Alvin Junior hatte keine Angst, als er den Balken fallen sah, er hatte auch keine Angst, als er zu beiden Seiten neben ihm auf den Boden krachte. Doch als all die Erwachsenen anfingen, Freudentänze zu vollführen, ihn zu umarmen und flüsternd zu ihm sprechen, da bekam er Angst. Erwachsene taten oft so seltsame Dinge.
Wie Papa, der neben dem Feuer auf dem Fußboden saß und einfach nur die Splitterteile des Stützpfahls musterte, das Holzstück, das unter dem Gewicht des Dachbalkens auseinandergebrochen war und ihn hatte in die Tiefe stürzen lassen. Eigentlich durfte weder Papa noch sonst jemand große alte Splitterstücke und schmutziges Holz ins Haus bringen. Doch heute war Mama genauso verrückt wie Papa. Als er mit den großen alten Holzsplittern aufgetaucht war, hatte sie sich einfach nur vorgebeugt, den Teppich aufgerollt und war Papa aus dem Weg gegangen.
Na ja, wer Papa nicht aus dem Weg ging, wenn er diesen sonderbaren Gesichtsausdruck hatte, der war auch viel zu dumm, um es zu überleben. David und Calm hatten Glück, sie konnten in ihre eigenen Häuser auf ihren eigenen Lichtungen zurückkehren, wo ihre eigenen Frauen ihnen ein Abendessen kochten, und sie konnten es sich aussuchen, ob sie verrückt werden wollten oder nicht. Die anderen hatten nicht soviel Glück. Wenn Papa und Mama verrückt waren, mußten sie es auch werden. Nicht eines der Mädchen zankte sich mit den anderen, und alle halfen sie, das Abendessen aufzutragen und danach wieder abzuräumen. Wastenot und Wantnot gingen hinaus und hackten Holz und molken die Kühe, ohne einander auch nur in den Arm zu knuffen, ganz zu schweigen von irgendwelchen Ringkämpfen, was für Alvin Junior eine große Enttäuschung war, weil er doch immer gegen den Verlierer ringen durfte. Measure saß einfach nur am Feuer, schnitzte einen großen Löffel für Mamas Kochtopf; er hob nicht einmal den Blick, doch wie alle anderen wartete er darauf, daß Papa wieder er selbst wurde und irgend jemanden anbrüllte.
Normal verhielt sich heute nur Calvin, der Dreijährige. Das Problem war nur, daß für den normal bedeutete, wie ein Kätzchen auf Mäusejagd hinter Alvin herzuzotteln. Er kam niemals nahe genug heran, um mit Alvin Junior zu spielen oder um ihn zu berühren oder mit ihm zu sprechen. Er war einfach nur da, immer nur am Rande des Geschehens, so daß Alvin immer gerade aufblickte, wenn Calvin den Blick abwandte, oder kurz sein Hemd aufblitzen sah, wenn er sich hinter eine Tür duckte, oder manchmal mitten in der Nacht nur ein Atmen vernahm, das ihm sagte, daß Calvin nicht auf seiner Pritsche lag, sondern direkt neben Alvins Bett stand und ihn beobachtete. Niemandem sonst schien das aufzufallen. Es war schon über ein Jahr her, seit Alvin ihn gebeten hatte, damit aufzuhören. Wenn Alvin Junior jemals gesagt hätte: »Ma, Cally belästigt mich«, hätte Mama einfach nur geantwortet: »Al Junior, er hat kein Wort gesagt, er hat dich nicht angefaßt, und wenn du es nicht magst, daß er so ruhig dasteht, ist das dein Pech, denn mir paßt es gut. Ich wünschte mir wirklich, daß einige meiner anderen Kinder lernen würden, so still zu sein.«
Alvin überlegte sich, daß nicht etwa Calvin heute normal war, es war lediglich so, daß der Rest der Familie sich seinem gewöhnlichen Grad der Verrücktheit angepaßt hatte.
Papa starrte unentwegt das gesplitterte Holz an. Dann und wann legte er es so zusammen, wie es vorher gewesen war. Einmal fragte er gedankenverloren: »Measure, bist du sicher, daß du alle Teile mitgebracht hast?«
Measure erwiderte: »Jedes einzelne Stück, Pa. Ich hätte nicht einmal mehr zusammenbekommen, wenn ich mich hinuntergebeugt und es wie ein Hund aufgeschleckt hätte.«
Ma hörte natürlich zu. Papa hatte einmal gesagt, daß Ma, wenn sie aufpaßte, mitten im Sturm, während die Mädchen mit dem Geschirr klapperten und die Jungen Holz hackten, auf eine halbe Meile Entfernung noch ein Eichhörnchen furzen hören konnte. Alvin Junior fragte sich manchmal, ob das bedeuten sollte, daß Ma mehr von Hexerei verstand, als sie zugab, denn er hatte einmal im Wald keine drei Ellen von einem Eichhörnchen entfernt über eine Stunde lang dagesessen und es nicht einmal Rülpsen gehört.
Jedenfalls war sie heute abend hier im Haus, so daß sie natürlich hörte, was Papa gefragt hatte, und sie hörte auch, was Measure antwortete, und da sie genauso verrückt war wie Papa, schimpfte sie sofort los, als hätte Measure den Namen des Herrn geschändet. »Hüte deine Zunge, junger Mann, denn der Herr sprach zu Moses auf dem Berg, ehre deinen Vater und deine Mutter, auf daß deine Tage zahlreich seien auf dem Land, das der Herr dein Gott dir gegeben hat. Wenn du frech mit deinem Vater redest, dann verkürzt du dein eigenes Leben um Tage und Wochen und sogar Jahre, und deine Seele ist nicht gerade in einem solchen Zustand, als daß du dir ein frühzeitiges Erscheinen vor dem Jüngsten Gericht wünschen solltest!«
Measure machte sich nur halb so wenig Sorgen über sein ewiges Leben wie darüber, daß Mama ihn ausschimpfte. Er versuchte überhaupt nicht, sich damit herauszureden, daß er doch gar nicht frech oder aufmüpfig sein wollte — nur ein Narr würde das tun, wenn Mama so in Fahrt war. Er zuckte einfach nur zusammen, blickte eingeschüchtert drein und bat sie um ihre Vergebung. Als sie schließlich mit ihrer Strafpredigt fertig war, hatte der arme Measure sich schon ein halbes Dutzend Mal entschuldigt, so daß sie sich schließlich wieder an ihre Näharbeit machte.
Dann hob Measure den Blick und zwinkerte Alvin Junior zu.
»Das habe ich gesehen«, sagte Mama, »und wenn du nicht in die Hölle kommst, dann werde ich persönlich eine Eingabe an Sankt Petrus richten, um dich dorthin zu schicken.«
»Diese Eingabe würde ich selbst unterschreiben«, sagte Measure und blickte so unterwürfig drein wie ein Hündchen, das gerade auf den Stiefel seines Herrn Pipi gemacht hatte.
»Und ob du das würdest«, erwiderte Mama, »und noch dazu in Blut, denn bis ich mit dir fertig bin, hast du genügend offene Wunden am Leib, um zehn Schreiberlinge ein ganzes Jahr lang mit strahlend roter Tinte zu versorgen.«
Alvin Junior konnte sich nicht mehr beherrschen. Ihre schreckliche Drohung belustigte ihn. Obwohl er wußte, daß er mit seinem Leben spielte, öffnete er den Mund, um zu lachen. Ihm war klar, wenn er lachte, würde Mama ihm vielleicht eine schallende Ohrfeige verpassen oder sie stampfte vielleicht sogar ihren harten, kleinen Fuß auf seinen nackten Fuß, wie einmal bei David, als der zu ihr gesagt hatte, daß sie manchmal lieber hätte nein sagen lernen sollen, bevor sie dreizehn Mäuler zu bekochen hatte.
Das hier war eine Sache von Leben und Tod, beängstigender als der Dachbalken, der ihn schließlich nie getroffen hatte, was man von Mama nicht behaupten konnte. Also fing er das Lachen ab, noch bevor es sich freistrampelte und verwandelte es in das erstbeste, was ihm zu sagen einfiel.
»Mama«, sagte er, »Measure kann dann gar keine Eingabe mehr in Blut unterschreiben, weil er dann ja schon tot ist, und tote Leute können nicht mehr bluten.«
Mama blickte ihm in die Augen und sprach langsam und betont: »Wenn ich ihnen das sage, tun sie es doch.«
Nun, das gab schließlich den Ausschlag. Alvin Junior platzte einfach laut lachend heraus. Und das ließ die Hälfte der Mädchen ebenfalls loslachen. Was wiederum Measure zum Lachen brachte. Und schließlich lachte auch Mama. Alle lachten sie, bis sie fast nur noch kreischten und Mama begann, ihre Kinder ins Bett zu schicken, Alvin Junior eingeschlossen.
