Geschichtentauscher, »ich kümmere mich gerne darum, daß er in die Kirche kommt, wenn Ihr schon mit den anderen vorgeht.«

Kaum hatte Geschichtentauscher gesprochen, als Mama herumwirbelte und versuchte zu verbergen, wie zornig sie gewesen war. Sofort begann Alvin, einen Beruhigungszauber auf sie zu legen — mit der rechten Hand, wo sie es nicht sehen konnte, denn wenn sie es bemerkt hätte, hätte sie ihm sicherlich den Arm gebrochen. Ein Beruhigungszauber funktionierte nicht so gut, wenn man den anderen nicht berühren konnte, aber da sie sich schon mächtig anstrengte, vor Geschichtentauscher ruhig auszusehen, klappte es doch ganz ordentlich.

»Ich möchte Euch wirklich keine Umstände machen«, sagte Mama.

»Das sind keine Umstände, Goody Faith«, erwiderte Geschichtentauscher. »Ich tue schon wenig genug, um Euch Eure Güte zu erwidern.«

»Wenig genug!«

Inzwischen war die Verwirrung aus Mamas Stimme fast völlig gewichen. »Mein Mann sagt aber, daß Ihr für zwei Erwachsene arbeitet. Und wenn Ihr den Kleinen Geschichten erzählt, erlebe ich hier in diesem Haus mehr Frieden und Ruhe als… als jemals zuvor.«

Sie drehte sich wieder zu Alvin um, doch nun war ihr Zorn mehr gespielt als echt. »Wirst du tun, was Geschichtentauscher dir sagt, und ganz schnell in die Kirche kommen?«

»Ja, Mama«, antwortete Alvin Junior. »So schnell ich kann.«

»Also gut. Ich danke Euch recht freundlich, Geschichtentauscher. Wenn Ihr diesen Jungen dazu bringen könnt, zu gehorchen, dann ist das mehr, als irgend jemand bisher geschafft hat, seit er das Sprechen gelernt hat.«

»Er ist ein richtiger Lausejunge«, sagte Mary draußen auf dem Gang.

»Halt den Mund, Mary«, sagte Mama, »sonst stopfe ich dir die Unterlippe in die Nase und zwicke sie dort fest, damit er geschlossen bleibt.«

Alvin seufzte erleichtert. Wenn Mama solch widersinnige Drohungen ausstieß, bedeutete das, daß sie nicht mehr wütend war. Mary stolzierte erhobenen Hauptes den Gang entlang, aber Alvin kümmerte sich gar nicht mehr darum. Er grinste einfach nur Geschichtentauscher an, und der alte Mann grinste zurück.

»Hast du Schwierigkeiten, dich für den Kirchgang anzuziehen, Junge?» fragte Geschichtentauscher.

»Lieber würde ich mich mit Talg bekleiden und durch eine Herde hungriger Bären wandern«, meinte Alvin Junior.

»Es überleben aber mehr Menschen den Kirchgang als Begegnungen mit Bären.«

»Aber nicht sehr viel mehr.«

Schon bald war er angezogen. Doch es gelang ihm, Geschichtentauscher dazu zu überreden, den kürzeren Weg zu nehmen, was bedeutete, daß sie durch den Wald über den Hügel hinter dem Haus gehen würden. Da es draußen ziemlich kalt war und eine Weile nicht geregnet hatte, würde es nicht schlammig sein, und Mama würde ihre kleine Abweichung wahrscheinlich nicht einmal bemerken. Und was Mama nicht wußte, würde ihm nicht weh tun.

»Mir ist aufgefallen«, sagte Geschichtentauscher, als sie den laubbedeckten Anhang emporkletterten, daß dein Vater nicht mit deiner Mutter und Cally und den Mädchen losgegangen ist.«

»Er geht nicht in diese Kirche«, sagte Alvin. »Er meint, Reverend Thrower wäre ein Esel. Natürlich sagt er das nicht, wenn Mama es hören kann.«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, meinte Geschichtentauscher.

Oben auf dem Gipfel des Hügels blieben sie stehen und blickte über Weideland auf die Kirche hinunter. Der Kirchenhügel versperrte den Blick auf die Stadt Vigor Church. Inmitten des herbstlichen braunen Grases wirkte die Kirche wie das weißeste Dinge der Welt. Alvin konnte Wagen sehen, die noch immer in Richtung Kirche fuhren, und Pferde, die gerade auf der Weide an den Pfählen festgemacht wurden.

Wenn sie sich jetzt beeilten, würden sie wahrscheinlich bereits auf ihren Plätzen sitzen, noch bevor Reverend Thrower mit der Hymne begonnen hatte.

Aber Geschichtentauscher begann nicht damit, den Hügel hinunterzugehen. Er setzte sich einfach auf einen Baumstumpf und fing an, ein Gedicht zu rezitieren. Alvin hörte genau zu, weil Geschichtentauschers Gedichte sehr gescheit und lustig waren.

Ich trat in den Garten der Liebe

Und sah, was ich niemals geschaut:

Dort wo im Grün ich einst spielte

Ward eine Kapelle erbaut.

Die Tore waren verschlossen

Und ›Du sollst nicht‹ stand drüber geschrieben,

Da dreht' ich mich um, schaut’ im Garten

Wo die lieblichen Blumen geblieben.

Und ich sah, daß er war voller Gräber

Und statt Blumen der Grüften Gestein,

Priester in schwarzen Kutten schritten im Kreise umher

Zu Fesseln mit dornigen Strängen all meine Freude und all mein Begehr.

Oh, Geschichtentauscher hatte wirklich ein seltsames Talent, denn noch während er das Gedicht rezitierte, verwandelte sich vor Alvins Augen die ganze Welt. Die Weiden und Bäume sahen aus wie ein einziger Frühlingsruf, von lebhaftem Gelbgrün, mit Zehntausenden von Blüten, und das Weiße der Kapelle in ihrer Mitte leuchtete nicht länger, sondern hatte statt dessen die staubige, kalkige Weißtönung alten Gesteins angenommen. »Zu Fesseln mit dornigen Strängen, all meine Freude und all mein Begehr«, wiederholte Alvin. »Ihr habt wohl nicht viel für Religion übrig;«

»Ich atme die Religion mit jedem Zug«, widersprach Geschichtentauscher. »Ich sehne mich nach Visionen und suche nach den Spuren von Gottes Hand. Doch auf dieser Welt sehe ich mehr Spuren des anderen. Eine Spur aus glitzerndem Schleim, der mich verbrennt, wenn ich ihn berühre. Gott ist dieser Tage ein wenig distanziert, Al Junior, aber Satan fürchtet sich nicht davor, sich zusammen mit der Menschheit im Schlamm zu suhlen.«

»Thrower sagt, seine Kirche ist das Haus Gottes.«

Geschichtentauscher aber saß einfach nur da und sagte ganz lange überhaupt nichts.

Schließlich fragte Alvin ihn geradeheraus: »Habt Ihr in dieser Kirche Teufelsspuren geschaut?«

In den Tagen, da Geschichtentauscher schon bei ihnen gewesen war, hatte Alvin erkannt, daß Geschichtentauscher niemals wirklich log. Aber wenn er nicht auf eine Antwort festgelegt werden wollte, pflegte er ein Gedicht aufzusagen. So verfuhr er auch jetzt.

»O Rose, du bist krank.

Der unsichtbare Wurm

Der flieget in der Nacht

Im heulend’, heftig’ Sturm

Hat deine Bettestatt

Aus Scharlachfreud’ gefunden

Und seine dunkel Lieb’

Dein Leben bald zerschunden.

