12. Das Buch

Sie ließen Tag und Nacht ein Feuer brennen, so daß die Mauersteine vor Hitze zu glühen schienen und die Luft in seinem Raum trocken blieb. Alvin lag auf dem Bett, ohne sich zu bewegen, sein rechtes Bein schwer von Schienen und Verbänden. Ihm war schwindlig und ein wenig übel.

Doch er bemerkte das Gewicht seines Beins und seinen Schwindel kaum. Der Schmerz war sein Feind. Das Pochen und Stechen lenkte seinen Geist von der Aufgabe ab, die Geschichtentauscher ihm gestellt hatte: sich selbst zu heilen.

Und doch war der Schmerz zugleich auch sein Freund. Er errichtete eine Mauer um ihn, so daß er kaum wußte, wo er sich befand. Die Welt um ihn hätte in Flammen aufgehen und zu Asche verbrennen können, er hätte es nie bemerkt. Denn es war die Welt im Inneren, die er nun erforschte.

Geschichtentauscher hatte ja kaum eine Ahnung gehabt, wovon er geredet hatte. Es war keine Frage, im Geist irgendwelche Bilder zu erschaffen. Sein Bein würde nicht besser werden, wenn er nur so tat, als sei es geheilt. Dennoch hatte Geschichtentauscher den richtigen Gedanken gehabt. Wenn Alvin sich durch Felsgestein tasten konnte, um die schwachen und starken Stellen zu finden und ihnen beizubringen, wo sie brechen und wo sie halten sollten, warum sollte er es da nicht auch mit Haut und Knochen können?

Das Problem war, daß Haut sich anders als Gestein mit jeder Schicht veränderte. Mit geschlossenen Augen lag er auf dem Bett und sah zum ersten Mal in sein eigenes Fleisch hinein. Zuerst hatte er versucht, dem Schmerz zu folgen, doch das brachte nichts, es hatte ihn lediglich dort hingeführt, wo alles zerquetscht und zerschnitten und durcheinander war, so daß er das Oben nicht vom Unten unterscheiden konnte. Nach langer Zeit hatte er es mit einer anderen Methode versucht. Er lauschte seinem Herzschlag. Zuerst schien der Schmerz ihn ständig davon fortzureißen, doch nach einer Weile konzentrierte er sich allein auf dieses Geräusch. Wenn es in der Außenwelt laut gewesen sein sollte, so merkte er jedenfalls nichts davon, weil der Schmerz alles ausschloß. Und der Rhythmus der Herzschlags schloß er den Schmerz aus, zumindest meistens.

Er folgte den Bahnen seines Blutes, dem großen, kräftigen Strom, den kleinen Strömen. Manchmal verirrte er sich. Manchmal unterbrach ihn einfach ein Stechen in seinem Bein und verlangte, gehört zu werden. Doch nach und nach fand er seinen Weg zu der gesunden Haut und den gesunden Knochen im anderen Bein. Dort war das Blut nicht halb so kräftig, aber es führte ihn dorthin, wo er hin wollte. Er entdeckte all die Schichten, wie die Häute einer Zwiebel. Er erfuhr ihre Anordnung, sah, wie der Muskel zusammengehalten wurde und wie die winzigen Venen miteinander verbunden waren.

Erst danach fand er den Weg zu dem schlimmen Bein. Der Hautfetzen, den Mama angenäht hatte, war fast tot, stand kurz vor dem Faulen. Alvin Junior jedoch wußte, was er brauchte, damit dieser Teil überleben konnte. Er fand die abgequetschten Enden der Arterien um die Wunde und fing an, sie zum Wachsen zu drängen, genau wie er Risse durch Gestein zu führen pflegte. Verglichen hiermit war der Stein sehr viel einfacher zu behandeln — um sich zu spalten, mußte er einfach loslassen, das war alles. Das lebendige Fleisch aber tat nur sehr viel langsamer, was er von ihm verlangte, und schon bald gab er alles andere auf, richtete seine Aufmerksamkeit nur noch auf die kräftigste Arterie.

Er sah, wie sie Stücke und Teile von diesem und jenem verwendete, um etwas aufzubauen. Vieles von dem, was geschah, war viel zu klein und schnell und kompliziert, als daß Alvins Geist es hätte begreifen können. Doch er konnte seinen Körper dazu bringen, freizusetzen, was die Arterie brauchte, um zu wachsen. Er konnte es dort hinschicken, wo es gebraucht wurde, und nach einer Weile verband sich die Arterie mit dem verfaulten Gewebe. Es bedurfte einiger Anstrengung, doch schließlich entdeckte er das Ende einer verschrumpften Arterie und verband sie miteinander, ließ das Blut in den angenähten Flecken strömen.

Zu früh, zu schnell. Er spürte die Hitze auf seinem Bein, spürte, wie das Blut an einem Dutzend Stellen gleichzeitig aus dem toten Fleisch hervorquoll; es konnte nicht alles Blut halten, das er ihm schickte. Langsam, langsam, langsam. Er folgte dem Blut, ließ es nun sickern, anstatt zu pumpen, und wieder verband er Blutgefäße miteinander, Arterien mit Venen, versuchte so gut er konnte, es dem anderen Bein ähnlich zu machen.

Schließlich war es fast geschafft. Der normale Blutstrom ließ sich verringern. Viele Teile des Hautfetzens erwachten wieder zum Leben, als das Blut zurückkehrte. Andere blieben tot. Alvin ließ das Blut immer und immer wieder um die Stelle strömen, die toten Teile in Stücke auflösend, die zu klein für ihn waren, um sie noch zu erkennen. Doch die lebendigen Teile erkannten sie sehr gut, nahmen sie auf, ließen sie arbeiten. Wohin Alvin seine Kräfte auch wandte, ließ er das Fleisch wachsen.