All diese Aufregung hatte Alvin Junior ziemlich aufgekratzt zurückgelassen. Er hatte noch nicht gelernt, daß er seine Unruhe manchmal besser zügeln sollte. Matilda, die sechzehn war und sich für eine Dame hielt, stieg unmittelbar vor ihm die Stufen empor. Alle verabscheuten es, irgendwo hinter Matilda hergehen zu müssen, weil sie solch zarte, damenhafte Schritte machte. Measure meinte immer, daß er lieber im Gänsemarsch hinter dem Mond herschreiten würde, weil der sich schneller bewegte. Nun befand sich Matildas Hinterteil unmittelbar vor Al Juniors Gesicht, schwankte vor und zurück, und er dachte an Measures Worte und daran, daß Matildas Hinterteil ziemlich genauso rund war wie der Mond, und dann überlegte er sich, wie es wohl wäre, den Mond anzufassen, und ob er sich wohl so hart anfühlen würde wie der Rücken eines Käfers oder so glibschig wie eine Schnecke. Und wenn ein sechsjähriger Junge, der sich ohnehin schon aufgekratzt fühlte, einen solchen Gedanken in den Kopf bekam, dauerte es keinen Augenblick, bis er seine Finger zwei Zoll tief in zartem Fleisch vergraben hatte.
Matilda konnte richtig gut schreien.
Möglicherweise hätte sich Al auf der Stelle eine Ohrfeige gefangen, nur daß Wastenot und Wantnot unmittelbar hinter ihm waren, die ganze Sache mitansahen und Matilda so laut auslachten, daß sie anfing zu weinen und die Treppe emporfloh, immer zwei Stufen auf einmal und überhaupt nicht mehr damenhaft. Wastenot und Wantnot trugen Alvin die Treppe hinauf, sie hielten ihn dabei so hoch, daß ihm ein bißchen schwindelig wurde, und sangen dieses alte Lied über St. Georg, wie er den Drachen tötete, nur daß sie diesmal von St. Alvin sangen, und wo das Lied normalerweise davon handelte, wie er tausendmal in den alten Drachen hineinstieß und sein Schwert im Feuer nicht schmolz, verwandelten sie Schwert in Finger, so daß selbst Measure lachen mußte.
»Das ist ein schmutziges, schmutziges Lied!» rief die zehnjährige Mary, die draußen vor der Tür der großen Mädchen Wache stand.
»Hört lieber auf, dieses Lied zu singen«, sagte Measure, »bevor Mama euch noch hört.«
Alvin Junior verstand nie so recht, weshalb Mama dieses Lied nicht mochte, aber es stimmte, daß die Jungen es niemals in ihrer Gegenwart sangen, Die Zwillinge hörten auf zu singen und kletterten die Leiter zum Dachstuhl hinauf. In diesem Augenblick flog die Tür zum Zimmer der großen Mädchen auf, und Matilda steckte den Kopf heraus, die Augen ganz rot vom Weinen, und schrie: »Das wird dir noch leid tun!«
»Ooh, es tut mir ja so leid, es tut mir ja so leid«, quiekte Wantnot daraufhin.
Erst dann fiel Alvin ein, daß er, falls die Mädchen Rache nehmen sollten, das Hauptopfer sein würde. Calvin galt noch immer als das Baby, so daß er in Sicherheit war, und die Zwillinge waren älter und größer und immer zu zweit. Wenn die Mädchen sich also aufregten, fiel zuerst immer Alvin ihrem Zorn zum Opfer. Matilda war sechzehn, Beatrice fünfzehn, Elizabeth vierzehn, Anne zwölf und Mary war zehn, und alle zogen sie das Herumhacken auf Alvin so gut wie allen anderen Freizeitbeschäftigungen vor, die die Bibel erlaubte. Einmal, als sie Alvin über alle Maßen gequält hatten und nur Measures kräftige Arme verhinderten, daß er auf brutalste Weise mit einer Heugabel ermordet worden war, hatte Measure eingeworfen, daß die Qualen der Hölle höchstwahrscheinlich darin bestehen würden, zusammen mit fünf Frauen im selben Haus wohnen zu müssen. Seit dieser Zeit fragte Alvin sich, welche Sünde er wohl vor seiner Geburt begangen haben mochte, um es verdient zu haben, schon als Halbverdammter aufzuwachsen.
Alvin begab sich in das kleine Zimmer, das er sich mit Calvin teilte, und setzte sich dort einfach hin, darauf wartend, daß Matilda kommen und ihn umbringen würde. Doch sie kam und kam nicht. Endlich begriff er, daß sie wahrscheinlich wartete, bis die Kerzen alle gelöscht waren, damit niemand wissen konnte, welche von seinen Schwestern hereingeschlüpft war und ihm das Lebenslicht ausgepustet hatte. Der Himmel wußte sehr wohl, daß er ihnen allein schon in den letzten beiden Monaten reichlich Gründe geliefert hatte, um ihn sich tot zu wünschen. Er versuchte zu erraten, ob sie ihn mit Matildas Daunenkissen ersticken würden — was das erste Mal sein würde, daß er es jemals berühren dürfte — oder ob er mit Beatrices kostbarer Schere im Herzen sterben würde, als ihm plötzlich klar wurde, daß er, wenn er nicht binnen der nächsten fünfundzwanzig Sekunden aufs Örtchen gelangte, sich auf peinlichste Weise in die Hosen machen würde.
Aber natürlich war schon jemand auf dem Örtchen. Alvin stand hüpfend und schreiend drei Minuten lang davor, und noch immer kam niemand heraus. Ihm kam der Gedanke, daß es möglicherweise eines der Mädchen war, in diesem Fall wäre dies der teuflischste Plan, den sie je ausgeheckt hätten, ihm nämlich den Zugang zum Örtchen zu verweigern, wo sie doch genau wußten, daß er Angst davor hatte, nach Einbruch der Dunkelheit in den Wald zu gehen. Das war eine schreckliche Rache. Wenn er sich selbst beschmutzte, würde er sich so sehr schämen, daß er wahrscheinlich seinen Namen ändern und weglaufen mußte, und das war sehr viel schlimmer als ein Piekser in den Hintern.
Schließlich war er zornig genug, um die letztmögliche Drohung auszustoßen. »Wenn du nicht sofort rauskommst, dann mache ich hier vor die Tür, dann trittst du hinein, wenn du rauskommst!«
Er wartete, doch da der Jemand auf dem Örtchen nicht sagte: »Wenn du das tust, dann lasse ich dich meine Schuhe ablecken«, was doch eigentlich die übliche Erwiderung gewesen wäre, kam Al zum ersten Mal der Gedanke, daß womöglich doch keine seiner Schwestern auf dem Örtchen saß. Mit Sicherheit jedoch war es keiner der Jungen. Was nur noch zwei Möglichkeiten offenließ, eine schlimmer als die andere. Al war so wütend auf sich, daß er sich mit der Faust gegen den Kopf hieb, doch damit wurde die Sache auch nicht besser. Papa würde ihm wahrscheinlich eine Tracht Prügel verabreichen, noch schlimmer aber würde Mama sein. Sie würde ihn wahrscheinlich ausschimpfen, was schon schlimm genug war, aber wenn sie wirklich übler Laune sein sollte, würde sie diesen kalten Gesichtsausdruck aufsetzen und ganz leise sagen: »Alvin Junior, ich habe ja immer darauf gehofft, daß wenigstens einer meiner Jungen ein geborener Gentleman sein würde, aber jetzt muß ich einsehen, daß mein Leben umsonst gewesen ist«, was ihn sich immer so mies fühlen ließ, wie er sich nur fühlen konnte, ohne gleich zu sterben.
Daher war er fast erleichtert, als sich die Tür öffnete und Papa vor ihm stand.
»Kann ich in Sicherheit aus dieser Tür treten?» fragte er kühl.
»Ja«, erwiderte Alvin Junior.
»Wie?«
»Jawohl, Herr Papa.«
»Bist du sicher? Hier draußen gibt es ein paar wilde Tiere, die es für schlau halten, ihr Geschäft auf dem Boden vor der Tür des Örtchens zu machen. Ich sage dir eins, wenn es so ein Tier hier geben sollte, dann werde ich eine Falle aufstellen und es eines Nachts am Hinterteil erwischen. Und wenn ich es dann am Morgen vorfinde, dann nähe ich ihm sein Spundloch zu und lasse es laufen, damit es sich aufbläht und im Wald stirbt.«
»Tut mir leid, Papa.«
Papa schüttelte den Kopf und begann, auf das Haus zuzuschreiten. »Ich weiß nicht, was mit deinen Eingeweiden los ist, Junge. Im einen Augenblick mußt du nicht, und im nächsten stirbst du schon fast.«
»Na ja, wenn du einfach noch ein zweites Örtchen bauen würdest, hätte ich keine Schwierigkeiten«, brummte Al Junior. Doch Papa hörte ihn nicht, weil Alvin es tatsächlich erst aussprach, nachdem die Tür des Örtchens verschlossen und Papa ins Haus zurückgekehrt war.