Alvin hatte keine Geduld mit solch verworrenen Antworten. »Wenn ich etwas hören möchte, was ich nicht verstehen kann, kann ich gleich Isaias lesen.«

»Das ist Musik in meinen Ohren, mein Junge, wenn du mich mit dem größten aller Propheten vergleichst.«

»Kann kein besonders großartiger Prophet sein, wenn kein Mensch ein Wort von dem verstehen kann, was er geschrieben hat.«

»Oder er wollte vielleicht, daß wir alle Propheten werden.«

»Ich habe nicht viel für Propheten übrig«, meint Alvin. »So, wie ich das sehe, sterben sie genauso wie alle anderen auch.«

Das war etwas, was er seinen Vater einmal hatte sagen hören.

»Jeder stirbt irgendwann«, meinte Geschichtentauscher, »aber viele von denen, die gestorben sind, leben in ihren Worten weiter.«

»Worte bleiben nie wirklich«, erwiderte Alvin. »Also wenn ich etwas mache, dann ist es das Ding, das ich gemacht habe. Zum Beispiel, wenn ich einen Korb mache, dann ist das ein Korb. Wenn er zerrissen wird, ist er ein zerrissener Korb. Aber wenn ich Worte sage, dann kann man die völlig verdrehen. Thrower kann dieselben Worte nehmen, die ich gesagt habe, und sie so verdrehen, bis sie das genaue Gegenteil dessen bedeuten, was ich sagte.«

»Sieh es einmal auf andere Weise, Alvin. Wenn du einen Korb herstellst, bleibt es immer nur ein einfacher Korb. Aber wenn du Worte sagst, dann kann man die immer und immer wieder wiederholen, auch tausend Meilen von dem Ort entfernt, wo du sie zum ersten Mal gesagt hast. Worte können die Herzen der Menschen erreichen, aber Dinge sind nie mehr als das, was sie eben sind.«

Alvin hörte dem Geschichtentauscher aufmerksam zu und hatte plötzlich ein seltsames Bild vor Augen: Worte, so unsichtbar wie Luft, die aus Geschichtentauschers Mund kamen und sich von einer Person zur anderen ausbreiteten. Sie wurden immer größer, blieben aber die ganze Zeit unsichtbar.

Dann veränderte sich die Vision plötzlich. Er sah die Worte aus dem Mund des Predigers hervortreten, wie ein Zittern in der Luft, sah sie sich ausbreiten, alles durchdringen — und plötzlich wurde daraus ein Alptraum, der entsetzliche Traum, der ihn heimsuchte, im Wachen oder im Schlafen, und der sein Herz zerdrückte, daß er am liebsten gestorben wäre. Die Welt erfüllte sich mit einem unsichtbaren, bebenden Nichts, das alles durchdrang und auseinanderriß. Alvin konnte es sehen, wie es auf ihn zugerollt kam, wie ein riesiger Ball, der immer größer wurde…

Geschichtentauscher schüttelte ihn, und Alvin öffnete die Augen. Die bebende Luft zog sich allmählich zurück, doch Alvin spürte sie immer noch, ein wenig entfernt, so wachsam wie ein Wiesel, bereit, sofort davonzuflitzen, wenn er den Kopf umwandte.

»Was ist los mit dir, Junge?» fragte Geschichtentauscher. Er sah verängstigt aus.

»Nichts«, sagte Alvin.

»Erzähl mir nicht, daß es nichts ist«, widersprach Geschichtentauscher. »Ich habe gesehen, wie dich plötzlich eine Angst überfiel, als würdest du eine schreckliche Vision schauen.«

»Das war keine Vision«, sagte Alvin. »Ich hatte einmal eine Vision, daher weiß ich das.«

»Ach ja?» fragte Geschichtentauscher. »Was war das denn für eine Vision?«

»Ein leuchtender Mann«, erwiderte Alvin. »Ich habe noch nie jemandem davon erzählt, und ich möchte auch jetzt nicht damit anfangen.«

Geschichtentauscher drang nicht in ihn ein. »Und das, was du jetzt gesehen hast, wenn das keine Vision war — nun, was war es dann?«

»Es war nichts.«

Das war nicht gelogen, aber er wußte auch, daß es keine befriedigende Antwort war. Er wollte allerdings auch nicht antworten. Wann immer er Leuten davon erzählte, machten sie sich nur über ihn lustig, weil er sich wegen eines Nichts anstellte wie ein kleines Kind.

Doch Geschichtentauscher ließ sich mit einer solchen Antwort nicht abspeisen. »Al Junior, ich habe mich schon mein ganzes Leben nach einer wahren Vision gesehnt, und du hast eine geschaut, hier am hellichten Tage. Du mußt etwas Entsetzliches gesehen haben, denn dir stockte der Atem, also erzähl mir jetzt, was es war.«

»Ich habe es Euch erzählt! Es war nichts!«

Und dann, ruhiger: »Es ist nichts, aber ich kann es sehen. Dann wird die Luft richtig zittrig, wo immer sie hingeht.«

»Es ist nichts, aber nicht unsichtbar?«

»Es dringt in alles ein, in die kleinsten Ritzen und reißt alles auseinander. Es zittert und zittert, bis von den Dingen nichts mehr übrig ist als Staub, und dann durchzittert es den Staub, und ich versuche, es abzuhalten, aber es wird größer und größer, es überrollt alles andere, bis es den ganzen Himmel und die ganze Erde ausfüllt.«

Alvin konnte sich nicht mehr beherrschen. Er zitterte vor Kälte, obwohl er so dick eingemummt war wie ein Bär.

»Wie oft hast du das schon gesehen?«

»Seit ich mich erinnern kann. Es überfällt mich dann und wann. Meistens denke ich einfach an andere Dinge, dann bleibt es zurück.«

»Wo?«

»Irgendwo weit entfernt.«

Alvin kniete sich nieder, und dann setzte er sich erschöpft, setzte sich mit seiner Sonntagshose mitten ins feuchte Gras, doch er bemerkte es kaum. »Als Ihr davon gesprochen habt, wie die Worte sich immer und immer weiter ausdehnen, habe ich es wieder gesehen.«

»Ein Traum, der immer wiederkommt, versucht uns die Wahrheit mitzuteilen«, meinte Geschichtentauscher.

Der alte Mann war so eifrig, was diese Sache anging, daß Alvin sich fragte, ob er wirklich begriff, wie grauenerregend sie war. »Das ist nicht eine von Euren Geschichten, Geschichtentauscher.«

»Es wird aber eine werden«, erwiderte Geschichtentauscher, »sobald ich sie verstanden haben.» Geschichtentauscher setzte sich neben ihn und dachte sehr lange schweigend nach. Auch Alvin saß stumm da, verbog mit den Fingern Grashalme. Nach einer Weile wurde er ungeduldig. »Vielleicht könnt Ihr auch nicht alles verstehen«, meinte er. »Vielleicht ist das nur eine Verrücktheit in mir. Vielleicht bekomme ich ja auch bloß irgendwelche Anfälle von Wahnsinn.«

»Da«, sagte Geschichtentauscher, ohne überhaupt zu bemerkten, daß Alvin etwas gesagt hatte. »Jetzt ist mir ein Sinn eingefallen. Laß ihn mich sagen, dann werden wir mal sehen, ob wir daran glauben.«

Alvin schätzte es nicht, ignoriert zu werden. »Oder vielleicht bekommt Ihr Wahnsinnsanfälle, habt Ihr darüber schon einmal nachgedacht, Geschichtentauscher?«

Geschichtentauscher wischte Alvins Zweifel beiseite. »Das ganze Universum ist nur ein Traum in Gottes Geist, und solange er schläft, glaubt er daran und die Dinge bleiben wirklich. Was du siehst, das ist Gott, wie er aufwacht, wie er ganz langsam aufwacht und wie sein Wachsein sich durch den Traum zieht, das Universum auflöst, bis er sich schließlich aufsetzt, die Augen reibt und sagt: ›Oh, was für ein Traum, ich wünschte, ich könnte mich noch an ihn erinnern‹, und in diesem Augenblick sind wir alle verschwunden.«

Begierig sah er Alvin an. »Wie war das?«

»Wenn Ihr das glauben solltet, Geschichtentauscher, dann seid Ihr wirklich ein verdammter Narr, genau wie Brustwehr Weaver es sagt.«

»Ach, das sagt er, ja?«

Plötzlich ließ Geschichtentauscher die Hand hervorschießen und packte Alvin am Handgelenk. Alvin war so überrascht davon, daß er fallenließ, was er eben noch gehalten hatte. »Nein! Heb es auf! Schau dir an, was du getan hast!«

»Ich habe nur ein bißchen herumgefummelt, herrje!«

Geschichtentauscher griff hinunter und nahm auf, was Alvin hatte fallenlassen. Es war ein winziger Korb, kaum ein Zoll im Durchmesser, aus Herbstgräsern gefertigt. »Gerade hast du das hier gemacht.«

»Ich schätze, schon«, meinte Alvin.