Bis er im Geiste davon müde war, in solch kleinem Maßstab zu denken und so hart zu arbeiten, daß er einfach einschlief.

»Ich will ihn nicht aufwecken.«

»Du kannst den Verband nicht wechseln, ohne ihn anzufassen, Faith.«

»Also gut — oh, sei vorsichtig, Alvin! Nein, laß mich das machen!«

»Ich habe so etwas schon gemacht…«

»Ja, Alvin, bei Kühen, aber nicht an kleinen Jungen!«

Alvin Junior spürte Druck auf seinem Bein. Irgend etwas riß an seiner Haut. Der Schmerz war nicht so schlimm wie gestern. Aber er war noch immer zu müde, um auch nur die Augen zu öffnen oder einen Laut von sich zu geben, damit sie wußten, daß er wach war und sie hören konnte.

»Ach du liebe Güte, Faith, er muß ja in der Nacht schrecklich geblutet haben.«

»Mama, Mary sagt, ich muß…«

»Sei still und verschwinde von hier, Cally! Siehst du denn nicht, daß deine Ma sich gerade Sorgen macht wegen…«

»Kein Grund, den Jungen anzuschreien, Alvin. Er ist doch erst sieben.«

»Sieben, das ist alt genug, um den Mund zu halten und Erwachsene in Ruhe zu lassen, wenn wir beschäftigt sind… Schau dir das mal an.«

»Ich kann es kaum glauben.«

»Ich hätte erwartet, daß der Eiter hervorquillt wie die Sahne aus einer Kuhzitze.«

»So sauber, wie es nur sein kann.«

»Und die Haut wächst nach, schaust du dir das mal an? Dein Nähen muß gewirkt haben.«

»Ich hatte kaum darauf gehofft, daß diese Haut wieder anwachsen würde.«

»Man sieht nicht einmal ein Stück Knochen darunter.«

»Der Herr segnet uns. Ich habe die ganze Nacht gebetet, und schau, was Gott getan hat.«

»Na, da hättest du dich beim Beten aber ein bißchen mehr anstrengen sollen, damit die Wunde ganz verheilt. Ich habe noch jede Menge Arbeit für diesen Jungen.«

»Jetzt lästere bloß nicht Gott, Alvin Miller!«

»Ich kann es nur nicht mehr ertragen, wie Gott sich ständig einschleicht, um den Ruhm einzuheimsen. Vielleicht ist Alvin ja auch nur ein guter Heiler, hast du daran schon einmal gedacht?«

»Schau nur, deine Bösartigkeit hat den Jungen geweckt.«

»Frag ihn, ob er einen Schluck Wasser haben will.«

»Er wird einen bekommen, ob er ihn will oder nicht.«

Alvin dürstete sehr. Sein Körper war ausgetrocknet, nicht nur sein Mund; er mußte wieder ersetzen, was er an Blut verloren hatte, also schluckte er soviel herunter, wie er konnte, aus einem Blechbecher, den man ihm an den Mund hielt. Er legte sich zurück und versuchte von innen heraus festzustellen, wie es seiner Wunde ging. Doch es war zu schwierig dorthin zurückzukehren, zu schwierig, sich zu konzentrieren. Noch auf halber Strecke schlief er wieder ein.

Er erwachte aufs neue und dachte, daß es schon wieder Nacht sein mußte, vielleicht waren aber auch nur die Vorhänge zugezogen. Er konnte es nicht feststellen, weil es ihm zu schwerfiel, die Augen zu öffnen. Der Schmerz war zurückgekehrt, außerdem kitzelte die Wunde so stark, daß er sich kaum noch beherrschen konnte, um nicht an ihr zu kratzen. Doch nach einer Weile gelang es ihm, die Wunde zu finden und wieder beim Nachwachsen der Hautschichten zu helfen. Als er wieder einschlief, bedeckte eine dünne, vollständige Hautschicht die ganze Wunde. Darunter arbeitete der Körper immer noch daran, die Muskeln zu erneuern und die gebrochenen Knochen wieder miteinander zu verbinden. Doch nun würde es keinen Blutverlust mehr geben, keine offene Wunde, die sich infizieren konnte.

»Schaut Euch das an, Geschichtentauscher. Habt Ihr so etwas schon einmal gesehen?«

»Eine Haut wie ein Neugeborenes.«

»Vielleicht bin ich ja verrückt, aber bis auf die Schiene sehe ich keinen Grund mehr, sein Bein noch verbunden zu lassen.«

»Kein Anzeichen einer Wunde mehr. Nein, Ihr habt recht, ein Verband wird jetzt nicht mehr nötig sein.«

»Vielleicht hat meine Frau recht, Geschichtentauscher. Vielleicht hat Gott es sich doch einfach nur anders überlegt und an meinem Jungen ein Wunder vollbracht.«

»So etwas läßt sich nicht beweisen. Wenn der Junge aufwacht, dann weiß er vielleicht etwas darüber.«

»Ganz bestimmt nicht. Er hat die ganze Zeit nicht einmal die Augen geöffnet.«

»Eines ist sicher, Mr. Miller. Dieser Junge wird nicht sterben. Soviel hätte ich gestern noch nicht sagen können.«

»Ich hatte mich schon darauf eingestellt, eine Kiste für ihn zu zimmern, um ihn unter die Erde zu bringen. Ich sah nicht die geringste Überlebenschance. Schaut Ihr Euch mal an, wie gesund er ist? Ich möchte gerne wissen, was ihn beschützt.«

»Was immer ihn beschützt, Mr. Miller, dieser Junge ist jedenfalls stärker. Darüber muß man mal nachdenken. Sein Beschützer hat den Stein zwar splittern lassen, aber Al Junior hat ihn wieder zusammengefügt, und sein Beschützer konnte nicht das geringste dagegen ausrichten.«