Alvin wusch sich sehr lange die Hände an der Pumpe, weil er sich vor dem fürchtete, was ihn im Haus erwartete. Doch dann, allein hier draußen in der Dunkelheit, bekam er es aus anderen Gründen mit der Angst zu tun. Jedermann sagte, daß ein Weißer es niemals hören konnte, wenn ein Roter durch die Wälder schritt, und seine großen Brüder machten sich einigen Spaß daraus, Alvin zu erzählen, daß immer dann, wenn er allein draußen war, vor allem bei Nacht, einige Rote im Wald ihn beobachteten, mit ihren Tommy-Hawks mit den Feuersteinklingen spielten und es sie nur danach juckte, seinen Skalp zu bekommen. Bei hellem Tageslicht glaubte Alvin es nicht, aber in der Nacht durchzog ihn Eiseskälte, und er dachte daran, daß er nicht einmal wußte, wo der Rote wohl gerade stand. Vielleicht direkt hinter ihm, neben dem Schweinestall und so leise, daß die Schweine nicht einmal grunzten und die Hunde weder bellten noch sonst etwas taten. Und dann würden sie seine Leiche finden, ganz haarlos und blutig, und dann würde es zu spät sein. So schlimm seine Schwestern auch waren — und sie waren wirklich schlimm —, meinte Al doch, daß es immer noch besser sei zurückzukehren, als an dem Feuerstein eines roten Mannes zu sterben. So flog er denn fast von der Pumpe zum Haus hinüber und blickte sich nicht um, um nachzusehen, ob der Rote wirklich da war.
Sobald die Tür wieder geschlossen war, vergaß er seine Furcht vor den lautlosen, unsichtbaren Roten. Im Haus war alles sehr still, was an sich schon ziemlich verdächtig war. Die Mädchen waren niemals so still, bevor Papa sie nicht mindestens dreimal pro Nacht angebrüllt hatte. Also war Alvin sehr vorsichtig, während er hinaufging, spähte bei jedem Schritt nach vorn, blickte so oft über die Schulter zurück, daß ihm schon das Genick weh zu tun begann. Als er schließlich in seinem Zimmer angekommen war und die Tür geschlossen hatte, war er so zittrig, daß er fast schon hoffte, sie würden endlich tun, was sie vorhatten, um es hinter sich zu bringen.
Doch sie taten und taten es nicht. Er sah sich im Kerzenlicht im Zimmer um, drehte sein Bett um, blickte in jede Ecke, doch er entdeckte nichts. Calvin schlief, den Daumen in den Mund gesteckt, was bedeuten mußte, daß sie, wenn sie tatsächlich in seinem Zimmer umhergeschlichen waren, es schon vor geraumer Weile getan haben mußten. Er begann sich zu fragen, ob die Mädchen sich ausnahmsweise dazu entschieden hatten, ihn in Frieden zu lassen oder ihre schmutzigen Streiche sogar den Zwillingen zu spielen. Es würde ein völlig neues Leben für ihn anbrechen, wenn die Mädchen anfangen sollten, nett zu sein. So als würde ein Engel herabsteigen und ihn aus der Hölle emporheben.
So schnell er konnte, zog er seine Kleider aus, faltete sie zusammen und legte sie neben seinem Bett auf den Schemel, damit sie am Morgen nicht voller Küchenschaben waren. Er hatte eine Art Abmachung mit den Schaben. Sie konnte in alles hineinkriechen, was sich am Boden befand, durften aber weder in Calvins noch in Alvins Bett und auch nicht auf seinen Schemel. Als Gegenleistung zertrampelte Alvin sie nie. Als Folge davon war Alvins Zimmer so etwas wie das Küchenschabenallerheiligste des Hauses, doch da sie sich an die Abmachung hielten, waren er und Calvin die einzigen, die niemals aufwachten und Küchenschaben in ihrem Bett fanden.
Er nahm sein Nachthemd vom Haken und streifte es über den Kopf.
Irgend etwas biß ihn unter dem Arm. Der stechende Schmerz ließ ihn aufschreien. Etwas anderes biß ihn an der Schulter. Was immer es war, es befand sich überall in seinem Nachthemd, und als er es von sich riß, knabberte es weiterhin überall an ihm herum. Endlich hatte er es abgelegt und fuhr, mit den Händen über die Haut, um die Insekten oder was immer es sein mochte abzustreifen.
Dann griff er hinunter und nahm vorsichtig sein Nachthemd auf. Er sah nichts, was hastig davongeeilt wäre, und selbst als er es schüttelte und schüttelte, fiel kein Insekt heraus. Dafür etwas anderes. Es glitzerte einen Augenblick im Kerzenlicht und gab ein winziges, plinkendes Geräusch, als es auf den Boden fiel.
Erst dann bemerkte Alvin Junior das erstickte Kichern aus dem Nachbarzimmer. Oh, sie hatten ihm doch wieder einen Streich gespielt! Er setzte sich auf die Bettkante, pickte Nadeln aus seinem Nachthemd und stach sie in die untere Ecke seiner Steppdecke. Er hätte nie geglaubt, daß sie so verrückt sein könnten, den Verlust von einer von Mamas kostbaren Stahlnadeln zu riskieren, nur um sich an ihm zu rächen. Doch er hätte es wissen müssen. Mädchen hielten sich nie an irgendwelche Spielregeln so wie Jungen. Wenn ein Junge einen im Ringkampf umschubste, dann stürzte er sich entweder auf einen oder wartete, bis man wieder aufgestanden war, so oder so befand man sich dann auf gleicher Stufe — entweder beide aufrecht stehend oder beide am Boden liegend. Doch Al wußte aus schmerzvoller Erfahrung, daß Mädchen einen traten, wenn man am Boden lag, und sich gegen einen verbündeten, wann immer sie dazu Gelegenheit hatten. Wenn sie kämpften, so kämpften sie, um den Kampf möglichst schnell zu beenden, was der Sache immer jeden Spaß nahm.
Heute nacht war es genauso. Es war keine gerechte Strafe, da hatte er sie mit seinem Finger gepiekst und sie hatten ihn mit Nadeln übersät. Vielleicht blutete er sogar, so tief hatten sie eingestochen. Alvin glaubte, daß Matilda nicht einmal eine Schramme hatte, obwohl er sich wünschte, sie hätte eine.
Alvin Junior war nicht gemein, o nein, aber wie er so auf der Bettkante saß, Nadeln aus seinem Nachthemd holte und die Schaben beobachtete, die in den Bodenritzen ihren Geschäften nachgingen, mußte er sich einfach vorstellen, wie es wohl wäre, wenn all diese Schaben einem bestimmten Zimmer einen kleinen Besuch abstatteten.
Also kniete er auf dem Boden nieder, stellte die Kerze dort ab und begann, den Schaben etwas zuzuflüstern, genau wie an jenem Tag, da er mit ihnen das Abkommen geschlossen hatte. Er erzählte ihnen alles über schöne glatte Laken und weiche, glibschige Haut, über die sie krabbeln konnten, am meisten aber über Matildas seidenes Gänsedaunenkissen. Doch das schien die Schaben nicht sonderlich zu interessieren. Nichts als hungrig sind sie, dachte Alvin. Ihnen ist nur Essen wichtig. Also begann er, ihnen von den allerköstlichsten Speisen zu erzählen, die sie jemals im Leben bekommen hatten. Die Schaben wurden sofort aufmerksam und kamen näher, um ihm zuzuhören, obwohl nicht eine von ihnen an ihm heraufkrabbelte, was völlig den Bestimmungen des Abkommens entsprach. Soviel zu essen, wie ihr euch nur wünschen könnt, überall auf dieser weichen rosa Haut verteilt. Und sicher lauert dort nicht die leiseste Gefahr, ihr braucht euch nicht die geringsten Sorgen zu machen, ihr braucht dort einfach nur hineinzukrabbeln und das Essen auf der weichen rosa, glibschigen, glatten Haut zu suchen.
Tatsächlich huschten einige Schaben unter Alvins Tür hinaus, dann mehr und mehr von ihnen, und schließlich verschwand die ganze Truppe in einem einzigen großen Kavallerieangriff unter der Tür, ohne jede Angst, weil Al ihnen gesagt hatte, daß es nichts zu fürchten gab.
Keine zehn Sekunden, da hörte er aus dem Nachbarzimmer den ersten Aufschrei. Und schon eine Minute später war das ganze Haus in einem solchen Aufruhr, daß man hätte glauben können, es würde brennen. Kreischende Mädchen, schreiende Jungen und große alte Stiefel, die umherstampften, als Papa die Treppe hinaufgeeilt kam und Schaben zerquetschte. Al fühlte sich so glücklich wie ein Schwein, das sich im Schlamm suhlte.
Schließlich begannen die Dinge sich im Nebenzimmer zu beruhigen. Gleich würden sie kommen, um nach ihm und Calvin zu sehen, daher blies er die Kerze aus, huschte unter die Laken und flüsterte den Schaben zu, sie sollten sich verstecken. Und tatsächlich, wenig später ertönten draußen im Gang auch schon Mamas Schritte. Im allerletzten Augenblick fiel Alvin Junior ein, daß er ja gar nicht sein Nachthemd trug. Er ließ die Hand hervorschießen, packte das Nachthemd und riß es unter das Laken, gerade als sich die Tür öffnete. Dann konzentrierte er sich darauf, leicht und regelmäßig zu atmen.