»Warum hast du es getan?«

»Ich habe es einfach nur gemacht.«

»Du hast nicht einmal darüber nachgedacht?«

»Es ist ja nicht gerade ein großartiger Korb. Ich habe sie früher für Cally gemacht. Damals hat er sie Käferkörbe genannt. Sie fallen ziemlich schnell wieder auseinander.«

»Du hast eine Vision von nichts gehabt, und dann mußtest du etwas machen.«

Alvin musterte den Korb. »Wird wohl so sein.«

»Machst du das immer?«

Alvin dachte an die anderen Zeiten zurück, da er die zitternde Luft wahrgenommen hatte. »Ich mache immer irgendwelche Dinge«, erwiderte er. »Hat nicht viel zu bedeuten.«

»Aber du fühlst dich erst dann wieder in Ordnung, wenn du etwas gemacht hast. Nachdem du die Vision des Nichts geschaut hast, findest du erst wieder zu deinem Frieden, nachdem du etwas gefertigt hast.«

»Vielleicht muß ich es einfach nur abarbeiten.«

»Nicht einfach nur arbeiten, nicht wahr, Junge? Holzhacken würde das nicht für dich bringen, Eiersammeln, Wasserschleppen, Heumähen, all das erleichtert dich nicht.«

Nun begann Alvin das Muster zu erkennen, das Geschichtentauscher entdeckt hatte. Es stimmte, soweit er sich zurückerinnern konnte. Er war manchmal nach einem solchen Traum in der Nacht aufgewacht und war seiner eigenen Unruhe nicht mehr Herr geworden, bis er irgendeine Webarbeit erledigt, einen Heuhaufen aufgestapelt oder aus Getreideresten für eine der Basen eine Puppe gebastelt hatte. Ebenso, wenn die Vision ihn bei Tag heimsuchte — dann konnte er keine gewöhnliche Arbeit mehr ordentlich verrichten, bevor er nicht etwas erschaffen hatte, das zuvor nicht dagewesen war, und wenn es nicht mehr sein mochte als ein Steinhaufen.

»Es stimmt doch, nicht wahr? Du tust das jedesmal, nicht wahr?«

»Meistens.«

»Dann will ich dir den Namen des Nichts nennen. Es ist der Entmacher.«

»Nie davon gehört«, meinte Alvin.

»Ich auch nicht, bis jetzt. Das liegt daran, weil es gerne im geheimen bleibt. Es ist der Feind all dessen, was existiert. Es möchte alles nur in Stücke hauen und diese Stücke wiederum in andere Stücke, bis überhaupt nichts mehr übrigbleibt.«

»Wenn man etwas in Stücke haut und aus diesen Stücken weitere macht, dann bekommt man aber nicht nichts«, wandte Alvin ein. »Dann hat man einfach nur haufenweise kleine Stücke.«

»Halt den Mund und hör dir die Geschichte an«, meinte Geschichtentauscher.

Alvin war es gewohnt, daß man so barsch mit ihm redete, daher verwunderte ihn dieser Ton des alten Mannes nicht sonderlich.

»Ich spreche hier nicht von Gut und Böse«, fuhr Geschichtentauscher fort. »Nicht einmal der Teufel könnte es sich leisten, hier alles zu zerstören, nicht wahr, sonst würde er nämlich aufhören zu existieren, genau wie alles andere. Die bösesten Kreaturen wollen nicht etwa alles vernichten — sie wollen es nur für sich ausbeuten.«

Alvin hatte das Wort ausbeuten noch nie gehört, doch es klang ziemlich unangenehm.

»Daher sollten in dem großen Krieg zwischen dem Entmacher und allem anderen Gott und der Teufel auf derselben Seite kämpfen. Doch der Teufel, der weiß das nicht, so daß er allzu häufig dem Entmacher dient.«

»Wollt Ihr damit sagen, daß der Teufel sich selbst schlagen will?«

»Meine Geschichte handelt nicht vom Teufel«, sagte Geschichtentauscher. »Im großen Krieg gegen den Entmacher in deiner Vision sollten alle Männer und alle Frauen auf der Welt Verbündete sein. Doch der große Feind bleibt unsichtbar, so daß niemand merkt, wenn er ihm ungewollt dient. Sie erkennen nicht, daß der Krieg der Verbündete des Entmachers ist, weil er alles niederreißt, was er berührt. Sie verstehen nicht, daß Feuer, Mord, Verbrechen, Habgier und Wollust die dünnen Bande zerreißen, die Menschen zu Völkern, Städten, Familien, Freunden und Seelen machen.«

»Ihr müßt wohl doch ein richtiger Prophet sein«, meinte Alvin Junior, »ich verstehe nämlich nichts von dem, was Ihr da sagt.«

»Ein Prophet«, murmelte Geschichtentauscher, »aber es waren deine Augen, die gesehen haben. Jetzt erkenne ich die Qual des Aaron: die Wahrheit sprechen zu müssen, ohne jedoch jemals eine eigene Vision zu haben.«

»Ihr macht aber ziemlich viel aus meinen Alpträumen.«

Geschichtentauscher schwieg, er saß am Boden, die Ellenbogen auf die Knie gestemmt, das Kinn völlig niedergeschlagen auf die Handflächen gestützt. Alvin versuchte zu begreifen, wovon der Mann sprach. Es war ganz sicher, daß das, was er in seinen schlimmen Träumen sah, kein Ding war, also mußte es dichterisches Gerede sein, vom Entmacher zu sprechen wie von einer Person. Aber vielleicht stimmte es ja, vielleicht war der Entmacher nicht irgend etwas, das er sich nur einbildete, sondern existierte wirklich, und vielleicht war Al Junior der einzige Mensch, der ihn sehen konnte. Vielleicht drohte der Welt eine schreckliche Gefahr, und vielleicht war es Alvins Aufgabe, sie abzuwehren, sie zurückzuschlagen, das Ding im Zaum zu halten. Ganz gewiß war, daß Alvin es nicht ertrug, wenn der Traum ihn heimsuchte, daß er ihn vertreiben wollte. Doch nie wußte er, wie er das tun konnte.

»Angenommen, ich glaube Euch«, sagte Alvin. »Angenommen, es gibt so etwas wie den Entmacher. Dann kann ich doch nicht die geringste verdammte Sache dagegen tun.«

Ein langsames Lächeln zog sich über Geschichtentauschers Gesicht. Er hob den kleinen Käferkorb auf, der im Gras lag. »Sieht das hier wie eine verdammte Sache aus?«

»Das ist nur ein Haufen Gras.«

»Es war einmal ein Haufen Gras«, widersprach Geschichtentauscher. »Und wenn du es wieder auseinanderrupfst, wird es wieder ein Haufen Gras sein. Aber jetzt, hier und jetzt, ist es mehr als das.«

»Nur ein kleiner Käferkorb.«

»Etwas, das du gemacht hast.«

»Na ja, von allein wächst Gras bestimmt nicht so.«

»Und als du es gemacht hast, da hast du den Entmacher zurückgeschlagen.«

»Nicht weit«, meinte Alvin.