»Meint Ihr, daß er überhaupt wußte, was er tat?«

»Er muß eine Vorstellung von seinen Kräften haben. Er wußte, was er mit dem Stein tun konnte.«

»Ehrlich gesagt, habe ich noch nie von einem solchen Talent gehört. Ich habe Faith erzählt, was er mit diesem Stein angerichtet hat, wie er ihn an seiner Rückseite gefurcht hat, ohne auch nur ein Werkzeug zu benutzen, und da hat sie aus dem Buch Daniel vorgelesen und etwas über eine Erfüllung der Prophezeiung gerufen. Wollte gleich hier hereinstürzen und den Jungen vor tönernen Füßen warnen. Kann man sich so etwas vorstellen? Die Religion macht sie doch alle verrückt. Bin noch nie einer Frau begegnet, die nicht verrückt von Religion war.«

Die Tür ging auf. »Verschwinde! Bist du so dämlich, daß ich es dir zwanzigmal sagen muß, Cally? Wo ist denn bloß seine Mutter, kann sie einen siebenjährigen Jungen denn nicht von…«

»Seid nicht so streng mit dem Jungen, Miller. Er ist ja auch schon wieder verschwunden.«

»Ich weiß wirklich nicht, was mit ihm los ist. Kaum liegt Al Junior darnieder, erblicke ich Callys Gesicht, wo immer ich hinschaue. Wie ein Beerdigungsunternehmer, der auf seinen Lohn hofft.«

»Vielleicht erscheint es ihm seltsam, daß Alvin verletzt ist.«

»So oft, wie Alvin dem Tod um einen knappen Zoll entgangen ist…«

»Aber niemals verletzt.«

Langes Schweigen folgte.

»Geschichtentauscher.«

»Ja, Mr. Miller?«

»Ihr seid uns allen ein guter Freund gewesen, manchmal uns selbst zum Trotze. Aber ich schätze, Ihr seid noch immer ein Wandersmann.«

»Das bin ich, Mr. Miller.«

»Was ich jetzt sage, damit will ich Euch bestimmt nicht vertreiben, aber wenn Ihr irgendwann in nächster Zeit gehen solltet, und wenn Ihr zufällig in Richtung Osten geht, meint Ihr, daß Ihr vielleicht einen Brief für mich überbringen könntet?«

»Das werde ich gerne tun. Und zwar ohne Gebühr für Sender oder Empfänger.«

»Das ist wirklich gütig von Euch. Ich habe über das nachgedacht, was Ihr gesagt habt. Darüber, daß ein Junge von bestimmten Gefahren möglichst ferngehalten werden sollte. Und ich habe mir überlegt, wo es auf der Welt wohl Leute geben könnte, denen ich meinen Jungen anvertrauen kann. In New England haben wir keine nennenswerte Verwandtschaft — und außerdem will ich nicht, daß der Junge als Puritaner am Abgrund der Hölle aufgezogen wird.«

»Ich bin erleichtert, das zu hören, Mr. Miller, denn ich selbst habe auch kein großes Verlangen danach, New England wiederzusehen.«

»Wenn Ihr einfach dem Weg folgt, den wir auf unserem Zug nach Westen gemacht haben, so kommt Ihr früher oder später an eine Stelle am Hatrack River, etwa dreißig Meilen nördlich vom Hio, nicht ganz so weit flußabwärts von Fort Dekane. Dort gibt es einen Gasthof, zumindest gab es mal einen, und dahinter einen Friedhof, wo auf einem Stein steht: ›Vigor — er starb um seine Familie zu retten.‹«

»Wollt Ihr, daß ich den Jungen mitnehme?«

»Nein, ich werde ihn jetzt nicht losschicken, wo der Schnee gekommen ist. Wasser…«

»Ich verstehe.«

»Dort gibt es einen Hufschmied. Ich dachte, daß er vielleicht einen Lehrling brauchen könnte. Alvin ist zwar noch jung für sein Alter, aber groß, und ich schätze, daß er für den Hufschmied eine gute Hilfe sein dürfte.«

»Lehrling?«

»Na, zu einem Leibeigenen werde ich ihn doch wohl nicht machen wollen, oder? Und ich habe kein Geld, um ihn auf eine Schule zu schicken.«

»Ich werde den Brief überbringen. Aber ich hoffe, ich kann noch so lange bleiben, bis der Junge aufwacht, damit ich mich verabschieden kann.«

»Ich wollte Euch doch nicht schon heute nacht hinausjagen. Und auch nicht morgen, wo der Neuschnee doch tief genug ist, um die Hasen zu ersticken.«

»Ich wußte nicht, daß Ihr das Wetter bemerkt habt.«

»Ich merke es immer, wenn Wasser im Spiel ist.«

Er lachte verlegen, dann verließen sie den Raum.

Alvin Junior lag da und versuchte sich zu überlegen, warum Pa ihn fortschicken wollte. Hatte er nicht sein ganzes Leben lang versucht, sein Bestes zu tun? Hatte er nicht versucht, allen so gut zu helfen, wie er nur konnte? Ging er nicht auf Reverend Throwers Schule, obwohl der Prediger es darauf abgesehen hatte, ihn entweder wahnsinnig oder dumm zu machen? Und vor allem, hatte er nicht endlich einen vollkommenen Stein vom Berg heruntergebracht, ihn die ganze Zeit zusammengehalten, ihm gesagt, wo er hin sollte, und hatte er zum Schluß nicht sogar sein Bein aufs Spiel gesetzt, nur damit der Stein nicht brach? Und jetzt wollten sie ihn fortschicken.

Lehrling! Bei einem Hufschmied! In seinem ganzen Leben hatte er noch keinen Hufschmied gesehen. Sie mußten drei Tage reiten, um zur nächsten Schmiede zu gelangen, und Pa hatte ihn niemals mitgenommen.

