4. Hatrack River

Vigor wies die Jungen an, den Planwagen zu schieben, während Eleanor die Pferde antrieb. Alvin Miller verbrachte die Zeit damit, die kleinen Mädchen nacheinander ans gegenüberliegenden Ufers zu tragen. Die Strömung glich einem Teufel, der an ihm zerrte und flüsterte: Ich werde deine Babys kriegen, ich werde sie alle bekommen. Alvin aber sagte nein; mit jedem Muskel seines Körpers sagte er nein zu diesem Flüstern, während er uferwärts stapfte, bis seine Mädchen alle durchnäßt am Ufer standen, und während der Regen ihre Gesichter herablief wie die Tränen einer Welt voll Leid.

Er hätte auch Faith getragen, samt dem Kind in ihrem Bauch, doch sie wollte sich nicht vom Fleck rühren. Saß einfach im Inneren des Planwagens, stemmte sich gegen die Truhen und die Möbel, während der Wagen schwankte und schaukelte. Blitze krachten und Äste brachen; einer davon riß das Zelttuch auf, und der Regen ergoß sich in den Wagen, doch Faith hielt tapfer durch. Alvin erkannte an ihren Augen, daß er nicht das geringste hätte sagen können, um sie dazu zu bewegen, den Wagen zu verlassen. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, Faith und ihr Ungeborenes aus diesem Fluß zu bringen, nämlich den Wagen herauszuholen.

»Die Pferde kriegen keinen Halt, Papa«, rief Vigor. »Sie stolpern nur und werden sich noch die Beine brechen.«

»Aber ohne die Pferde können wir ihn nicht herausziehen!«

»Die Pferde sind auch etwas wert, Papa. Wenn wir sie hier im Wasser lassen, verlieren wir den Wagen und die Pferde dazu!«

»Eure Mama will den Wagen nicht verlassen.«

Er sah das Verstehen in Vigors Blick. Die Dinge im Wagen waren es nicht wert, daß man den Tod riskierte, um sie zu retten. Seine Mama dagegen sehr wohl.

»Dennoch«, sagte Vigor. »Am Ufer könnte das Gespann kräftig ziehen. Hier im Wasser können sie überhaupt nichts tun.«

»Dann laß die Jungen sie abkoppeln. Aber befestigt zuerst ein Seil an einem Baum, um den Wagen festzuhalten!«

Es dauerte keine zwei Minuten, da waren die Zwillinge Wastenot und Wantnot schon am Ufer und befestigten das Seil an einem stämmigen Baum. David und Measure verschnürten ein zweites Tau an der Planke, die die Pferde hielt, während Calm die Riemen durchschnitt, die sie an den Wagen banden. Gute Jungen, sie machten ihre Arbeit ordentlich. Vigor rief seine Anweisungen, während Alvin nur zusehen konnte, hilflos stand er am hinteren Teil des Wagens, und blickte mal zu Faith hinauf, die gerade versuchte, das Baby nicht zu gebären, mal auf den Hatrack River, der gerade versuchte, sie alle in die Hölle hinabzuspülen.

Kein besonders großer Fluß, hatte Vigor gesagt, aber dann waren die Wolken gekommen und der Regen, und der Hatrack war ein Ungeheuer geworden. Doch selbst jetzt sah er noch passierbar aus. Die Pferde arbeiteten schwer, und Alvin sagte gerade zu Calm, der die Zügel hielt: »Na, das war keine Minute zu früh«, als der Fluß plötzlich verrückt spielte. Von einem Augenblick auf den nächsten verdoppelte er seine Wucht. Die Pferde gerieten in Panik, verloren die Orientierung und sprangen umher. Die Jungen stürzten sich in den Fluß und versuchten, sie ans Ufer zu führen, doch inzwischen hatte der Wagen seinen Schub eingebüßt und die Räder steckten im Schlamm fest. Es schien beinahe, als hätte der Fluß gewußt, daß sie kamen, und als hätte er seinen schlimmsten Zorn aufgespart, bis sie ihm nicht mehr entkommen konnten.