»Nein«, stimmte Geschichtentauscher ihm zu. »Aber durch das Machen eines einzigen Käferkorbs hast du ihn zurückgeschlagen.«

Plötzlich wurde Alvin alles klar. Die ganze Geschichte, die Geschichtentauscher zu erzählen versuchte. Alvin kannte alle möglichen Gegensätze auf der Welt: Gut und Böse, Licht und Dunkelheit, Freiheit und Sklaverei, Liebe und Haß. Aber einen noch viel tieferen Gegensatz gab es zwischen dem Machen und dem Entmachen. So tief, daß kaum jemand bemerkte, daß dies der größte Gegensatz von allen war. Aber er bemerkte es, und das machte den Entmacher zu seinem Feind. Deshalb suchte der Entmacher ihn im Schlaf heim. Schließlich besaß Alvin ja sein besonderes Talent, Dinge in Ordnung zu bringen, sie in jenen Zustand zu versetzen, in dem sie sein sollten.

»Ich glaube, meine richtige Vision handelte von derselben Sache«, meinte Alvin.

»Du brauchst mir nicht von dem leuchtenden Mann zu erzählen«, warf Geschichtentauscher ein. »Ich möchte dich nicht ausspionieren.«

»Ihr meint, daß Ihr immer nur zufällig spioniert?» fragte Alvin.

Für eine solche Bemerkung hätte er Zuhause eine Ohrfeige bekommen, doch Geschichtentauscher lachte nur.

»Ich habe etwas Böses getan und wußte es nicht einmal«, erzählte Alvin. »Der leuchtende Mann kam und blieb am Fußende meines Bettes stehen und zeigte mir erst eine Vision von dem, was ich getan hatte, damit ich wußte, daß es böse war. Ich kann Euch sagen, ich habe geweint, weil ich erkannte, wie böse ich gewesen war. Doch dann zeigte er mir, wofür mein Talent gedacht ist, und nun sehe ich, daß es dieselbe Sache ist, von der Ihr sprecht. Ich habe einen Stein gesehen, den ich aus einem Berg zog; er war rund wie eine Kugel, und als ich näher hinsah, entdeckte ich, daß es die ganze Welt war, mit Wäldern, Bergen und Tieren. Dafür ist mein Talent gedacht, um zu versuchen, die Dinge in Ordnung zu bringen.«

Geschichtentauschers Augen glitzerten. »Der leuchtende Mann hat dir eine solche Vision gezeigt«, sagte er. »Eine solche Vision, für die ich selbst mein Leben hergeben würde.«

»Nur weil ich mein Talent benutzt habe, um anderen zu schaden, nur für mein eigenes Vergnügen«, erklärte Alvin. »Damals habe ich das feierliche Versprechen abgelegt, Talent niemals für mich selbst zu verwenden, sondern immer nur für andere.«

»Ein gutes Versprechen«, meinte Geschichtentauscher. »Ich wünschte, alle Männer und alle Frauen auf der Welt würden einen solchen Eid leisten und ihn auch halten.«

»Jedenfalls weiß ich daher, daß er… der Entmacher keine Vision ist. Nicht einmal der leuchtende Mann war eine Vision. Was er mir gezeigt hat, das war eine Vision, aber wie er dort stand, war er wirklich.«

»Und der Entmacher?«

»Er ist da. Ich bilde mir ihn nicht nur ein.«

Geschichtentauscher nickte, ohne den Blick von Alvin zu nehmen.

»Ich muß Dinge machen«, sagte Alvin. »Schneller, als er sie zerstören kann.«

»So schnell kann niemand Dinge machen«, wandte Geschichtentauscher ein. »Wenn alle Menschen auf der Welt aus aller Erde viele, viele Millionen Ziegel machten und jeden Tag ihres Lebens an einer Mauer bauten, dann würde die Mauer schneller zerbröckeln, als sie sie bauen könnten. Manche Teile der Mauer würden sogar schon zusammenbrechen, bevor sie sie erbaut haben.«

»Aber eine Mauer kann doch nicht zusammenbrechen, bevor man sie überhaupt gebaut hat«, widersprach Alvin.

»Wenn die Menschen lange genug arbeiten, zerbröckeln die Ziegel zu Staub, wenn sie sie aufnehmen, verfaulen ihre eigenen Hände und tropfen wie Schleim von ihren Knochen herab, bis Ziegel und Fleisch und Knochen sich gleichermaßen in Staub auflösen. Dann wird der Entmacher niesen, und der Staub wird sich so unendlich weit verteilen, daß er niemals wieder zusammenfinden kann. Dann wird das Universum kalt sein, stumm, still, dunkel, und der Entmacher hat endlich zur Ruhe gefunden.«

Alvin versuchte in Geschichtentauschers Worten einen Sinn zu erkennen. Genauso verwirrt war er, wann immer Thrower in der Schule über Religion sprach. Er konnte nicht anders, er mußte seine Fragen stellen, auch wenn so etwas die Leute oft böse machte. »Wenn die Dinge schneller auseinanderbrechen, als sie erschaffen werden, wie kommt es dann, daß überhaupt noch etwas da ist? Warum hat der Entmacher nicht schon längst gewonnen? Was tun wir dann hier?«

Geschichtentauscher war nicht Reverend Thrower. Alvins Frage machte ihn nicht zornig. Er zog nur die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Du hast recht. Dann könnten wir gar nicht hier sein. Dann wäre unsere Existenz unmöglich.«

»Na, wir sind aber hier, falls Euch das noch nicht aufgefallen sein sollte«, meinte Alvin. »Was ist das für eine dumme Geschichte, wenn wir einander bloß anschauen müssen, um zu erkennen, daß sie nicht wahr ist?«

»Ich gebe zu, daß sie ihre Probleme mit sich bringt.«

»Ich dachte, Ihr würdet immer nur Geschichten erzählen, die Ihr glaubt.«

»Während ich sie erzählte, habe ich auch daran geglaubt.«

Geschichtentauscher sah so traurig aus, daß Alvin die Hand ausstreckte und sie dem Mann auf die Schulter legte, obwohl sein Mantel so dick war und Alvins Hand so klein, daß er sich nicht sicher war, ob Geschichtentauscher es überhaupt spürte. »Ich habe sie auch geglaubt. Zumindest, eine Weile.«

»Dann ist auch etwas Wahrheit darin. Vielleicht nicht viel, aber etwas.«

Geschichtentauscher sah erleichtert aus.

Doch Alvin konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. »Nur weil Ihr es glaubt, muß es noch nicht so sein.«

Geschichtentauschers Augen weiteten sich. Jetzt habe ich es geschafft, dachte Alvin. Jetzt habe ich ihn so zornig gemacht, wie ich Thrower immer zornig mache. Daher war er nicht überrascht, als Geschichtentauscher ihm beide Arme entgegenstreckte, Alvins Gesicht zwischen die Hände nahm und mit solcher Kraft zu ihm sprach, daß sich die Worte tief in Alvins Stirn eingruben. »Alles, was zu glauben möglich ist, ist auch ein Abbild der Wahrheit.«

Und diese Worte durchfuhren ihn tatsächlich; er verstand sie, obwohl er nicht ausdrücken konnte, was genau er verstand. Alles, was zu glauben möglich ist, ist auch ein Abbild der Wahrheit, zumindest liegt etwas Wahres darin. Und wenn ich es im Geiste durchgehe, dann kann ich vielleicht feststellen, was daran wahr ist und was falsch…

Alvin erkannte noch etwas anderes: All seine Streitgespräche mit Thrower liefen auf eines hinaus, nämlich daß Alvin, wenn ihm etwas nicht einleuchte, nicht daran glaubte, und dann konnten ihn auch noch soviele Zitate aus der Bibel nicht überzeugen. Geschichtentauscher sagte ihm gerade, daß er im Recht war, sich zu weigern, an Dinge zu glauben, die keinen Sinn ergaben. »Geschichtentauscher, soll das heißen, daß das, was ich nicht glaube, auch nicht wahr sein kann?«