Mama und Papa kamen mit Kerzen herein. Er hörte, wie sie Calvins Laken umschlugen, um es nach Schaben zu überprüfen und fürchtete schon, daß sie auch sein Bett untersuchen würden, denn es war eine Sünde, splitternackt zu schlafen wie ein Tier. Aber die Mädchen, die genau wußten, daß er unmöglich nach ihrem Streich schon schlafen konnte, hatten natürlich Angst davor, von Alvin verpetzt zu werden, daher sorgten sie dafür, daß Mama und Papa das Zimmer schnell wieder verließen. Alvin behielt eine völlig reglose Miene bei, zuckte nicht einmal mit den Augenlidern. Die Kerze verschwand, leise schloß sich die Tür.
Er wartete ab, und tatsächlich öffnete die Tür sich bald wieder. Er hörte nackte Füße über den Boden trappeln. Dann spürte er Annes Atem und vernahm ihr Flüstern: »Wir wissen zwar nicht, wie du das gemacht hast, Alvin Junior, aber wir wissen genau, daß du diese Schaben auf uns gehetzt hast.«
Alvin tat so, als würde er überhaupt nichts hören. Er schnarchte sogar ein bißchen.
»Mich legst du nicht rein, Alvin Junior. Heute nacht solltest du lieber nicht einschlafen, denn wenn du es tust, wirst du nie wieder aufwachen, hast du mich gehört?«
Draußen vor dem Zimmer fragte Papa gerade: »Wohin ist Anne verschwunden?«
Sie ist hier drin, Papa, und droht, mich umzubringen, dachte Alvin. Aber natürlich sprach er es nicht laut aus. Außerdem wollte sie ihm ja sowieso nur Angst einjagen.
»Wir lassen es wie einen Unfall aussehen«, sagte Anne. »Du hast ja ständig Unfälle, da wird niemand es für einen Mord halten.«
Alvin begann, ihr immer und immer mehr zu glauben.
»Wir werden deine Leiche hinaustragen und sie in das Loch vom Örtchen stopfen, dann werden alle glauben, daß du dich erleichtern wolltest und hineingefallen bist.«
Das würde tatsächlich funktionieren, dachte Alvin. Es sah Anne ähnlich, daß sie sich so einen teuflischen Plan ausdachte; sie war unschlagbar darin, einen heimlich zu kneifen und bereits zehn Fuß weit entfernt zu sein, noch bevor man angefangen hatte zu kreischen. Deshalb hielt sie ihre Fingernägel auch immer so lang und spitz. Schon jetzt konnte Alvin einen dieser spitzen Nägel spüren, wie er über seine Wange kratzte.
Die Tür ging ein Stückchen weiter auf. »Anne«, flüsterte Mama, »komm sofort da raus.«
Der Fingernagel hörte auf zu kratzen. »Ich wollte nur sichergehen, daß Kleinalvin in Ordnung ist.«
Ihre nackten Füße trippelten wieder aus dem Zimmer, und die Tür schloß sich.
Er wußte, daß er eigentlich über Annes Drohungen zu Tode verängstigt sein müßte, doch das war er nicht. Er hatte die Schlacht gewonnen. Er stellte sich vor, wie die Schaben von oben bis unten über die Mädchen krochen, und er fing an zu lachen, doch er durfte sich nicht verraten, sondern mußte dieses Lachen unterdrücken, mußte so ruhig atmen, wie er nur konnte. Sein ganzer Körper zitterte bei dem Versuch, das Lachen aufzuhalten.
Es war jemand im Raum.
Er konnte nichts hören, und als er die Augen öffnete, konnte er auch niemanden erkennen. Doch er wußte, daß jemand da war. Aber nicht durch die Tür eingetreten, also mußte der Jemand durch das offene Fenster gekommen sein. Das ist doch einfach nur albern, sagte Alvin sich, hier drinnen ist keine Menschenseele. Doch er blieb still liegen.
Alles Lachen war von ihm gewichen, weil er es fühlen konnte, daß jemand dort stand. Nein, das ist ein Alptraum, nicht mehr, ich bin immer noch erschrocken von dem Gedanken an die Roten, die mich draußen beobachten, oder vielleicht auch von Annes Drohung; wenn ich einfach hier mit geschlossenen Augen liegenbleibe, wird es schon wieder verschwinden.
Die Schwärze im Inneren von Als Augenlidern wurde rosa. Licht war plötzlich in seinem Zimmer. Ein Licht, so hell wie der Tag. Auf der ganzen Welt gab es keine Kerze, nein, nicht einmal eine Laterne, die so hell leuchten konnte. Al öffnete die Augen, und all seine Furcht verwandelte sich in Entsetzen, denn nun sah er, daß das, was er befürchtet hatte, wirklich war.
Am Fußende seines Betts stand ein Mann, der so leuchtete, als wäre er aus Sonnenlicht. Das Licht im Raum strahlte aus seiner Haut hervor, aus seiner Brust, dort, wo sein Hemd aufgerissen war, aus seinem Gesicht, aus seinen Händen. Und in einer dieser Hände ein Messer, ein scharfes Stahlmesser. Ich werde sterben, dachte Al. Genau wie Anne es mir versprochen hat, nur daß es für seine Schwestern nicht die geringste Möglichkeit gab, eine derart mächtige Erscheinung wie diese heraufzubeschwören. Dieser helle leuchtende Mann war von allein gekommen, soviel war sicher, und er wollte Alvin Junior wegen seiner Sünden umbringen und nicht etwa, weil jemand anders ihn auf ihn angesetzt hatte.
Dann schien es so, als würde das Licht des Mannes sich durch Alvins Haut bohren und in ihn eindringen, und da wich alle Furcht von ihm. Der leuchtende Mann hatte zwar ein Messer dabei, und vielleicht war er auch wirklich in den Raum getreten, ohne die Tür auch nur einen winzigen Spalt aufzuschieben, doch er wollte Alvin nichts Böses. Also entspannte Alvin sich ein wenig und zappelte sich im Bett ein bißchen hoch, bis er fast saß, den leuchtenden Mann im Auge und darauf wartend, was er tun würde.
Der leuchtende Mann nahm sein helles Stahlmesser und führte die Klinge gegen seine andere Handfläche — und schnitt zu. Alvin sah das glitzernde rote Blut aus der Wunde in der Hand des leuchtenden Mannes strömen, seinen Unterarm hinab und vom Ellenbogen hinunter auf den Boden tropfen. Doch hatte er keine vier Tropfen geschaut, als er plötzlich eine Vision hatte. Er konnte das Zimmer seiner Schwestern erkennen, aber es war völlig verändert. Die Betten war sehr hoch, und seine Schwestern waren Riesinnen, so daß er nichts sehen konnte außer großen ollen Füßen und Beinen. Da begriff er, daß er das Zimmer aus der Sicht eines winzigen Wesens betrachtete, nämlich einer Küchenschabe. In seiner Vision krabbelte er eilig voran, von Hunger erfüllt, völlig furchtlos, wissend, daß es, wenn er nur auf einen dieser Füße krabbeln konnte, soviel Nahrung geben würde, wie er sich nur wünschte. Also eilte er weiter, kletterte, krabbelte, suchte. Doch es gab keine Nahrung, statt dessen griffen riesige Hände nach ihm und schubsten ihn fort, und ein großer, riesiger Schatten war plötzlich über ihm, und er spürte den harten, stechenden Schmerz des Todes.
Nicht nur einmal, sondern viele Male. Zigmal spürte er diese Hoffnung auf Nahrung, diese Zuversicht, daß ihm nichts geschehen würde, und dann die Enttäuschung, nichts zu essen zu bekommen, und das Entsetzen und das Erstaunen und — den Tod. Jedes kleine, vertrauensselige Leben betrogen, zerquetscht, zerschlagen.
Und dann war er in seiner Vision einer der Überlebenden, einer, dem es gelang, vor den stampfenden Stiefeln zu fliehen, unter die Betten, in die Ritzen der Wände hinein. Er floh aus dem Raum des Todes, aber nicht zurück an den alten Ort, nicht zurück in das sichere Zimmer, denn das war nicht mehr sicher, sondern der Ort, wo die Lügen herkamen, das war der Raum des Verräters, der sie hierher geschickt hatte, um zu sterben. In dieser Vision gab es natürlich keine Worte. Es konnte keine Worte geben, keinen klaren Gedanken im Hirn einer Schabe. Aber Al hatte Worte und Gedanken, und er wußte besser als jede Schabe, was die Schaben gelernt hatten. Man hatte ihnen etwas in dieser Welt versprochen, man hatte sie sich dessen sicher gemacht, und dann war es eine Lüge gewesen. Der Tod war etwas Fürchterliches, ja, fliehe diesen Raum; aber im anderen Raum war noch etwas Schlimmeres als der Tod — dort war die Welt verrückt geworden, ein Ort, wo alles passieren konnte und wo man niemandem mehr trauen durfte.