»Aufgepaßt! Aufgepaßt!» rief Measure vom Ufer aus.

Erschreckt blickte Alvin stromaufwärts, um nachzusehen, welche Teufelei der Fluß jetzt im Schilde führte. Tatsächlich trieb ein ganzer Baum heran; wie ein Rammbock, mit seinem weitläufigen Wurzelwerk genau auf den Planwagen zu, wo noch immer Faith saß, mit ihrem ungeborenen Kind. Alvin konnte überhaupt nichts mehr denken, konnte nur mit aller Macht den Namen seiner Frau schreien. Vielleicht dachte er in der Tiefe seines Herzens, daß er sie am Leben erhalten können, indem er ihren Namen auf seinen Lippen behielt, doch dafür gab es keinerlei Hoffnung mehr.

Nur Vigor wußte nicht, daß es eigentlich keine Hoffnung gab. Der Junge sprang hinaus, als der Baum nur noch eine Elle entfernt war. Sein Körper prallte gegen das Wurzelwerk, und der Stamm driftete ab, weg vom Planwagen. Der Baum riß Vigor mit. Der Junge verschwand, tauchte unter im schäumenden Wasser, aber das Wunderbare geschah — der Baum verfehlte den Wagen, nur ein paar Aste versetzten ihm einen leichten ungefährlichen Stoß.

Der Baumstamm krachte gegen einen Felsen am Ufer. Alvin war zwar fünf Ellen davon entfernt, doch später sollte er es in seiner Erinnerung stets so sehen, als hätte er genau daneben gestanden. Der Baum schlug Vigor gegen den Felsen. Nur einen Herzschlag lang, der eine Ewigkeit dauerte, öffneten sich Vigors Augen vor Schmerz und Entsetzen. Blut schoß ihm aus dem Mund, spritzte auf den Baum, der ihn tötete. Im nächsten Moment riß der Hatrack River den Baum wieder mit sich. Vigor glitt unter Wasser, nur sein lebloser Arm blieb im Wurzelwerk hängen und ragte aus dem Wasser, auf daß alle ihn sehen konnten, wie die Hand eines Nachbarn, der nach einem Besuch zum Abschied winkte.

Alvin war so gebannt vom Anblick seines sterbenden Sohnes, daß er nicht bemerkte, was mit ihm selbst geschah. Der Stoß des Baumstamms hatte die festgefahrenen Räder gelöst. Die Strömung nahm den Planwagen auf, riß ihn stromabwärts, während Alvin sich an der hinteren Klappe festhielt und während Faith im Inneren weinte und Eleanor auf dem Fahrersitz sich die Lunge aus dem Leib schrie und die Jungen am Ufer »Halten! Halten! Halten!» riefen.

Das Seil hielt, ein Ende an einen kräftigen Baum gebunden, das andere Ende am Wagen festgemacht. Der Fluß konnte den Wagen nicht mit sich reißen; statt dessen trieb er ihn gegen das Ufer, wo der Wagen zitternd zum Halten kam.

»Es hat gehalten!» riefen die Jungen.

»Gott sei Dank!» schrie Eleanor.

»Das Baby kommt«, flüsterte Faith.

Doch Alvin vernahm immer nur den einzigen, matten Schrei, der das letzte Geräusch aus der Kehle seines Erstgeborenen gewesen war, sah immer nur, wie sein Junge sich an den Baum geklammert hatte und fort, gegen die Felsen gerissen worden war, und alles, was er noch sagen konnte, war ein einziges Wort, ein einziger Befehl. »Lebe!» murmelte er. Vigor hatte ihm früher immer gehorcht. Ein harter Arbeiter, ein williger Gefährte, mehr ein Freund oder ein Bruder als ein Sohn. Doch dieses Mal wußte er, daß sein Sohn nicht gehorchen würde. Dennoch flüsterte er immer wieder: »Lebe!«

»Sind wir in Sicherheit?» fragte Faith mit bebender Stimme.