Geschichtentauscher hob die Augenbrauen und antwortete wieder mit einem Sprichwort. »Die Wahrheit kann nie so erzählt werden, daß sie verstanden wird, ohne geglaubt zu werden.«

Alvin war die Sprichworte leid. »Würdet Ihr mir ausnahmsweise einmal geradeheraus antworten!«

»Das Sprichwort ist die Wahrheit, Junge. Ich weigere mich, an ihm herumzudeuteln, nur damit es einem verwirrten Geist entspricht.«

»Na, wenn mein Geist verwirrt ist, dann ist das alles Eure Schuld. Euer ganzes Gerede von Ziegelsteinen, die schon zerbröckeln, noch bevor die Mauer erbaut wurde…«

»Hast du das denn nicht geglaubt?«

»Vielleicht habe ich es geglaubt. Ich schätze, wenn ich versuchen sollte, das ganze Gras dieser Weide zu Käferkörben zu flechten, dann würde das Gras wahrscheinlich abgestorben und zu Nichts verfault sein, bevor ich am anderen Ende angelangt wäre. Ich schätze, wenn ich alle Bäume von hier bis zum Noisy River in Scheunen verwandeln wollte, dann wären die Bäume alle tot und umgestürzt, bevor ich jemals den letzten erreicht hätte. Man kann kein Haus aus verfaulten Stämmen bauen.«

»Ich wollte gerade sagen: ›Menschen können nichts Dauerhaftes aus vergänglichen Teilen bauen.‹ Das ist das Gesetz. Aber so, wie du es ausgedrückt hast, lautet das Sprichwort des Gesetzes: ›Man kann kein Haus aus verfaulten Stämmen bauen. ‹«

»Ich habe ein Sprichwort gesagt?«

»Und wenn wir nach Hause zurückgekehrt sind, dann schreibe ich es in mein Buch.«

»In den versiegelten Teil?» fragte Alvin. Dann fiel ihm ein, daß er dieses Buch nur einmal gesehen hatte, als er spät in der Nacht durch eine Bodenritze nach unten geblickt hatte, wo Geschichtentauscher im Zimmer unter ihm bei Kerzenlicht geschrieben hatte.

Geschichtentauscher blickte ihn scharf an. »Ich hoffe, daß du niemals versucht hast, dieses Siegel aufzuzaubern.«

Alvin war beleidigt. Er mochte ja durch Ritzen spähen, aber schnüffeln tat er nie. »Zu wissen, daß Ihr nicht wollt, daß ich diesen Teil lese, ist besser als jedes dämliche Siegel, und wenn Ihr das nicht wißt, dann seid Ihr auch nicht mein Freund. Ich schnüffle nicht in Euren Geheimnissen.«

»Meinen Geheimnissen?«

Geschichtentauscher lachte. »Ich versiegle diesen Teil, weil ich dort selbst hineinschreibe und einfach nicht möchte, daß andere in diesen Teil des Buchs schreiben.«

»Schreiben andere denn in den vorderen Teil?«

»Ja, das tun sie.«

»Na, was schreiben sie denn? Kann ich auch etwas reinschreiben?«

»Sie schreiben einen Satz über das Wichtigste, was sie jemals getan oder mit eigenen Augen gesehen haben. Dieser eine Satz ist alles, was ich benötige, um mich an ihre Geschichte erinnern zu können. Wenn ich also in eine andere Stadt komme, in ein anderes Haus, dann kann ich das Buch öffnen, den Satz lesen und die Geschichte erzählen.«

Alvin fiel etwas ein: Geschichtentauscher hatte doch mit Ben Franklin zusammengelebt. »Hat Ben Franklin auch in Euer Buch geschrieben?«

»Er hat sogar den allerersten Satz hineingeschrieben.«

»Er hat das Wichtigste hineingeschrieben, was er je getan hat?«

»Das hat er.«

»Nun, was war es denn?«

Geschichtentauscher erhob sich. »Komm mit mir zurück ins Haus, mein Junge, dann zeige ich es dir. Und unterwegs erzähle ich dir die Geschichte, um zu erklären, was er geschrieben hat.«

Alvin sprang auf und zerrte den alten Mann förmlich zu dem Pfad hinüber, der zurück zum Haus führte. »Dann kommt!«

Alvin wußte nicht, ob Geschichtentauscher beschlossen hatte, nicht in die Kirche zu gehen, oder ob er es einfach nur vergessen hatte — was immer auch der Grund war, Alvin war mit dem Verlauf des Vormittags mehr als zufrieden. Ein Sonntag ohne Kirche, das war ein Sonntag, den es zu leben lohnte. Wenn man dem noch Geschichtentauschers Geschichten und die eigene Handschrift des Machers Ben in einem Buch hinzuzählte, war es ein wahrhaft vollkommener Tag.

»Wir sind nicht in Eile, Junge. Ich werde schon nicht vor dem Mittag sterben, und du auch nicht, und Geschichten brauchen ihre Zeit, um erzählt zu werden.«

»War es etwas, was er gemacht hat?» fragte Alvin. »Die wichtigste Sache?«

»Tatsächlich war es das.«

»Ich wußte es doch! Die Zwei Gläser-Brille? Der Ofen?«

»Die Leute haben immer zu ihm gesagt, Ben, du bist ein wirklicher Macher. Aber er hat es immer bestritten. So wie er bestritten hat, daß er ein Zauberer sei. Ich habe kein Talent für die geheimen Mächte, hat er gesagt. Ich nehme einfach nur Stücke von Dingen und füge sie auf eine bessere Weise zusammen. Es gab auch schon Öfen, bevor ich meinen Ofen gemacht habe. Es gab Brillen, bevor ich meine Brille schuf. Ich habe niemals wirklich etwas erschaffen, wie es ein wirklicher Macher, ein Schöpfer täte. Ich gebe Euch Brillen mit zwei Gläsern, aber ein Macher würde Euch neue Augen geben.«

»Er meinte, daß er niemals irgend etwas gemacht hätte?«

»Das habe ich ihn auch eines Tages gefragt. Am selben Tag, da ich mit meinem Buch anfing. Ich habe zu ihm gesagt: ›Ben, was ist das Wichtigste, was Ihr je gemacht habt?‹ Und dann fing er so an, wie ich es gerade erzählt habe, daß er niemals wirklich etwas mache, und ich sagte zu ihm: ›Ben, das glaubt Ihr selbst nicht, und ich glaube es auch nicht.‹ Und da sagte er: ›Bill, du hast mich durchschaut. Es gibt tatsächlich etwas, was ich gemacht habe, und es ist das Wichtigste, was ich jemals getan habe!«

Geschichtentauscher verstummte, schlurfte den Abhang hinab durch hohes Laub, das unter seinen Füßen laut flüsterte.

»Nun, was war es denn?«

»Willst du nicht lieber warten, bis du nach Hause gekommen bist und es selbst lesen kannst?«

Alvin wurde wütend. »Ich hasse es, wenn Leute etwas wissen und es nicht sagen wollen!«

»Kein Grund, die Fassung zu verlieren, Junge. Ich werde es dir sagen. Was er geschrieben hat, war folgendes: Das einzige, was ich jemals wirklich gemacht habe, waren Amerikaner.«

»Das ergibt doch keinen Sinn. Amerikaner werden geboren.«

»Nein, ganz so ist es nicht, Alvin. Babys werden geboren. In England genauso wie in Amerika. Es ist also nicht die Geburt, die sie zu Amerikanern macht.«

Darüber dachte Alvin einen Augenblick nach. »Es geht darum, in Amerika geboren zu werden.«

»Nun, das stimmt schon. Aber bis vor ungefähr fünfzig Jahren hat man ein Baby, das in Philadelphia geboren wurde, niemals ein amerikanisches Baby genannt. Es war ein pennsylvanisches Baby. Und Babys in New Amsterdam waren Knickerbocker, und Babys in Boston waren Yankees, und Babys in Charleston waren Jakobiter oder Cavaliers oder irgend so etwas.«

»Das sind sie immer noch«, wandte Alvin ein.