Dann endete die Vision. Alvin saß da, die Hände auf die Augen gepreßt, verzweifelt schluchzend. Sie haben gelitten, schrie er stumm heraus, und ich habe es ihnen angetan, ich habe sie verraten. Deshalb ist der leuchtende Mann gekommen, um mir das zu zeigen. Ich habe gemordet.
Nein, nicht gemordet! Wer hätte jemals gesagt, daß das Töten von Schaben Mord war?
Aber es spielte keine Rolle, wie andere Leute darüber dachten, überlegte Al. Der leuchtende Mann war gekommen, um ihm zu zeigen, daß Mord Mord war.
Und nun war der leuchtende Mann verschwunden. Als Al die Augen öffnete, war niemand mehr im Raum außer Cally, der fest schlief. Er konnte auch nicht mehr Vergebung bitten. In schierer Pein schloß Al Junior die Augen und weinte noch etwas.
Wie lang war das her? Ein paar Sekunden? Oder war Alvin eingeschlafen und hatte nicht bemerkt, wieviel Zeit verstrichen war? Egal wie lang — jedenfalls kam das Licht zurück. Wieder drang es in ihn hinein, nicht nur durch seine Augen, sondern bis in sein Herz, flüsterte ihm zu, beruhigte ihn. Wieder öffnete Alvin die Augen, schaute das Gesicht des leuchtenden Mannes und wartete darauf, daß er etwas sagen würde. Als er nichts sagte, glaubte Alvin, daß er an der Reihe sei, also stammelte er ein paar Worte; sie waren so schwach im Vergleich zu den Gefühlen in seinem Herzen. »Es tut mir leid, ich werde es nie wieder tun, ich werde…«
Er plapperte nur so vor sich hin und konnte nicht einmal sich selbst sprechen hören, so durcheinander war er. Doch das Licht wurde einen Augenblick lang heller, und er spürte eine Frage in seinem Geist. Zwar wurde kein Wort gewechselt, aber er erkannte dennoch, daß der leuchtende Mann von ihm wissen wollte, was ihm denn leid tat.
Und als er darüber nachdachte, wußte Alvin nicht mehr genau, was eigentlich verkehrt gewesen war. Bestimmt doch nicht das Töten selbst — man konnte schließlich verhungern, wenn man nicht gelegentlich ein Schwein schlachtete, außerdem war es doch wohl kein Mord, wenn ein Wiesel eine Maus tötete, oder?
Dann senkte sich das Licht wieder auf ihn herab, und er hatte eine weitere Vision. Diesmal keine Schaben. Nun erblickte er einen Roten Mann, der nach einem Reh rief, damit es kam und starb. Das Reh näherte sich, zitternd und mit geweiteten Augen, weil es wußte, daß es zum Sterben kam. Der Rote ließ einen Pfeil hervorschnellen, und im nächsten Moment traf er auch schon die Flanke des Rehs. Die Beine des Tieres bebten. Es stürzte. Alvin wußte, daß in dieser Vision überhaupt keine Sünde war, denn sterben und töten waren zwei verschiedene Seiten des Lebens. Der Rote tat recht und ebenso das Reh, denn beide gehorchten ihrem natürlichen Gesetz.
Wenn das Böse, das er getan hatte, also nicht im Tod der Schaben lag, worin dann? In der Macht, die er besaß? In seiner Fähigkeit, dafür zu sorgen, daß die Dinge dort hingingen, wo er sie hinhaben wollte, daß sie genau an der richtigen Stelle zerbrachen, in seinem Verstehen darum, wie die Dinge sein sollten? Das hatte er als ziemlich nützlich empfunden, wie er all die Dinge gemacht und repariert hatte, die ein Junge in einem Haushalt auf dem wilden Land eben so machte und reparierte. Er konnte die beiden Stücke eines gebrochenen Sensengriffs zusammenfügen, so fest zusammen, daß sie auf alle Zeiten zusammenblieben, ohne Leim oder Nagel. Oder auch zwei Stücke zerrissenen Leders, er brauchte sie nicht einmal zu nähen. Seine Fertigkeit hatte er bei den Schaben angewandt, indem er ihnen beibrachte, das zu tun, was er wollte. War diese Fähigkeit etwa eine Sünde?
Der leuchtende Mann hörte seine Frage, noch bevor er Worte dafür gefunden hatte. Wieder schob ihn das Licht, wieder kam eine Vision. Diesmal sah er sich selbst, wie er mit den Händen gegen einen Stein drückte, der wie Butter unter seinen Händen zerschmolz und genau die Form annahm, die er haben wollte, glatt und rund, ein Ball, eine Kugel, die immer größer und größer wurde, bis sie zu einer ganzen Welt geworden war, geformt, wie seine Hände sie erschaffen hatten, mit Bäumen und Tieren, die rannten und sprangen, flogen und schwammen, krabbelten und gruben. Nein, er verfügte über keine schreckliche Macht, sondern eine wunderbare, wenn er nur lernte, sie zu nutzen.
Nun, wenn es nicht das Sterben und nicht seine Macht waren, was habe ich denn dann falsch gemacht?
Diesmal zeigte ihm der leuchtende Mann überhaupt nichts, keinen Lichtausbruch, keine Vision. Statt dessen kam die Antwort einfach aus dem Inneren seines eigenen Selbst. In einem Augenblick hatte er sich noch viel zu dumm gefühlt, um seine eigene Bösartigkeit zu begreifen, und im nächsten sah er sie so klar, wie man sie nur sehen konnte.
Verwerflich war nicht der Tod der Schaben, sondern allein die Tatsache, daß alles nur seinem eigenen Vergnügen gedient hatte. Er hatte die Schaben in den Tod geschickt und seinen Schwestern geschadet, nur damit er im Bett liegen und sich vor Lachen schütteln konnte, weil er sich gerächt hatte…
Der leuchtende Mann hörte die Gedanken von Alvins Herz, jawohl, und Alvin Junior sah, wie ein Feuer aus seinem blitzenden Auge hervorsprang und ihn ins Herz traf. Er hatte es erraten. Er hatte recht.
Also leistete Alvin das feierlichste Versprechen seines ganzen Lebens. Er hatte eine Fähigkeit, und er würde sie nutzen, aber er würde sich an gewisse Gesetze halten, auch wenn es ihn umbrachte. »Ich werde es niemals mehr für mich selbst anwenden«, sagte Alvin Junior. Und als er diese Worte aussprach, hatte er das Gefühl, als würde sein Herz brennen, so heiß war es darin.
Der leuchtende Mann verschwand wieder.
Alvin lehnte sich zurück, glitt unter die Decke, erschöpft vom Weinen und matt vor Erleichterung. Er hatte etwas Schlimmes getan. Doch solange er seinen Schwur hielt und seine Fähigkeit nur benutzte, um anderen Menschen zu helfen und sie niemals benutzte, um sich selbst zu helfen, solange würde er ein guter Junge sein und brauchte sich nicht zu schämen. Er fühlte sich so leicht im Kopf, als wäre er aus einem Fiebertraum erwacht, und so ähnlich war es ja auch, denn er war von einer Bösartigkeit geheilt worden, die eine Weile in ihm herangewachsen war.
Während er so dalag, spürte Alvin erneut, wie das Licht im Raum anschwoll. Doch diesmal kam es nicht von dem leuchtenden Mann. Als er die Augen öffnete, erkannte er, daß das Licht aus ihm selbst hervorkam. Seine eigenen Hände leuchteten, sein eigenes Gesicht mußte ebenso glühen wie das des leuchtenden Mannes. Er warf seine Decken zurück und sah, daß sein ganzer Körper von einem Licht erstrahlte, das so blendend war, daß er es kaum ertrug, sich selbst zu betrachten. Bin ich das? dachte er.
Nein, nicht ich. Ich leuchte so, weil ich etwas tun soll. Genau wie der leuchtende Mann etwas für mich getan hat, muß ich auch etwas tun. Aber für wen soll ich etwas tun?
Plötzlich war der leuchtende Mann wieder am Fußende seines Bettes, doch er leuchtete nicht mehr. Nun erst begriff Al Junior, daß er diesen Mann kannte. Es war Lolla-Wossiky, dieser einäugige Whiskey-Rote, der sich vor ein paar Tagen hatte taufen lassen, noch immer in den Kleidern des Weißen Mannes, die sie ihm gegeben hatten, als er Christ geworden war. Mit dem Licht in seinem Inneren konnte Alvin nun klarer sehen als jemals zuvor. Er sah, daß es nicht der Fusel war, der diesen armen Roten Mann vergiftete, und es war auch nicht der Verlust des einen Auges, der ihn verkrüppelte, sondern etwas viel Finstereres, etwas, das wie Schimmel im Inneren seines Kopfes wuchs.
Der Rote Mann machte drei Schritte vor und kniete neben dem Bett nieder, sein Gesicht war nur ein kleines Stück von Alvins Augen entfernt. Was willst du von mir? Was soll ich tun?