Je mehr er darüber nachdachte, um so wütender wurde er. Hatte er Mama und Papa nicht angefleht, ihn doch einfach allein durch den Wald gehen zu lassen, und hatten sie es ihm nicht verboten? Immer mußte jemand bei ihm sein, als wäre er ein Gefangener oder ein Sklave, der gleich davonlaufen würde. Kam er irgendwohin auch nur fünf Minuten zu spät, so suchten sie gleich nach ihm. Nie durfte er lange Reisen machen — die längsten waren immer nur zum Steinbruch gewesen. Und jetzt, nachdem sie ihn sein ganzes Leben wie eine Weihnachtsgans eingesperrt gehalten hatten, wollten sie ihn ans Ende der Welt schicken.

Es war so schrecklich ungerecht, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen und die Wangen herabströmten, genau in seine Ohren hinein, was sich so albern anfühlte, daß er lachen mußte.

»Worüber lachst du?» fragte Cally.

Alvin hatte ihn nicht hereinkommen hören.

»Geht es dir jetzt besser? Es blutet gar nicht mehr, Al.«

Cally berührte seine Wange.

»Weinst du, weil es so weh tut?«

Alvin hätte ihm wahrscheinlich antworten können, doch es bereitete ihm zuviel Mühe, den Mund zu öffnen und die Worte hervorzupressen, daher schüttelte er nur den Kopf.

»Wirst du sterben, Alvin?» fragte Cally.

Er schüttelte erneut den Kopf.

»Oh«, sagte Cally. Er klang so enttäuscht, daß es Alvin ein bißchen zornig machte. Zornig genug, um ihn zum Sprechen zu bringen. »Tut mir leid«, krächzte er.

»Na ja, irgendwie ist das ungerecht«, meinte Cally. »Ich wollte ja gar nicht, daß du stirbst, aber alle haben gesagt, du würdest sterben. Und da habe ich mir überlegt, wie es wohl wäre, wenn ich derjenige wäre, um den sich alle kümmern. Die ganze Zeit, alles paßt auf dich auf, und wenn ich nur irgend etwas sage, dann sagen sie einfach: Hau ab, Cally. Dich hat niemand gefragt, Cally. Mußt du nicht schon im Bett sein, Cally? Denen ist es egal, was ich tue. Nur wenn ich anfange, dich zu hauen, dann sagen alle, Prügle dich nicht, Cally.«

»Für eine Feldmaus ringst du recht gut«, wollte Alvin sagen, doch er war sich nicht sicher, ob seine Lippen sich überhaupt bewegt hatten.

»Weißt du, was ich mal gemacht habe, als ich sechs war? Ich bin hinausgegangen und habe mich im Wald verirrt. Bin einfach nur gelaufen und gelaufen. Manchmal habe ich die Augen geschlossen und mich ein paarmal umgedreht, damit ich mir nicht mehr sicher war, wo ich war. Ich muß den halben Tag weggewesen sein. Aber meinst du, irgendeine Menschenseele wäre gekommen, um nach mir zu suchen? Schließlich mußte ich kehrtmachen und wieder alleine nach Hause zurückfinden. Da hat niemand gesagt: Wo bist du den ganzen Tag gewesen, Cally? Mama hat einfach nur gesagt: Deine Hände sind so schmutzig wie der Hintern eines kranken Pferds, geh und wasch dich.«

Alvin lachte wieder, fast stumm, mit bebender Brust.

»Ja, für dich ist das lustig. Alle kümmern sich nur um dich.«

Diesmal strengte Alvin sich sehr an, um ein Geräusch hervorzubringen. »Willst du mich forthaben?«

Cally wartete lange Zeit, bis er antwortete. »Nein. Wer soll denn dann mit mir spielen? Nur die doofen, ollen Vettern. In dem Haufen gibt es nicht einen einzigen guten Ringer.«

»Ich gehe«, flüsterte Alvin.

»Nein, tust du nicht. Du bist der siebente Sohn, und sie werden dich niemals gehen lassen.«

»Gehe.«

»Allerdings, so wie ich das zähle, bin ich diese Nummer sieben. David, Calm, Measure, Wastenot, Wantnot, Alvin Junior bist du, und dann komme ich, das sind sieben.«

»Vigor.«

»Der ist schon lange tot. Das sollte jemand mal Ma und Pa erzählen.«

Alvin lag da, müde von den wenigen Worten, die er gesagt hatte. Dann schwieg auch Cally. Er saß einfach nur da, so still, wie er nur sein konnte, und hielt Alvins Hand fest. Schon bald begann Alvin davonzuschweben, so daß er sich nicht ganz sicher war, ob Cally wirklich gesprochen hatte oder ob er es nur träumte. Aber er hörte Cally sagen: »Ich will dich nie tot haben, Alvin.«

Und dann hatte er vielleicht gesagt: »Ich wünschte, ich wäre du.«

Aber Alvin schwebte in den Schlaf hinein, und als er erwachte, war niemand bei ihm. Das Haus war still bis auf die Geräusche der Nacht und bis auf den Wind, der an den Läden klapperte.

Einmal mehr tauchte Alvin in sein Inneres hinein und arbeitete sich bis zur Wunde vor. Nur daß er diesmal nicht viel mit der Haut und dem Muskel zu tun hatte. Jetzt arbeitete er an den Knochen. Es überraschte ihn, wie porös sie waren, überall von kleinen Löchern bedeckt, gar nicht fest wie der Mühlstein, aber schon bald hatte er sie verstanden. Nach einer Weile war es ein leichtes, die Knochen fest zusammenzufügen.

Dennoch war irgend etwas mit diesem Knochen verkehrt. Irgend etwas in seinem schlimmen Bein würde nicht genauso werden wie im gesunden. Aber es war so klein, daß er es nicht deutlich erkennen konnte. Er wußte nur, daß es, was immer war, den Knochen im Inneren krank machte, nur ein winziger Fleck Krankheit, aber er bekam nicht heraus, wie er ihn heilen sollte. Es war, als wollte man eine Schneeflocke vom Boden aufheben: Immer, wenn er glaubte, daß er etwas zu packen bekommen hatte, stellte es sich als Nichts heraus oder vielleicht auch als zu klein, um es sehen zu können.