»Das sind sie in der Tat, mein Junge, aber außerdem sind sie noch etwas anderes. All diese Namen, überlegte sich der Alte Ben, teilen uns in Weiße, Rote und Schwarze, in Puritaner und Presbyterianer, in Holländer, Schweden, Franzosen und Engländer. Der Alte Ben hat gesehen, wie ein Weißer Mann niemals einem Roten ganz traute, einfach nur weil sie anders waren. Und er hat sich gefragt, wenn wir all diese Namen haben, die uns voneinander trennen, warum sollten wir dann nicht auch einen Namen haben, der uns miteinander verbindet? Er hat mit einer Menge Namen gespielt, die bereits in Gebrauch waren. Koloniale, zum Beispiel. Aber er mochte es nicht, uns alle Koloniale zu nennen, denn damit hätten wir den Blick immer zurück nach Europa gewandt, und außerdem sind die Roten doch gar keine Kolonialen.«

»Er wollte einen Namen, den wir alle gleichermaßen tragen konnten«, meinte Alvin.

»Ganz genau. Und es gab eine Sache, die wir alle gemeinsam hatten. Wir lebten alle auf demselben Kontinent. Nordamerika. Also dachte er daran, uns Nordamerikaner zu nennen. Aber das war zu lang. Daher…«

»Amerikaner.«

»Das ist ein Name, der zu jedem Fischer gehört, der an der zerklüfteten Küste von West Anglia lebt, ebensosehr wie zu einem Baron, der im südwestlichen Teil von Dryden über seine Sklaven herrscht. Er eignet dem Mohikanerhäuptling in Irrakwa ebenso wie dem Knickerbockerkaufmann in New Amsterdam. Der Alte Ben wußte, daß wir einmal ein Volk werden würden, wenn die Leute erst einmal anfingen, sich als Amerikaner zu sehen. Nicht einfach nur als Teil irgendeines müden, alten europäischen Landes, sondern als einzige neue Nation hier in einem neuen Land. Also begann er damit, dieses Wort in allem zu verwenden, das er schrieb. Der Poor Richard's Almanac war voller Aussagen über Amerikaner hier und Amerikaner dort. Und der Alte Ben schrieb an jedermann Briefe, in denen er Dinge sagte wie: Streit über Landansprüche ist ein Problem, das Amerikaner gemeinsam lösen müssen. Europäer können unmöglich begreifen, was Amerikaner zum Leben brauchen. Warum sollten Amerikaner für europäische Kriege sterben? Warum sollten Amerikaner an unseren Gerichtshöfen an europäische Präzedenzfälle gebunden sein? Innerhalb von fünf Jahren gab es kaum noch einen Menschen von New England bis Jacobia, der sich nicht zumindest teilweise als Amerikaner fühlte.«

»Aber das war doch nur ein Name.«

»Aber der Name, mit dem wir uns alle bezeichnen. Und dazu gehören alle anderen auf diesem Kontinent, die bereit sind, den Namen anzunehmen. Der Alte Ben hat hart dafür gearbeitet, um sicherzugehen, daß dieser Name so viele Leute wie möglich einschloß. Ohne jemals ein anderes öffentliches Amt als das des Postmeisters innezuhaben, hat er ganz allein einen Namen in eine Nation verwandelt. Angesichts des Königs, der im Süden über die Cavaliers herrschte, und der Männer des Lordprotektors, die im Norden New England regierten, sah er vor sich nichts als Chaos und Krieg mit Pennsylvania als Krisenherd. Er wollte diesen Krieg verhindern, und er benutzte den Namen ›Amerikaner‹, um ihn abzuwehren. So brachte er die New Englander dazu, Pennsylvania nicht zu verärgern, und er bewegte die Cavaliers dazu, ungemeine Anstrengungen zu unternehmen, um pennsylvanische Unterstützung zu gewinnen. Er war es, der für einen amerikanischen Kongreß agitierte, der die Handelspolitik und ein einheitliches Landrecht bestimmen sollte.

Und schließlich«, fuhr Geschichtentauscher fort, »kurz bevor er mich einlud, von England herüberzukommen, schrieb er den Amerikanischen Pakt und brachte die sieben ursprünglichen Kolonien dazu, ihn zu unterschreiben. Das war nicht einfach, mußt du wissen — sogar die Anzahl der Staaten war ein großer Streitpunkt. Die Holländer sahen, daß die meisten Einwanderer in Amerika Engländer, Iren und Schotten waren, und sie wollten nicht geschluckt werden — daher gestattete der Alte Ben es ihnen, New Netherland in drei Kolonien zu unterteilen, damit sie mehr Stimmen im Kongreß besaßen. Als dann Suskwahenny sich von dem Territorium abspaltete, das von New Sweden und Pennsylvania beansprucht wurde, löste sich damit ein weiterer Konflikt auf.«

»Das sind aber erst sechs Staaten«, wandte Alvin ein.

»Der Alte Ben gestattete es niemandem, den Pakt zu unterzeichnen, es sei denn, daß Irrakwa als siebter Staat miteingeschlossen wurde, und zwar mit festgesetzten Grenzen, wo die Roten sich selbst regieren konnten. Es gab sehr viele Menschen, die nur eine Weiße Nation haben wollten, doch der Alte Ben wollte nichts davon hören. Die einzige Möglichkeit, Frieden zu erhalten, so sagte er, bestand darin, daß alle Amerikaner sich zusammenfanden. Deshalb gestattet sein Pakt auch keine Sklaverei oder auch nur Leibeigenschaft. Deshalb duldet sein Pakt es nicht, daß irgendeine Religion mehr Bedeutung haben soll als eine andere. Deshalb läßt es sein Pakt nicht zu, daß die Regierung eine Druckerpresse schließen oder einen Redner zum Schweigen bringen darf. Weiße, Schwarze und Rote; Papisten, Puritaner und Presbyterianer; Reiche, Arme, Bettler, Diebe — wir alle leben unter denselben Gesetzen. Eine Nation aus einem einzigen Wort erschaffen.«

»Amerikaner.«

»Verstehst du jetzt, warum er es als seine größte Tat bezeichnet hat?«

»Wie kommt es, daß der Pakt selbst nicht wichtiger ist?«

»Der Pakt, das waren nur die Worte. Der Name ›Amerikaner‹ war die Idee, die die Worte schuf.«

»Er umfaßt immer noch nicht die Yankees und die Cavaliers, und den Krieg hat er auch nicht verhindert, denn die Leute von Appalachee kämpfen noch immer gegen den König.«

»Aber er umschließt doch all diese Leute, Alvin. Erinnerst du dich an die Geschichte von George Washington in Shenandoah? Damals war er Lord Potomac, der die größte Armee des Königs Robert gegen den armseligen Lumpenhaufen anführte, der alles war, was Ben Arnold geblieben war. Es war ganz klar, daß Lord Potomacs Cavaliers am Morgen die kleine Festung stürmen und damit Tom Jeffersons Rebellion den Todesstoß versetzen würde. Aber Lord Potomac hatte in den Kriegen gegen die Franzosen an der Seite von Jeffersons Leuten gekämpft. Und Tom Jefferson war früher sein Freund gewesen. In der Tiefe seines Herzens ertrug er es nicht, an die morgige Schlacht zu denken. Wer war schon König Robert, daß seinetwegen soviel Blut vergossen werden sollte? Alles, was diese Rebellen wollten, war, ihr eigenes Land zu besitzen, und sie wollten, daß der König ihnen keine Barone vorsetzte, sie mit Steuern auspumpen und ebenso sicher in Sklaven verwandeln konnte, wie jeden Schwarzen in den Kronkolonien. In dieser Nacht hat er überhaupt nicht geschlafen.«

»Er hat gebetet«, sagte Alvin.