Zum ersten Mal öffnete der Mann seine Augen und sprach. »Mach alle Dinge ganz«, sagte er. Im nächsten Augenblick begriff Al Junior, daß der Mann es in seiner eigenen Sprache gesagt hatte, doch Al hatte es so deutlich verstanden, als wäre es das Englisch des Lordprotektors persönlich gewesen. Mach alle Dinge ganz.
Nun, das war ja schließlich Als Fertigkeit: Dinge zu reparieren, dafür zu sorgen, daß die Dinge so liefen, wie sie sollten. Das Problem war nur, daß er selbst nicht so richtig begriff, wie er das anstellte, außerdem hatte er keinerlei Vorstellung, wie er etwas reparieren sollte, das lebendig war.
Aber vielleicht brauchte er es auch gar nicht zu verstehen. Vielleicht mußte er einfach nur handeln. Also hob er die Hand, streckte sie so vorsichtig aus, wie er konnte, und berührte Lolla-Wossikys Wange unter dem kaputten Auge. Nein, das war nicht richtig. Er hob den Finger, bis er das schlaffe Augenlid berührte, dort, wo das andere Auge des Roten sein mußte. Ja, dachte er. Sei ganz.
Die Luft knisterte. Lichtfunken. Al stöhnte auf und riß die Hand zurück.
Alles Licht war aus dem Raum verschwunden. Nun kam nur noch das Mondlicht durch das Fenster herein. Von der Helligkeit war nicht einmal mehr ein Glimmern übrig. Ganz so, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht.
Alvins Augen brauchten eine Minute, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Es war kein Traum, soviel war sicher. Denn dort stand der Rote, der einst der leuchtende Mann gewesen war. Man träumt nicht, wenn neben dem Bett ein Roter Mann kniet, aus dessen gesundem Auge die Tränen hervorströmten, während das andere Auge, wo man ihn gerade berührt hatte…
»Es hat nicht geklappt«, flüsterte Alvin. »Es tut mir leid.«
Es war mehr als schändlich, daß der leuchtende Mann ihn von seiner schrecklichen Bösartigkeit errettet hatte, aber er hatte nichts für ihn tun können. Der Rote Mann sagte jedoch kein Wort des Vorwurfs. Statt dessen griff er mit beiden großen, kräftigen Händen nach Alvins nackten Schultern und drückte ihn eng an sich, küßte ihn auf die Stirn, hart und fest, wie ein Vater seinen Sohn oder wie wahre Freunde vor dem Tag, da sie sterben werden. Dieser Kuß und alles, was er enthielt, Hoffnung, Vergebung, Liebe — laß mich ihn niemals vergessen, sagte Alvin stumm.
Lolla-Wossiky sprang auf die Beine, bewegte sich flink wie ein Junge, gar nicht wie ein Betrunkener. Verändert, er war tatsächlich verändert. Alvin kam der Gedanke, daß er möglicherweise doch etwas geheilt hatte, etwas, das tiefer ging als diese Augen. Vielleicht hatte er ihn von der Gier nach Whiskey befreit.
Doch wenn das stimmte, so wußte Al doch, daß nicht er selbst dieses Wunder vollbracht hatte. Es war das Licht gewesen, das sich für eine Weile in ihm befunden hatte; das Feuer, das ihn gewärmt hatte, ohne ihn zu verbrennen.
Der Rote Mann stürzte zum Fenster hinüber, schwang sich über den Sims und verschwand. Alvin hörte nicht einmal, wie seine Füße draußen den Boden berührten, so leise war er.
Wie lange hatte das gedauert? Stunden über Stunden? Würde bald der Tag anbrechen? Oder waren nur wenige Augenblicke verstrichen, seit Anne ihm etwas ins Ohr geflüstert und die Familie sich beruhigt hatte?
Nicht so wichtig. Alvin konnte nicht schlafen, nicht nach alledem, was passiert war. Warum war dieser Rote zu ihm gekommen? Was hatte all das zu bedeuten, das Licht, das Lolla-Wossiky erfüllt hatte und dann auch ihn? Er konnte einfach nicht hier im Bett liegenbleiben, so erregt, wie er war. Also stand er auf, glitt so schnell er konnte in sein Nachthemd und schlüpfte aus der Tür.
Draußen im Gang hörte er Stimmen. Mama und Papa unten waren noch immer auf. Zunächst wollte er hinunterstürzen und ihnen erzählen, was ihm alles geschehen war. Doch dann bemerkte er, wie sie sich unterhielten; voller Zorn und Furcht. Keine gute Zeit, um ihnen von einem Traum zu erzählen. Auch wenn Alvin wußte, daß es überhaupt kein Traum gewesen war, sie würden es wie einen Traum behandeln. Und nun, da er richtig darüber nachdachte, wußte er, daß er ihnen überhaupt nichts davon erzählen durfte. Sollte er etwa sagen, daß er die Schaben ins Zimmer seiner Schwester geschickt hatte? Dann würde alles herauskommen, die Nadeln, das Gepieke, die Drohungen, auch wenn es für Alvin schon Monate, ja Jahre her war. Nichts davon spielte jetzt noch eine Rolle, verglichen mit dem Eid, den er geleistet hatte, und der Zukunft, die vor ihm lag — aber für Mama und Papa würde es eine Rolle spielen.
Also schlich er sich auf Zehenspitzen den Gang und die Treppe hinunter, gerade so weit, um zuhören zu können, ohne entdeckt zu werden.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis er sich näher herantraute. Er kroch weiter hinunter, um in den großen Raum spähen zu können. Papa saß auf dem Boden, von Holz umgeben. Al Junior war überrascht, daß Papa noch immer das Holz untersuchte, selbst nachdem das Unglück mit den Schaben geschehen war. Er hatte sich inzwischen vorgebeugt, das Gesicht in den Händen vergraben. Mama kniete vor ihm, zwischen ihnen lagen die größten Holzstücke.
»Er lebt, Alvin«, sagte Mama. »Alles andere ist unwichtig.«
Papa hob den Kopf und sah sie an. »Es war Wasser, das in diesen Baum gesickert ist, um zu frieren und wieder zu tauen, lange bevor wir ihn gefällt haben. Und wir haben ihn gerade so gefällt, daß die Schwachstelle an der Oberfläche nicht zu erkennen war. Aber er war innen dreifach gebrochen, wartete nur auf das Gewicht des Dachbalkens. Das hat das Wasser angerichtet.«
»Wasser«, wiederholte Mama verächtlich.
»Vierzehnmal hat das Wasser versucht, ihn umzubringen.«
»Kinder geraten immer in Gefahr.«
»Damals, als du auf einem feuchten Boden ausgerutscht bist, während du ihn gerade im Arm hieltest. Damals, als David den kochenden Kessel umwarf. Dreimal hat er sich verirrt, und wir haben ihn am Flußufer wiedergefunden. Im letzte Winter, als das Eis auf dem Tippy-Canoe brach…«
»Bildest du dir ein, daß er das erste Kind ist, das jemals ins Wasser gefallen ist?«
»Das giftige Wasser, das ihn Blut erbrechen ließ. Der schlammbedeckte Büffel, der ihn auf der Weide angegriffen hat…«
»Schlammbedeckt. Jeder weiß doch, daß Büffel sich suhlen wie die Schweine. Das hat überhaupt nichts mit Wasser zu tun.«
Plötzlich schlug Papa mit der Faust hart auf den Boden. Das Geräusch hallte wie ein Gewehrschuß durchs Haus. Mama erschrak und schaute zur Treppe empor, dorthin, wo die Kinder schliefen. Alvin Junior huschte blitzschnell wieder die Treppe hinauf und wartete, daß sie ihm befahl, wieder ins Bett zurückzukehren. Doch sie hatte ihn anscheinend nicht gesehen, denn sie rief überhaupt nichts und kam ihm auch nicht nach.
Als er sich auf Zehenspitzen wieder hinabschlich, stritten sie immer noch, nur ein wenig leiser.
Papa flüsterte, doch in seinen Augen loderte Feuer. »Wenn du glaubst, daß das hier nichts mit Wasser zu tun hat, dann bist du die Wahnsinnige.«
Mama wirkte jetzt ganz eisig. Alvin Junior kannte diesen Blick — wütender konnte Mama gar nicht mehr werden. Da gab es keine Ohrfeigen, kein Ausschimpfen. Nur Kälte und Schweigen, und jedes Kind, das von ihr so behandelt wurde, sehnte sich schon bald nach dem Tod und den Qualen der Hölle, weil es dort wenigstens wärmer wäre.
Bei Papa schwieg sie nicht, doch ihre Stimme war entsetzlich kalt. »Der Heiland selbst hat Wasser vom Samariterbrunnen getrunken.«
»Ich kann mich aber nicht daran erinnern, daß Jesus in diesen Brunnen hineingefallen wäre«, erwiderte Papa.