Vielleicht würde es aber auch verschwinden. Wenn alles andere besser wurde, dann würde diese kranke Stelle seines Knochens vielleicht auch von allein besser werden.


Eleanor kam erst spät vom Haus ihrer Mutter zurück. Brustwehr glaubte zwar daran, daß eine Ehefrau starke Familienbindungen haben sollte, aber nach Nachteinbruch nach Hause zu kommen, das war gefährlich.

»Es wird davon geredet, daß wilde Rote vom Süden hierher kommen«, sagte Brustwehr Gottes. »Und du gehst noch im Dunkeln umher.«

»Ich habe mich beeilt, nach Hause zu kommen«, erwiderte sie. »Ich kenne den Weg im Dunkeln.«

»Es geht nicht darum, den Weg zu kennen«, erwiderte er streng. »Die Franzosen bezahlen für weiße Skalps inzwischen mit Gewehren. Das wird zwar die Leute des Propheten nicht in Versuchung führen, aber es gibt viele Choc-Taws, die nur zu gerne nach Fort Detroit hinaufkommen, um unterwegs auch noch Skalps einzusammeln.«

»Alvin wird nicht sterben«, sagte Eleanor.

Brustwehr verabscheute es, wenn sie so abrupt das Thema wechselte. Aber bei dieser Nachricht blieb ihm nichts anderes übrig, als nachzufragen. »Dann haben sie sich also entschieden, das Bein zu amputieren?«

»Ich habe das Bein gesehen. Es kommt schon wieder in Ordnung. Alvin Junior war am späten Nachmittag wach, und ich habe mich eine Weile mit ihm unterhalten.«

»Ich bin froh, daß er wachgeworden ist, Elly, aber ich hoffe doch, daß du nicht damit rechnest, daß dieses Bein heilt. Eine derart große Wunde mag zwar eine Weile lang so aussehen, als würde sie heilen, aber die Fäulnis wird schon ziemlich bald einsetzen.«

»Bei Alvin glaube ich das nicht«, erwiderte sie. »Willst du Abendessen haben?«

»Ich muß zwei Laibe Brot gegessen haben, wie ich hier auf und ab gegangen bin und mich fragte, wann du wohl jemals wieder nach Hause kommen würdest.«

»Es ist nicht gut, wenn ein Mann einen Bauch bekommt.«

»Ich habe nun einmal einen, und der verlangt nach Nahrung, genau wie der aller anderen.«

»Mama hat mir einen Käse mitgegeben.«

Brustwehr war unbehaglich zumute. Er glaubte, daß Faith Millers Käse sicherlich nur so gut waren, weil sie irgend etwas mit der Milch machte. Es warf ihn aus der Bahn, wenn er sich dabei erwischte, wie er Kompromisse mit der Hexerei einging. In dieser düsteren Stimmung war er nicht gewillt, irgend etwas auf sich beruhen zu lassen, auch wenn er wußte, daß Elly einfach nicht darüber reden wollte. »Warum, glaubst du, daß das Bein nicht faulen wird?«

»Es wird einfach so schnell besser«, meinte sie.

»Wieviel besser?«

»Ach, schon fast wieder gesund.«

»Was heißt fast?«

Sie drehte sich um, rollte die Augen und kehrte ihm den Rücken zu. Sie begann einen Apfel aufzuschneiden, den sie mit dem Käse essen wollten.

»Ich habe gefragt, was heißt fast, Elly?«

»Gesund.«

»Zwei Tage, nachdem ein Mühlstein die vordere Hälfte des Beins abgerissen hat, ist es schon wieder gesund?«

»Nur zwei Tage?» fragte sie. »Kommt mir eher wie eine Woche vor.«

»Der Kalender meint aber, daß es nur zwei Tage sind«, warf Brustwehr ein. »Was wiederum bedeutet, daß dort oben Hexerei im Spiel ist.«

»So, wie ich die Evangelien lese, war der, der die Menschen heilte, keine Hexe.«

»Wer hat es getan? Erzähl mir nicht, daß dein Pa oder deine Ma plötzlich so starke Kräfte besitzen. Haben sie vielleicht einen Teufel beschworen?«

Sie drehte sich um, das Messer noch immer in der Hand. Ihre Augen blitzten. »Pa mag zwar kein Kirchgänger sein, aber der Teufel hat niemals seinen Fuß in unser Haus gesetzt.«

Reverend Thrower war zwar anderer Meinung, aber Brustwehr war zu klug, um ihn auch noch ins Gespräch einzubringen. »Dann war es dieser Bettler.«

»Der arbeitet für seine Kost und Unterkunft. So hart wie alle anderen auch.«

»Man erzählt sich, daß er diesen alten Zauberer Ben Franklin gekannt hat. Und diesen Atheisten aus Appalachee, Tom Jefferson.«

»Er erzählt gute Geschichten. Und er hat den Jungen auch nicht geheilt.«

»Nun, irgend jemand hat es ja wohl getan.«

»Vielleicht hat er sich einfach nur selbst geheilt. Jedenfalls ist das Bein noch immer gebrochen. Es ist also kein Wunder oder so etwas. Er ist eben nur ein schneller Heiler.«

»Nun, vielleicht ist er ein schneller Heiler, weil der Teufel eben für die Seinen sorgt.«

Als er den Blick in ihrem Auge wahrnahm, während sie sich umdrehte, wünschte sich Brustwehr fast, daß er es nicht gesagt hätte. Aber Reverend Thrower hatte doch so gut wie behauptet, daß der Junge ebenso schlimm war wie das Tier aus der Apokalypse.