»Ja, das erzählt Thrower uns«, erwiderte Geschichtentauscher scharf. »Aber niemand weiß es wirklich. Und als er am nächsten Tag zu den Truppen sprach, hat er kein Wort übers Beten verloren. Aber er hat tatsächlich über das Wort gesprochen, das Ben Franklin erschuf. Er schrieb einen Brief an den König, in dem er von seinem Kommando zurücktrat und all sein Land und seine Titel aufgab. Er unterzeichnete ihn nicht als ›Lord Potomac‹, er unterzeichnete ihn als ›George Washington‹. Dann stand er am Morgen auf und stellte sich vor die Blauröcke des Königs und sagte ihnen, was er getan hatte und daß es ihre freie Wahl sei, ob sie ihren Offizieren gehorchen und in die Schlacht ziehen oder statt dessen zur Verteidigung von Tom Jeffersons großer Freiheitserklärung losmarschieren wollten. Er sagte: ›Die Wahl liegt bei euch, aber was mich betrifft…‹«

Alvin kannte die Worte, wie sie jeder Mann, jede Frau und jedes Kind auf dem Kontinent kannte. Nun bedeuteten ihm die Worte um so mehr, und er brüllte sie laut hervor: »›Mein amerikanisches Schwert wird niemals einen Tropfen amerikanisches Blut vergießen!‹«

»Und dann, als der größte Teil seiner Armee hingegangen war, um sich den Rebellen von Appalachee anzuschließen, mit ihren Gewehren und ihrem Pulver, ihren Wagen und ihren Vorräten, befahl er dem obersten Offizier der Männer, die dem König treu ergeben geblieben waren, ihn zu verhaften. ›Ich habe meinen Eid auf den König gebrochen‹, sagte er. ›Wohl geschah es um einer höheren Sache willen, dennoch habe ich meinen Eid gebrochen und werde den Preis für meinen Verrat zahlen.‹ Und bezahlt hat er, jawohl, bezahlt mit einer Klinge durch seinen Hals. Doch wie viele Menschen außerhalb des Königshofs glauben, daß es wirklich Verrat gewesen sei?«

»Kein einziger«, erwiderte Alvin.

»Und hat der König seitdem auch nur eine einzige Schlacht gegen die Appalachees schlagen können?«

»Keine einzige.«

»Kein einziger Mann auf jenem Schlachtfeld in Shenandoah war ein Bürger der Vereinigten Staaten. Nicht einer von ihnen lebte unter dem Amerikanischen Pakt. Und doch, als George Washington von amerikanischen Schwertern und amerikanischem Blut sprach, da verstanden die diesen Namen so, daß er sie selbst bezeichnete. Und nun sage mir etwas, Alvin Junior, hatte der Alte Ben etwa unrecht, als er sagte, daß das Größte, was er jemals erschaffen hatte, ein einziges Wort war?«

Alvin hätte geantwortet, doch in diesem Augenblick betraten sie die Veranda des Hauses, und die Tür schwang auf, und Ma stand vor ihnen. Ihre Miene sagte Alvin, daß er in Schwierigkeiten geraten würde, und er wußte auch weshalb.

»Ich wollte wirklich in die Kirche gehen, Ma!«

»Viele tote Leute wollten in den Himmel gehen«, erwiderte sie, »und sind auch nicht dort angekommen.«

»Es war meine Schuld, Goody Faith«, warf Geschichtentauscher ein.

»Das war es ganz bestimmt nicht, Geschichtentauscher«, sagte sie.

»Wir haben uns unterhalten, Goody Faith, und ich fürchte, ich habe den Jungen abgelenkt.«

»Dieser Junge wurde schon abgelenkt geboren«, sagte Ma, ohne den Blick von Alvins Gesicht zu nehmen. »Er schlägt seinem Vater nach. Wenn man ihn nicht anschirrt und sattelt und zur Kirche reitet, kommt er nie dort an, und wenn man seine Füße nicht an den Kirchenboden festnagelt, ist er in der nächsten Minute schon wieder aus der Tür verschwunden. Ein zehnjähriger Junge, der den Herrn haßt, das ist genug, um seine Mutter sich wünschen zu lassen, daß er nie geboren worden wäre.«

Die Worte trafen Alvin Junior mitten ins Herz.

»Das ist ein schrecklicher Wunsch«, sagte Geschichtentauscher. Seine Stimme war ganz leise, und schließlich richtete Ma ihren Blick auf das Gesicht des alten Mannes.

»Ich wünsche es auch nicht«, sagte sie schließlich.

»Es tut mir leid, Mama«, sagte Alvin Junior.

»Kommt herein«, sagte sie. »Ich bin aus der Kirche gegangen, um euch zu suchen, und jetzt ist nicht mehr genug Zeit, um noch vor Ende der Predigt wieder dort zu sein.«

»Wir haben über sehr viele Dinge gesprochen, Mama«, erzählte Alvin. »Über meine Träume und Ben Franklin und…«

»Die einzige Geschichte, die ich von dir hören will«, antwortete Ma, »ist der Klang einer gesungenen Hymne. Wenn du schon nicht in die Kirche gehst, dann wirst du dich in der Küche zu mir setzen und mir Hymnen vorsingen, während ich das Essen mache.«

So bekam Alvin den Satz des Alten Ben in Geschichtentauschers Buch vorläufig nicht zu sehen. Ma ließ ihn bis zum Abendessen singen und arbeiten, und nach dem Essen blieben Pa und die großen Jungen und Geschichtentauscher sitzen, um die morgige Expedition zu planen, mit der sie einen Mühlstein vom Granitberg holen wollten.

»Das tue ich für Euch«, sagte Pa zu Geschichtentauscher, »also solltet Ihr besser mitkommen.«

»Ich habe Euch nie darum gebeten, einen Mühlstein zu beschaffen.«

»Seit Ihr hier seid, ist kein Tag vergangen, da Ihr nicht etwas darüber gesagt hättet, welch eine Schande es doch sei, daß eine solch prächtige Mühle nur als Heuschober dient, wo die Leute hier doch gutes Mehl brauchen.«

»Soweit ich mich erinnern kann, habe ich das nur einmal gesagt.«

»Nun, vielleicht«, erwiderte Pa, »aber jedes Mal, wenn ich Euch erblicke, muß ich an diesen Mühlstein denken.«

»Das liegt ja nur daran, weil Ihr Euch wünscht, daß der Mühlstein dagewesen wäre, als Ihr mich geworfen habt.«

»Das wünscht er sich aber gar nicht!» rief Cally. »Denn dann wärt Ihr jetzt tot!«

Geschichtentauscher grinste nur, und Papa grinste zurück. Schließlich brachten die Frauen die Neffen und Nichten zum Sonntagsessen herüber, und sie ließen sich von Geschichtentauscher so oft das Lachlied vorsingen, bis Alvin schon dachte, daß er einen Schreianfall bekommen würde, wenn er noch einen weiteren Refrain des »Ha, ha, hi» zu hören bekäme.

Erst nach dem Essen, nachdem die Neffen und Nichten alle wieder gegangen waren, holte Geschichtentauscher sein Buch.

»Ich habe mich schon gefragt, ob Ihr dieses Buch jemals öffnen würdet«, bemerkte Pa.

»Habe nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet.«

Dann erklärte Geschichtentauscher, wie die Leute darin ihre wichtigste Tat eintrugen.

»Ich hoffe, daß Ihr nicht von mir erwartet, daß ich etwas hineinschreibe«, meinte Pa.