Alvin Junior dachte daran, wie er sich am Schöpfeimer festgehalten hatte, während er in die Dunkelheit hinabgestürzt war, bis das Seil an der Winde griff und der Eimer dicht oberhalb des Wassers hängenblieb. Man hatte ihm erzählt, daß er damals keine zwei Jahre alt gewesen war, doch noch immer träumte er manchmal, wie er tiefer und tiefer in den Brunnen fiel und wie es immer dunkler und dunkler um ihn wurde. In seinen Träumen war der Brunnen zehn Meilen tief, und er stürzte endlos lange in die Tiefe, bevor er endlich aufwachte.
»Dann denk mal an folgendes, Alvin Miller, da du ja meinst, du würdest die Heilige Schrift kennen.«
Papa wollte protestieren, daß er nichts dergleichen gesagt habe.
»Der Teufel selbst hat zum Herrn in der Wüste gesagt, daß die Engel Jesus auffangen würden, auf daß sein Fuß nicht einmal einen Stein berühre.«
»Ich weiß wirklich nicht, was das mit Wasser zu tun haben soll…«
»Es ist ja wohl offensichtlich, daß ich betrogen worden wäre, wenn ich dich wegen deines Verstandes geheiratet hätte.«
Papas Gesicht lief rot an. »Nenn du mich keinen Einfaltspinsel, Faith. Ich weiß, was ich weiß, und…«
»Er hat einen Schutzengel, Alvin Miller. Er hat jemanden, der über ihn wacht.«
»Du und deine heiligen Schriften. Du und deine Engel.«
»Dann erkläre du mir mal, wie er diese vierzehn Unfälle überleben konnte, ohne daß ihm dabei auch nur ein Haar gekrümmt wurde. Wie viele andere Jungen werden denn sechs Jahre alt, ohne jemals verletzt zu werden?«
Plötzlich sah Papas Gesicht ganz merkwürdig aus, ein bißchen verzerrt, als fiele es ihm schwer, überhaupt etwas zu sagen. »Ich sage dir, es gibt etwas, das ihn töten will. Ich weiß es.«
»Du weißt überhaupt nichts dergleichen.«
Papa sprach noch langsamer, preßte die Worte hervor, als würden sie ihm Schmerzen bereiten. »Ich weiß es.«
Er hatte solche Mühe mit dem Sprechen, daß Mama einfach fortfuhr, ohne seine Entgegnung zu beachten. »Wenn es irgendeinen Teufelsplan gibt, ihn umzubringen — was ich nicht behaupte, Alvin —, dann gibt es jedenfalls einen noch stärkeren himmlischen Plan, ihn zu retten.«
Dann, auf einmal, hatte Papa überhaupt keine Mühe mehr mit dem Sprechen. Papa versuchte nur nicht mehr, das Schwierige auszusprechen, und Alvin Junior fühlte sich im Stich gelassen, aber er wußte auch, daß sein Papa nicht aufgegeben hätte, es sei denn, irgendeine schreckliche Kraft hinderte ihn am Reden. Papa war ein starker Mann, überhaupt nicht feige. Und Papa so geschlagen zu sehen, das ließ den Jungen ängstlich werden. Natürlich hatte Kleinalvin mitgekriegt, daß Mama und Papa über ihn sprachen, auch wenn er nicht alles verstand, was sie sagten. Papa jedenfalls glaubte, daß irgend jemand Alvin Junior tot haben wollte, doch wenn Papa versuchte, seinen wirklichen Beweis vorzubringen, dann stopfte ihm irgend etwas den Mund und ließ ihn verstummen.
Alvin Junior war sofort klar, daß das, was Papa zum Schweigen brachte, das genaue Gegenteil des leuchtenden Lichtes war, das Alvin und den Roten heute nacht erfüllt hatte. Es gab etwas, das wollte, daß Alvin stark und gut wurde. Und es gab noch etwas anderes, das Alvin tot haben wollte. Was immer das Gute war, es konnte ihm seine schreckliche Sünde vor Augen führen und ihm beibringen, wie er sie auf alle Zeiten ausschließen konnte. Aber das böse Ding besaß die Macht, Papas Mund zum Schweigen zu bringen, den stärksten, besten Mann zu schlagen, den AI Junior jemals gekannt hatte.
Als Papa seine Einwände fortsetzte, wußte sein siebenter Sohn, daß er dabei nicht den Beweis vorbrachte, auf den es eigentlich ankam. »Weder Teufel noch Engel«, sagte Papa, »es sind die Elemente des Universums, siehst du denn nicht, daß er ein Verstoß gegen die Natur ist? Es ist Macht in ihm, wie du und ich sie nicht einmal erahnen können. Soviel Macht in einem Wesen, daß die Natur selbst es nicht aushält — soviel Macht, daß er sich selbst schützt, sogar wenn er gar nicht weiß, daß er es tut.«
»Und wenn der siebente Sohn eines siebenten Sohns soviel Macht haben sollte, wo bleibt dann deine Macht, Alvin Miller? Du bist auch ein siebenter Sohn — das ist doch angeblich auch etwas Besonderes, aber ich sehe dich nicht beim Rutengehen oder…«
»Du weißt nicht, was ich tue…«
»Ich weiß, was du nicht tust. Ich weiß, daß du nicht glaubst…«
»Ich glaube an alles Wahre…«
»Ich weiß, daß alle anderen Männer unten auf dem Gemeindeplatz sind und diese prachtvolle Kirche bauen, nur du nicht…«
»Dieser Prediger ist ein Narr…«
»Denkst du niemals darüber nach, daß Gott vielleicht deinen kostbaren siebenten Sohn dazu verwenden könnte, um dich zur Umkehr und zur Buße zu bewegen?«
»Ach, an so einen Gott glaubst du also? Von der Sorte, die versucht, kleine Jungen umzubringen, damit ihre Papas zum Gottesdienst gehen?«
»Der Herr hat deinen Jungen gerettet, als Zeichen seiner Liebe und seines Mitleids…«
»Der Liebe und des Mitleids, die meinen Vigor sterben ließen…«
»Aber eines Tages wird seine Geduld am Ende sein…«
»Und dann wird er wieder einen von meinen Söhnen ermorden.«
Sie schlug ihm ins Gesicht. Alvin Junior sah es mit eigenen Augen. Es war kein Schlag, wie sie ihn ihren Söhnen gelegentlich verpaßte, wenn sie frech oder faul gewesen waren, sondern ein schwerer Hieb, der ihm fast das Gesicht fortgerissen hätte. Rücklings stürzte er zu Boden.
»Ich sage dir eines, Alvin Miller.«
Ihre Stimme war so kalt, daß sie schon brannte. »Wenn diese Kirche fertig ist und du keinen Handschlag dafür getan hast, dann wirst du aufhören, mein Ehemann zu sein, und ich werde aufhören, deine Ehefrau zu sein.«
Wenn noch mehr Worte gewechselt wurden, so hörte Alvin Junior sie jedenfalls nicht mehr. Er saß in seinem Bett, erschreckt darüber, daß ein solch gräßlicher Gedanke tatsächlich gedacht und sogar ausgesprochen werden konnte. Heute nacht hatte er sich schon so oft gefürchtet, vor dem Schmerz, vor dem Sterben, als Anne ihm mörderische Pläne ins Ohr geflüstert hatte, und am meisten, als der leuchtende Mann gekommen war, um ihm seine Sünde zu zeigen. Doch das hier war etwas anderes. Das war das Ende des ganzen Universums, das Ende der einzigen sicheren Sache, die es gab: Mama davon reden zu hören, nicht mehr mit Papa zusammenzusein. Er lag in seinem Bett, alle möglichen Gedanken tanzten in seinem Kopf herum, so schnell, daß er nicht einen von ihnen festhalten konnte, und schließlich blieb ihm in all dieser Verwirrung nichts anderes mehr übrig als einzuschlafen.
Am Morgen dachte er, daß möglicherweise alles nur ein Traum gewesen sei. Doch auf dem Boden am Fußende seines Bettes entdeckte er Blutflecken, die von dem leuchtenden Mann stammen mußten. Und den Streit seiner Eltern hatte er sich auch nicht nur eingebildet. Papa hielt ihn nach dem Frühstück an und sagte ihm: »Du bleibst heute bei mir, Al.«
Mamas Miene ließ keinen Zweifel daran offen, daß ihre Worte von letzte Nacht auch heute noch galten.
»Ich will beim Bau der Kirche helfen«, sagte Alvin Junior. »Ich fürchte mich nicht vor Dachbalken.«
»Du bleibst heute bei mir. Du wirst mir helfen, etwas zu bauen.«
Papa schluckte und zwang sich, Mama nicht anzublicken. »Diese Kirche wird einen Altar brauchen, und ich glaube, wir können einen richtig schönen bauen, der in diese Kirche paßt, sobald das Dach und die Wände stehen.«
Papa blickte Mama an und lächelte ein Lächeln, das Alvin Junior einen Schauer über den Rücken jagte. »Meinst du, daß dem Prediger das gefallen wird?«
Das verblüffte Mama, soviel war sicher. Doch Alvin Junior wußte auch, daß sie nicht zu denen gehörte, die einen Ringkampf nur deswegen aufgaben, weil dem anderen ein Wurf gelungen war. »Was kann der Junge schon helfen?» fragte sie. »Er ist ja kein Zimmermann.«
»Er hat ein gutes Auge«, sagte Papa. »Wenn er Leder flicken und verarbeiten kann, kann er auch ein paar Kreuze am Altar anbringen. Damit er schön aussieht.«
»Measure ist ein besserer Holzschnitzer«, warf Mama ein.