Alvin drehte sich zu ihr um, versuchte, den Gram aus seiner Miene zu vertreiben. Es hatte keinen Sinn, sie wissen zu lassen, welchen Preis Vigor bezahlt hatte, um sie und das Baby zu retten. Nachdem das Kind geboren worden war, würde sie es früh genug erfahren. »Kannst du aus dem Wagen klettern?«

»Was ist los?» fragte Faith, sein Gesicht musternd.

»Ich habe mich erschreckt. Der Baum hätte uns umbringen können. Kannst du jetzt heruntersteigen, nun, da wir am Ufer sind?«

Eleanor beugte sich vom vorderen Teil des Wagens zurück. »David und Calm sind am Ufer, sie können dir hinaufhelfen. Das Seil hält zwar noch, Mama, aber wer weiß schon, wie lange?«

»Komm schon, Faith, es ist nur ein Schritt«, sagte Alvin. »Wir kommen besser mit dem Wagen zurecht, wenn wir wissen, daß du am Ufer in Sicherheit bist.«

»Das Baby will kommen«, sagte Faith leise.

»Besser am Ufer als hier«, erwiderte Alvin scharf. »Geh jetzt!«

Faith stand auf und kletterte unbeholfen nach vorn. Alvin stieg hinter ihr in den Wagen, um ihr zu helfen, falls sie stolpern sollte. Sogar er konnte sehen, wie sehr ihr Bauch sich gesenkt hatte.

Am Ufer standen inzwischen nicht mehr nur David und Calm, sondern auch fremde, große Männer mit Pferden. Sogar ein kleiner Wagen stand bereit. Alvin hatte keine Vorstellung, wer diese Männer waren oder woher sie gewußt hatten, daß er und seine Frau Hilfe brauchten, doch er hatte keine Zeit, um lange nachzudenken. »Ihr Männer! Gibt es im Gasthaus eine Hebamme?«

»Goody Guester kümmert sich um Geburten«, sagte ein großer Mann mit Armen so dick wie Ochsenschenkel. Bestimmt ein Hufschmied.

»Könnt ihr meine Frau in diesem Wagen mitnehmen? Wir haben keinen Augenblick zu verlieren.«

Alvin wußte, daß es sich eigentlich nicht schickte, wenn Männer so offen über eine Geburt sprachen, noch dazu vor der Frau, die kurz vor der Niederkunft stand. Doch Faith war keine Närrin — sie wußte, daß es am wichtigsten war, sie in ein Bett und in die Obhut einer kundigen Hebamme zu bringen, statt lange um den heißen Brei herumzureden.

David und Calm gingen sehr behutsam vor, als sie ihrer Mutter auf den wartenden Wagen halfen. Faith taumelte vor Schmerz. Eleanor schritt direkt hinter ihr, übernahm das Kommando, ganz so, als wäre sie nicht jünger als alle Jungen mit Ausnahme der Zwillinge. »Measure! Ruf die Mädchen zusammen. Sie fahren mit uns im Wagen. Ihr auch, Wastenot und Wantnot! Ich weiß, daß ihr den großen Jungen helfen könnt, aber ich brauche euch, um auf die Mädchen aufzupassen, während ich bei Mutter bin.«

Mit Eleanor war nie gut Kirschenessen, und die Lage war so ernst, daß die Jungen sie nicht einmal Eleanor von Aquitanien nannten, während sie gehorchten. Sogar die kleinen Mädchen hörten auf zu zanken und stiegen auf.

Eleanor blieb einen Augenblick am Ufer stehen und sah zu ihrem Vater zurück, der auf dem Wagensitz stand. Sie blickte stromabwärts, dann wieder zu ihm zurück. Alvin verstand die Frage und schüttelte den Kopf. Faith sollte nichts von Vigors Selbstopfer erfahren. Ungebeten traten Alvin die Tränen in die Augen, nicht aber Eleanor. Eleanor war erst vierzehn, aber wenn sie nicht weinen wollte, weinte sie auch nicht.