Aber Tier oder Junge, er war Ellys Bruder, und wenngleich sie auch die meiste Zeit so ruhig war, wie man es sich nur wünschen konnte, konnte sie das schiere Grauen sein, wenn sie zornig wurde.

»Nimm das zurück«, sagte sie.

»Also das ist so ziemlich das Dümmste, was ich jemals gehört habe. Wie kann ich etwas zurücknehmen, was ich gerade gesagt habe?«

»Indem du sagst, daß du weißt, daß es nicht so ist.«

»Ich weiß nicht, daß es nicht so ist, und ich weiß auch nicht das Gegenteil. Ich habe gesagt vielleicht, und wenn ein Mann zu seiner Frau nicht mehr vielleicht sagen kann, dann wäre er wohl besser dran, tot zu sein.«

»Ich schätze, das stimmt wohl«, sagte sie. »Und wenn du es nicht zurücknimmst, dann wirst du dir noch wünschen, daß du tot wärst!«

Sie kam auf ihn zu, in jeder Hand ein Stück Apfel.

Meistens wenn sie so zornig auf ihn zukam und er sich von ihr durchs Haus treiben ließ, mußte sie irgendwann lachen. Doch nicht dieses Mal. Sie zerdrückte ein Stück Apfel in seinem Haar und schleuderte ihm das andere entgegen, dann setzte sie sich ins Schlafzimmer und weinte sich die Augen aus.

Sie weinte sonst eigentlich nie. Brustwehr überlegte, daß die Sache gänzlich aus dem Lot gelaufen war.

»Ich nehme es zurück, Elly«, sagte er. »Er ist ein guter Junge, das weiß ich.«

»Ach, es ist mir egal, was du denkst«, erwiderte sie. »Du verstehst sowieso nichts davon.«

Nicht viele Ehemänner hätten sich so etwas von ihrer Frau bieten lassen, ohne ihr eine Ohrfeige zu verpassen. Brustwehr wünschte sich manchmal, daß Elly es doch mal zu schätzen wüßte, wie sehr sein christlicher Glaube doch nur zu ihrem Vorteil war.

»Ein bis zwei Dinge weiß ich sehr wohl«, antwortete er.

»Sie werden ihn fortschicken«, sagte sie. »Wenn der Frühling kommt, geben sie ihn in eine Lehre. Er ist nicht allzu glücklich darüber, doch er sagt nichts dagegen, er liegt einfach nur im Bett, spricht ganz leise und schaut mich und alle anderen an, als würde er die ganze Zeit Lebewohl sagen.«

»Weshalb wollen sie ihn denn fortschicken?«

»Das habe ich dir doch gesagt, um ihn in eine Lehre zu geben.«

»So, wie sie diesen Jungen bemuttern, kann ich mir kaum vorstellen, daß sie ihn jemals außer Sichtweite lassen.«

»Und sie wollen ihn auch nicht in die Nähe schicken. Nein, bis ins östliche Ende des Hiogebiets, in die Nähe von Fort Dekane. Das ist ja schon die halbe Strecke bis zum Meer.«

»Weißt du, irgendwie erscheint das vernünftig, wenn man mal darüber nachdenkt.«

»Ach ja?«

»Jetzt, da die Roten Schwierigkeiten machen, wollen sie ihn in Sicherheit bringen. Die anderen können ruhig hierbleiben, um einen Pfeil ins Gesicht zu bekommen, aber nicht Alvin Junior.«

Sie musterte ihn mit vernichtender Verachtung. »Manchmal bist du so mißtrauisch, daß ich am liebsten kotzen würde, Brustwehr Gottes.«

»Es hat nichts mit Mißtrauen zu tun, wenn man etwas ausspricht, was wirklich geschieht.«

»Du kannst doch nicht einmal die Wirklichkeit von einer Gurke unterscheiden.«

»Wäschst du mir diesen Apfel aus dem Haar, oder muß ich dich dazu bringen, ihn mir abzulecken?«.

»Ich schätze, ich werde wohl irgend etwas tun müssen, sonst reibst du ihn noch in das ganze Bettleinen.«


Geschichtentauscher kam sich fast vor wie ein Dieb, so viele Dinge mitzunehmen, als er ging. Zwei Paar dicker Socken. Eine neue Decke. Ein Umhang aus Elchhaut. Eingemachtes und Käse. Einen guten Schleifstein.

Und Dinge, von denen sie gar nicht wissen konnte, daß sie sie ihm geschenkt hatten. Ein ausgeruhter Körper, frei von Schmerz und Wunden. Gütige Gesichter, frisch in Erinnerung. Und Geschichten, Geschichten, im versiegelten Teil des Buchs aufgeschrieben, jene, die er selbst schrieb. Und wahre Geschichten, von ihren eigenen Händen schmerzhaft eingeschrieben.

Doch er hatte ihnen einen guten Gegenwert gegeben, oder er hatte es zumindest versucht. Die Dächer waren für den Winter geflickt worden, aber wichtiger war: Sie hatten ein Buch mit Ben Franklins eigener Handschrift darin gesehen. Bevor Geschichtentauscher gekommen war, waren sie Teil ihrer Familie und Teil des Wobbish-Landes gewesen, nicht mehr. Nun gehörten sie viel größeren Geschichten an. Gehörten zum Krieg der Unabhängigkeit der Appalachees und zum Amerikanischen Pakt.

Er hatte ihnen noch einige andere Dinge hinterlassen. Einen geliebten Sohn, den er unter einem stürzenden Mühlstein hervorgezogen hatte, einen Vater, der nun die Kraft besaß, seinen Sohn fortzuschicken, bevor er ihn tötete. Einen Namen für den Alptraum eines jungen Mannes, damit er verstand, daß sein Feind wirklich war, eine geflüsterte Ermutigung an ein zerbrochenes Kind, sich selbst zu heilen.