»Oh, ich würde Euch gar nicht hineinschreiben lassen, noch nicht. Ihr habt mir ja noch nicht einmal die Geschichte Eurer wichtigsten Tat erzählt.«

Geschichtentauschers Stimme wurde noch leiser. »Vielleicht habt Ihr Eure wichtigste Tat ja auch noch gar nicht begangen.«

Daraufhin sah Pa ein bißchen wütend aus, vielleicht auch ein wenig verängstigt. »Zeigt mir, was in diesem Buch steht, was andere Leute für so fürchterlich wichtig gehalten haben.«

»Oh«, machte Geschichtentauscher. »Ihr könnt lesen?«

»Ich teile Euch hiermit mit, daß ich in Massachusetts eine Yankee-Ausbildung genossen habe, noch bevor ich heiratete und mich als Müller in West Hampshire niedergelassen habe und lange bevor ich hierher kam. Im Vergleich zu einer Londoner Ausbildung wie Eurer, Geschichtentauscher, mag das nicht viel wert sein, aber Ihr könntet kein Wort schreiben, das ich nicht lesen könnte, es sei denn, es ist auf Lateinisch.«

Geschichtentauscher antwortete nicht. Er öffnete nur das Buch. Pa las den ersten Satz. »Das einzige, was ich wirklich jemals gemacht habe, waren Amerikaner.«

Pa blickte zu Geschichtentauscher empor. »Wer hat das geschrieben?«

»Der alte Ben Franklin.«

»Soviel, wie ich gehört habe, war der einzige Amerikaner, den der jemals gemacht hat, unehelich.«

»Vielleicht wird Al Junior es Euch später erklären«, entgegnete Geschichtentauscher.

Während sie sich unterhielten, kroch Alvin vor sie, um sich die Handschrift des Alten Ben anzuschauen. Sie sah überhaupt nicht anders aus als andere. Alvin war ein wenig enttäuscht, obwohl er nicht hätte sagen können, was er eigentlich erwartet hatte. Hätten die Buchstaben etwa aus Gold sein sollen? Natürlich nicht. Es gab keinen Grund, weshalb die Worte eines großen Mannes anders aussehen sollten als die Worte eines Narren.

Und doch war er irgendwie enttäuscht. Er griff nach dem Buch und blätterte einige Seiten um und wellte sie dabei mit den Fingern. Die Worte waren alle gleich: rauhe Tinte auf vergilbendem Papier.

Plötzlich schoß ein Lichtblitz aus dem Buch hervor und blendete ihn einen Augenblick.

»Spiel nicht so mit den Seiten«, sagte Papa. »Sonst zerreißt du noch eine.«

Alvin wandte sich zu Geschichtentauscher um. »Was ist denn das für eine Seite mit dem Licht?» fragte er. »Was steht denn dort?«

»Licht?» fragte Geschichtentauscher.

Alvin begriff, daß er es als einziger gesehen hatte.

»Such die Seite selbst«, sagte Geschichtentauscher.

»Er wird sie nur zerreißen«, meinte Papa.

»Er wird schon vorsichtig sein«, erwiderte Geschichtentauscher.

Aber Papa klang zornig. »Ich habe gesagt, du sollst das Buch in Ruhe lassen, Alvin Junior.«

Alvin wollte gerade gehorchen, da fühlte er Geschichtentauschers Hand auf seiner Schulter. Geschichtentauschers Stimme war ruhig, und Alvin spürte, wie sich die Finger des alten Mannes zu einem Zeichen der Abwehr bewegten. »Der Junge hat etwas in dem Buch gesehen«, sagte Geschichtentauscher, »und ich möchte, daß er es für mich wieder sucht.«

Zu Alvins Überraschung gab Papa nach. »Wenn es Euch nichts ausmacht, daß dieser achtlose, faule Junge Euer Buch zerfetzt«, murmelte er und verstummte.

Alvin wandte sich wieder dem Buch zu und blätterte vorsichtig die Seiten um, eine nach der anderen. Schließlich hatte er eine erreicht, aus der ein Licht hervortrat, das ihn zuerst blendete, aber langsam matter wurde, bis das Licht nur noch von einem einzelnen Satz ausstrahlte, dessen Buchstaben brannten.

»Seht Ihr sie brennen?» fragte Alvin.

»Nein«, sagte Geschichtentauscher. »Aber ich rieche den Rauch. Berühre die Worte, die für dich brennen.«

Alvin streckte die Hand vor und berührte vorsichtig den Anfang des Satzes. Zu seiner Überraschung war die Flamme nicht heiß, obwohl sie ihn zunächst wärmte. Sie wärmte ihn bis auf die Knochen. Er erschauerte, als die letzte Herbstkälte aus seinem Körper entwich. Er lächelte, so hell war alles in ihm. Doch kaum hatte er sie berührt, da erlosch die Flamme, kühlte sich ab, war verschwunden.

»Was steht dort?» fragte Mama. Sie stand an der anderen Seite des Tisches vor ihnen.

Geschichtentauscher las vor. »Ein Macher ist geboren.«

»Es hat keinen Macher oder Schöpfer mehr gegeben«, sagte Mama, »seit jenem, der das Wasser in Wein verwandelt hat.«

»Vielleicht nicht, aber das hat sie jedenfalls geschrieben«, sagte Geschichtentauscher.

»Wer hat es geschrieben?» wollte Mama wissen.

»Ein kleines Mädchen. Es ist ungefähr fünf Jahre her…«

»Welche Geschichte gehörte zu ihrem Satz?» fragte Alvin Junior.

Geschichtentauscher schüttelte den Kopf.

»Ihr habt doch gesagt, daß Ihr die Leute nie hineinschreiben laßt, es sei denn, Ihr kennt ihre Geschichte.«

»Sie hat es hineingeschrieben, als ich gerade nicht hinsah«, erklärte Geschichtentauscher. »Ich habe es erst bei meinem nächsten Halt bemerkt.«

»Woher wißt Ihr dann, daß sie es gewesen ist?» fragte Alvin.

»Sie war es«, erwiderte er. »Sie war die einzige dort, die den Zauber hätte öffnen können, den ich damals auf dieses Buch gelegt hatte.«

»Dann wißt Ihr also gar nicht, was es bedeutet? Ihr könnt mir nicht einmal sagen, warum ich diese Buchstaben habe brennen sehen?«

Geschichtentauscher schüttelte den Kopf. »Wenn ich mich recht erinnere, war sie die Tochter eines Gastwirts. Sie sprach nur sehr wenig, und wenn sie es tat, so war es immer völlig wahr. Nicht eine Lüge, nicht einmal, um gütig zu sein. Sie galt als etwas widerspenstig. Doch wie das Sprichwort sagt: Wenn du immer sagst, was du denkst, wird der böse Mann dich meiden. Oder irgend etwas ähnliches.«

»Und ihr Name?» fragte Mama. Überrascht hob Alvin den Blick. Mama hatte die leuchtenden Buchstaben nicht gesehen, warum wollte sie nur unbedingt erfahren, wer sie geschrieben hatte?

»Tut mir leid«, sagte Geschichtentauscher. »Ich erinnere mich im Augenblick nicht an ihren Namen. Und wenn ich mich erinnerte, so würde ich ihn nicht sagen, und ich werde auch nicht sagen, ob ich noch weiß, wo sie lebte. Ich möchte nicht, daß die Leute sie aufsuchen und um Antworten belästigen, die sie möglicherweise nicht geben will. Aber soviel will ich sagen. Sie war eine Fackel und sah mit wahren Augen. Wenn sie also schrieb, daß ein Macher geboren wurde, so glaube ich es, und deshalb habe ich ihre Worte auch im Buch gelassen.«

»Eines Tages möchte ich ihre Geschichte hören«, sagte Alvin. »Ich möchte wissen, warum die Buchstaben so hell waren.«

Er hob den Blick wieder und sah, wie Mama und Geschichtentauscher einander fest in die Augen blickten.

Und dann, irgendwie in der Ferne spürte er den Entmacher, bebend, unsichtbar, darauf wartend, die Welt zu vernichten. Ohne auch nur darüber nachzudenken, zog Alvin den vorderen Teil seines Hemdes aus der Hose und verknotete die Ecken miteinander. Der Entmacher zögerte, dann zog er sich zurück.

Загрузка...