»Dann lasse ich den Jungen die Kreuze eben einbrennen.«
Papa legte die Hand auf Alvin Juniors Kopf. »Und wenn er den ganzen Tag hier sitzen bleibt und in der Bibel liest, dieser Junge wird jedenfalls nicht mehr zu dieser Kirche hinuntergehen, bevor die letzte Bank angebracht ist.«
Papas Stimme klang hart genug, um seine Worte in Stein einmeißeln zu können. Mama sah Alvin Junior an, dann richtete sie den Blick auf Alvin Senior. Schließlich kehrte sie ihnen den Rücken zu und begann damit, den Korb mit Essen für jene zu füllen, die zur Kirche gehen würden.
Alvin Junior ging nach draußen, wo Measure gerade das Gespann anschirrte und Wastenot und Wantnot den Wagen mit Dachstreben für die Kirche beluden.
»Hast du wieder vor, dich in der Kirche aufzubauen?» fragte Wantnot.
»Wir könnten Holzbalken auf dich herabfallen lassen, dann kannst du sie mit dem Kopf in Streben teilen«, meinte Wastenot.
»Komme nicht mit«, erwiderte Alvin Junior.
Wastenot und Wantnot tauschten wissende Blicke aus.
»Hm, Pech«, meinte Measure. »Aber wenn es zwischen Mama und Papa kalt wird, droht dem ganzen Wobbish Tal ein Schneesturm.«
Er zwinkerte Alvin Junior zu, genau wie er es gestern abend getan hatte, als Mama richtig wütend geworden war.
Dieses Zwinkern brachte Alvin auf den Gedanken, daß er Measure eine Frage stellen konnte, die er normalerweise nicht ausgesprochen hätte. Er kam näher heran, damit die anderen seine Stimme nicht hörten. Measure begriff, was Alvin wollte, und kauerte sich direkt neben dem Wagenrad nieder, um Alvin anzuhören.
»Measure, wenn Mama an Gott glaubt und Papa nicht, woher weiß ich dann, wer von beiden recht hat?«
»Ich glaube, daß Pa durchaus an Gott glaubt«, meinte Measure.
»Aber wenn er es nicht tut. Wie soll ich mich dann zurechtfinden, wenn Mama eine Sache sagt und Papa eine andere?«
Measure wollte erst eine flapsige Bemerkung machen, doch dann bremste er sich — Alvin konnte es an seinem Gesicht ablesen, wie er sich dazu entschied, ernsthaft zu antworten. »Al, ich muß dir sagen, daß ich mir selbst wünschte, es zu wissen. Manchmal glaube ich, daß niemand nichts weiß.«
»Papa sagt, daß man weiß, was man mit den eigenen Augen sieht. Mama sagt, daß man weiß, was man mit dem Herzen spürt.«
»Und was meinst du?«
»Woher soll ich das wissen, Measure? Ich bin doch erst sechs.«
»Ich bin zweiundzwanzig, Alvin, ich bin ein erwachsener Mann, und ich weiß es immer noch nicht. Ich schätze, daß Mama und Papa es auch nicht wissen.«
»Na ja, wenn sie es nicht wissen, warum regen sie sich denn so darüber auf?«
»Oh, so ist das eben, wenn man verheiratet ist. Man streitet sich die ganze Zeit, aber niemals über das, über das man sich zu streiten glaubt.«
»Worüber streiten sie sich denn dann in Wirklichkeit?«
Diesmal erkannte Alvin, daß Measure erst daran dachte, ihm die Wahrheit zu sagen, doch dann überlegte er es sich anders. Er stand auf und zauste Alvins Haar; ein sicheres Anzeichen für Alvin, daß ein Erwachsener ihn belügen würde, so wie sie Kinder immer belogen, als könnte man Kindern niemals die Wahrheit anvertrauen. »Ach, ich schätze, sie streiten sich einfach nur, um sich reden zu hören.«
Meistens hörte Alvin sich die Lügen der Erwachsenen einfach nur an, ohne etwas zu sagen, doch diesmal sprach er mit Measure, und von Measure wollte er nicht angelogen werden.
»Wie alt muß ich erst werden, bevor du mir die Wahrheit sagst?» fragte Alvin.
In Measures Augen blitzte für einen Augenblick der Zorn auf — niemand ließ sich gerne einen Lügner heißen —, doch dann grinste er: »Alt genug, um die Antwort selbst erraten zu können, aber jung genug, damit es dir noch etwas nützt.«
»Wann ist das?» wollte Alvin wissen. »Ich will, daß du mir die Wahrheit jetzt sagst.«
Measure kauerte sich wieder nieder. »Das kann ich nicht immer tun, denn manchmal wäre es einfach zu schwierig. Manchmal müßte ich Dinge erklären, die ich nicht erklären kann. Manchmal gibt es Dinge, die man nur verstehen kann, wenn man lange genug gelebt hat.«
Alvin war wütend, und er wußte, daß sein Gesichtsausdruck das auch verriet.
»Sei nicht so böse auf mich, kleiner Bruder. Manche Dinge kann ich dir nicht sagen, weil ich sie einfach selbst nicht weiß, und das ist keine Lüge, aber auf eines kannst du zählen. Wenn ich es dir sagen kann, werde ich es tun, und wenn ich es nicht kann, dann werde ich das sagen und nicht so tun als ob.«
Das war das Fairste, was ein Erwachsener Alvin jemals gesagt hatte. »Dieses Versprechen mußt du aber auch halten, Measure.«
»Ich werde es halten oder lieber sterben, darauf kannst du rechnen.«
»Ich werde es nämlich nicht vergessen.«
Alvin erinnerte sich an den Schwur, den er dem leuchtenden Mann letzte Nacht abgeleistet hatte. »Ich weiß auch ein Versprechen zu halten.«
Measure lachte, zog Alvin an sich und drückte ihn gegen seine Schulter. »Du bist genauso schlimm wie Mama«, sagte er. »Du gibst einfach nicht auf.«
»Ich kann nicht anders«, erwiderte Alvin. »Wenn ich anfange, dir zu glauben, woher soll ich dann wissen, wann ich damit aufhören muß?«
»Hör niemals damit auf«, antwortete Measure.
Dann kam Calm auf seiner alten Mähre herbeigeritten, und Mama trat mit dem Essenskorb hinaus. Alle, die zum Gehen fertig waren, verschwanden nun. Papa führte Alvin Junior hinüber zur Scheune. Sofort half Alvin dabei, die Bretter zu kerben. Seine Stücke paßten besser zusammen als Papas, weil Al seine Fertigkeit dazu verwenden konnte. Dieser Altar sollte allen gehören, so daß er das Holz dazu bringen konnte, so genau zusammenzupassen, daß es niemals mehr auseinanderfallen würde. Alvin dachte sogar daran, Papas Fugen genauso haltbar zu machen, doch als er es versuchte, stellte er fest, daß Papa selbst etwas von dieser Fertigkeit besaß. Das Holz fügte sich zwar nicht zu einem durchgehenden Stück zusammen wie bei Alvin, aber es paßte gut genug.
Papa sagte nicht viel. Das brauchte er auch nicht. Sie wußten beide, daß Alvin Junior die Fähigkeit besaß, Dinge passend zu machen. Bei Nachtanbruch war der ganze Altar zusammengebaut und gebeizt. Als sie ins Haus zurückschritten, ruhte Papas Hand fest auf Alvins Schulter. Sie schritten so eng nebeneinander, als wären sie beide Teil desselben Körpers, als wäre Papas Hand gerade aus Alvins Hals hervorgewachsen. Alvin spürte den Puls in Papas Finger, und er schlug im selben Rhythmus mit dem Blut in seiner eigenen Kehle.
Mama stand am Feuer, als sie eintraten. Sie drehte sich um und sah sie an. »Wie steht es?» fragte sie.
»Das ist das glatteste Stück Holz, das ich je gesehen habe«, meinte Alvin Junior.
»In der Kirche gab es heute keinen einzigen Unfall mehr«, erzählte Mama.
»Hier ist auch alles richtig gut gelaufen«, erwiderte Papa.
Um nichts in der Welt hätte Alvin Junior erklären können, warum Mamas Worte sich anhörten wie »Ich gehe nicht weg» und warum Papas Worte klangen wie »Bleib immer bei mir«. Aber er wußte, daß er nicht verrückt war, so etwas zu denken, denn im selben Augenblick hob Measure, der ausgestreckt vor dem Feuer lag, den Blick und zwinkerte, daß nur Alvin Junior es sehen konnte.