Und eine einzige Zeichnung, in eine Scheibe Eichenholz mit der Spitze eines heißen Messers eingebrannt. Er hätte viel lieber mit Wachs und Säure auf Metall gearbeitet, doch in dieser Gegend war nichts davon aufzutreiben. Also brannte er Striche ins Holz, machte daraus, was er konnte. Das Bild von einem jungen Mann in der Gewalt eines reißenden Flusses, hilflos verheddert in den Wurzeln eines treibenden Baums. An der Kunstakademie des Lordprotektors hätte es nur Hohn eingebracht, weil das Bild so einfach war. Aber Goody Faith stieß einen Schrei aus, als sie es erblickte, und drückte es an sich, ließ ihre Tränen darüberströmen wie die letzten Tropfen von den Weiden nach einem Regen. Vater Alvin nickte, als er es sah, und sagte: »Das ist Eure Vision, Geschichtentauscher. Ihr habt sein Gesicht vollkommen so wiedergegeben, wie es aussah, und dabei habt Ihr ihn noch nicht einmal gesehen. Das ist Vigor.«

Dann weinte auch er.

Sie befestigten es über dem Kaminsims. Es mochte keine große Kunst sein, dachte Geschichtentauscher, aber es war wahr und bedeutete diesen Menschen mehr, als jedes Porträt irgendeinem fetten alten Lord oder Parlamentarier zu London oder Paris hätte bedeuten können.

»Es ist ein schöner Morgen heute«, sagte Goody Faith. »Ihr habt noch weit zu gehen, bevor es dunkel wird.«

»Ihr könnt es mir nicht verargen, wenn ich zögere zu gehen. Obgleich ich froh bin, daß Ihr mir diesen Botendienst anvertraut habt, und ich werde Euch nicht enttäuschen.«

Er klopfte gegen seine Tasche, in der der Brief an den Hufschmied von Hatrack River lag.

»Ihr könnt nicht gehen, ohne Euch von dem Jungen zu verabschieden«, meinte Miller.

Er hatte es so lange vor sich hingeschoben, wie er nur konnte. Nun nickte er, hob sich aus dem bequemen Sessel am Feuer und schritt zu dem Raum hinüber, in dem er die besten Nächte seines Lebens verbracht hatte. Alvin Juniors Augen waren weit offen, sein Gesicht lebhaft, nicht mehr von Schmerz verzerrt, obwohl er immer noch Schmerzen haben mochte.

»Ihr geht?» fragte der Junge.

»Ich bin schon so gut wie fort, ich muß dir nur noch Lebewohl sagen.«

Alvin wirkte ein bißchen zornig. »Also laßt Ihr mich nicht einmal in Euer Buch schreiben?«

»Das tut nicht jeder, weißt du.«

»Pa hat es getan. Und Mama.«

»Und Cally auch.«

»Ich wette, das sieht bestimmt gut aus«, meinte Alvin. »Der schreibt doch wie ein, wie ein…«

»Wie ein Siebenjähriger.«

Es war eine Zurechtweisung, aber Alvin zuckte nicht zusammen.

»Warum dann nicht ich? Warum Cally und nicht ich?«

»Weil ich die Leute nur die wichtigsten Dinge hineinschreiben lasse, die sie jemals getan oder mit eigenen Augen gesehen haben. Was würdest du denn schreiben?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht über den Mühlstein.«

Geschichtentauscher schnitt eine Grimasse.

»Dann vielleicht über meine Vision. Die ist wichtig, das habt Ihr selbst gesagt.«

»Ja, und sie ist auch schon an anderer Stelle aufgeschrieben worden, Alvin.«

»Ich will etwas in dieses Buch schreiben«, sagte er. »Ich will, daß mein Satz zusammen mit dem des Machers Ben dort drin steht.«

»Noch nicht«, sagte Geschichtentauscher.

»Wann denn!«

»Wenn du diesen verdammten Entmacher vernichtet hast, Junge. Dann werde ich dich in dieses Buch schreiben lassen.«

»Und was, wenn ich ihn nie vernichtet bekomme?«

»Dann ist dieses Buch sowieso nicht viel wert.«

Die Tränen traten Alvin in die Augen. »Was, wenn ich sterbe?«

Ein Angstschauer durchzog Geschichtentauscher. »Wie geht es dem Bein?«

Der Junge zuckte die Achsel. Mit den Augenlidern verdrängte er die Tränen.

»Das ist keine Antwort, Junge.«

»Es hört nicht auf, weh zu tun.«

»Das wird es so lange tun, bis die Knochen verheilt sind.«

Alvin Junior lächelte wehmütig. »Der Knochen ist schon verheilt.«

»Warum gehst du dann nicht?«

»Es tut mir weh, Geschichtentauscher. Es hört nicht auf. Da muß eine schlimme Stelle am Knochen sein, und ich habe noch nicht herausbekommen, wie ich sie richtig heil machen kann.«

»Du wirst schon einen Weg finden.«

»Bisher habe ich ihn noch nicht gefunden.«

»Ein alter Fallensteller hat mal zu mir gesagt: ›Es spielt keine Rolle, ob du am Hintern oder am Brustknochen anfängst, Hauptsache, du bekommst den Panther gehäutet.‹«

»Ist das ein Sprichwort?«

»Es kommt ihm nahe. Du wirst einen Weg finden, auch wenn er nicht das sein sollte, was du erwartest.«

»Ich erwarte gar nichts«, sagte Alvin. »Nichts wird so, wie ich es mir vorstelle.«

»Du bist zehn Jahre alt, Junge. Bist du der Welt schon müde?«

Alvin rieb unentwegt mit Daumen und Fingern an den Falten seiner Decke. »Geschichtentauscher, ich sterbe.«

Geschichtentauscher musterte sein Gesicht, versuchte, darin den Tod zu erkennen. »Das glaube ich nicht.«

»Die schlimme Stelle an meinem Bein. Sie wächst. Vielleicht nur langsam, aber sie wächst. Sie ist unsichtbar, und sie frißt die harten Stellen des Knochens weg, und nach einer Weile wird sie immer schneller und schneller werden und…«

»Und dich entmachen.«

Diesmal weinte Alvin wirklich, und seine Hände zitterten. »Ich habe Angst vor dem Sterben, Geschichtentauscher, aber es ist in mich hineingelangt, und ich kann es nicht mehr herausbekommen.«

Geschichtentauscher legte beruhigend eine Hand auf Alvins. »Du wirst einen Weg finden. Du hast noch viel zuviel auf dieser Welt zu tun, um jetzt schon zu sterben.«

Alvin rollte die Augen. »So etwas Dummes habe ich in diesem Jahr noch nicht gehört. Nur weil jemand noch etwas zu tun hat, muß das noch lange nicht bedeuten, daß er nicht sterben wird.«

»Aber es bedeutet sehr wohl, daß er nicht gern stirbt.«

»Ich sterbe nicht gern.«

»Deshalb wirst du auch einen Weg finden, um am Leben zu bleiben.«

Alvin schwieg ein paar Augenblicke. »Ich habe nachgedacht. Darüber, was ich tun werde, falls ich wirklich überlebe. Darüber, was ich getan habe, damit mein Bein weitgehend heil wird. Ich wette, das kann ich auch für andere Leute tun. Ich kann ihnen die Hände auflegen und spüren, wie es im Inneren aussieht, und es richten. Wäre das nicht gut?«

»Sie würden dich dafür lieben, all die Leute, die du heilst.«

»Ich schätze, das erste Mal war am schwierigsten, und ich war ja auch nicht besonders stark, als ich es getan habe. Ich wette, daß ich es bei anderen Leuten viel schneller kann.«

»Vielleicht. Aber selbst wenn du jeden Tag hundert kranke Leute heilst und dann zum nächsten Ort weiterziehst und wieder hundert heilst, werden hinter dir immer noch zehntausend Menschen sterben, und vor dir zehntausend weitere, und bis du dann selbst stirbst, werden auch jene, die du geheilt hast, fast alle tot sein.«

Alvin wandte das Gesicht ab. »Wenn ich weiß, wie ich sie heilen kann, dann muß ich sie auch heilen, Geschichtentauscher.«

»Diejenigen, die du heilen kannst, die mußt du auch heilen«, erwiderte Geschichtentauscher. »Aber nicht als Lebensaufgabe. Ziegel in der Mauer, Alvin, mehr werden sie nie sein. Du holst niemals auf, indem du die bröckelnden Ziegelsteine reparierst. Heile jene, die dir zufällig in die Hände fallen, aber dein Lebenswerk reicht tiefer.«

»Ich weiß, wie man Leute heilt. Aber ich weiß nicht, wie ich den Ent-… den Entmacher schlagen soll. Ich weiß nicht einmal, was das ist.«

»Aber solange du der einzige bist, der ihn sehen kann, bist du auch der einzige, der darauf hoffen kann, ihn zu schlagen.«

»Vielleicht.«

Ein langes Schweigen folgte. Geschichtentauscher wußte, daß es Zeit war, zu gehen.

»Wartet.«

»Ich muß jetzt gehen.«

Alvin packte seinen Ärmel. »Noch nicht.«

»Aber sehr bald.«

»Laßt mich… laßt mich wenigstens lesen, was die anderen geschrieben haben.«

Geschichtentauscher griff in sein Bündel und holte das Buch hervor. »Ich kann aber nicht versprechen, daß ich auch erklären werde, was sie damit gemeint haben«, sagte er und ließ das Buch aus seiner wasserdichten Umhüllung gleiten.

Schnell hatte Alvin die letzten, neuesten Einträge gefunden.

In der Handschrift seiner Mutter: »Vigor er schob ein Stamm und starb nich bevor der Junge geboren.«

In Davids Handschrift: »Ein Mül Stein brach end Zwei dann wurde er wieder gantz unt ohne eine Rizze.«

In Callys Handschrift: »Ain Sibender Son.«

Alvin hob den Blick. »Damit meint er nicht mich, müßt Ihr wissen.«

»Ich weiß«, sagte Geschichtentauscher.

Alvin sah wieder ins Buch. In der Handschrift seines Vaters: »Er tötete ainen Jungen nich wail Ein Främmder rechzeitig kahm.«

»Wovon redet Pa da?» fragte Alvin.

Geschichtentauscher nahm ihm das Buch aus der Hand und schloß es wieder. »Finde einen Weg, um dein Bein zu heilen«, sagte er. »Es gibt noch sehr viel andere Menschenseelen als dich, die es brauchen. Vergiß nicht, es ist ja nicht für dich.«

Er beugte sich vor und küßte den Jungen auf die Stirn. Alvin griff nach ihm und hielt ihn mit beiden Armen, hängte sich an ihn, so daß er sich nicht aufrichten konnte, ohne den Jungen dabei aus dem Bett zu heben. Nach einer Weile mußte Geschichtentauscher hinaufgreifen und die Arme des Jungen fortreißen. Seine Wange war feucht von Alvins Tränen. Er wischte sie nicht fort. Er ließ sie von der Brise trocknen, als er den kalten, trockenen Weg entlang marschierte, rechts und links Felder voll halbgeschmolzenem Schnee.

Auf der zweiten bedeckten Brücke blieb er einen Augenblick stehen, um sich zu fragen, ob er jemals hierher zurückkehren oder sie wiedersehen würde. Oder ob er Alvin Juniors Satz für sein Buch bekommen würde. Wäre er ein Prophet, er wüßte es. Aber er hatte nicht die leiseste Ahnung.

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