Wastenot trieb das Pferd an, und der kleine Wagen setzte sich ruckend in Bewegung, wobei Faith schmerzerfüllt zusammenzuckte, während die Mädchen sie streichelten und der Regen unentwegt herabströmte. Faiths Blick war so ernst wie der einer Kuh und ebenso geistlos, als sie zu ihrem Mann zurückblickte, zurück zum Fluß. In Zeiten des Gebarens, dachte Alvin, wird die Frau zum Tier, erschlafft ihr Geist, während der Körper alles übernimmt und die Arbeit tut. Wie hätte sie sonst den Schmerz ertragen sollen? Als wäre sie von der Seele der Erde besessen und zum Teil des Lebens der ganzen Welt geworden, abgeschirmt von ihrer Familie, ihrem Ehemann, hinuntergeführt in das Tal der Reife, der Ernte und des Mähens und des blutigen Todes.

»Sie ist jetzt in Sicherheit«, sagte der Hufschmied. »Und wir haben Pferde hier, um euren Wagen herauszuziehen.«

»Es läßt nach«, sagte Measure. »Der Regen läßt nach, und die Strömung ist auch nicht mehr so stark.«

»Sobald Eure Frau an Land trat, hat sie nachgelassen«, sagt der Bursche, der wie ein Farmer aussah. »Der Regen erstirbt jetzt, das ist sicher.«

»Ihr habt das Schlimmste davon im Wasser mitbekommen«, sagte der Hufschmied, »aber jetzt seid ihr gerettet. Reißt Euch zusammen, Mann, es gibt Arbeit.«

Erst jetzt begriff Alvin, daß er weinte. Es gibt Arbeit, reiß dich zusammen, Alvin Miller. Du bist kein Schwächling, um loszubrüllen wie ein Säugling. Andere Männer haben schon ein Dutzend Kinder verloren und leben noch immer ihr Leben. Du hast zwölf bekommen, und Vigor ist immerhin zu einem Mann herangewachsen, auch wenn er keine Gelegenheit mehr bekommen hat, zu heiraten und eigene Kinder zu haben. Vielleicht mußte Alvin weinen, weil Vigor auf solch edle Weise gestorben war; vielleicht weinte er, weil alles so plötzlich gekommen war.

David berührte den Hufschmied am Arm. »Laßt ihn einen Augenblick«, sagte er leise. »Es ist keine zehn Minuten her, da wurde unser ältester Bruder fortgerissen. Er hat sich in einem Baum verfangen, der heruntergetrieben kam.«

»Nicht verfangen«, bemerkte Alvin scharf. »Er ist gegen diesen Baumstamm gesprungen und hat unseren Wagen gerettet und eure Mutter, die in ihm saß! Dieser Fluß hat es ihm heimgezahlt.«

Ruhig sprach Calm zu den einheimischen Männern. »Es hat ihn dort gegen den Felsen geschlagen.«

Alle schauten hinüber. Am Gestein aber war nicht einmal mehr eine Blutspur zu erkennen, so unschuldig sah es aus.

»Der Hatrack ist manchmal sehr bösartig«, sagte der Hufschmied, »aber ich habe diesen Fluß noch nie so aufgewühlt erlebt. Das mit Eurem Jungen tut mir leid. Flußabwärts ist eine ruhige, flache Stelle, wo er mit Sicherheit ans Ufer gespült wird. Alles, was der Fluß mit sich führt, strandet dort. Wenn der Sturm nachläßt, können wir hinuntergehen und die… und ihn zurückbringen.«

Alvin wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, aber da sein Ärmel klitschnass war, nützte es nicht viel. »Laßt mir noch eine Minute Zeit, dann helfe ich mit«, sagte er.

Sie schirrten zwei weitere Pferde an, und gemeinsam hatten die vier Tiere keine Schwierigkeiten, den Wagen gegen die inzwischen sehr viel schwächere Strömung herauszuziehen. Als der Wagen auf dem Weg stand, brach sogar die Sonne wieder hervor.

»Sieh mal an«, sagte der Hufschmied. »Wenn euch das Wetter hier jemals nicht gefallen sollte, vollführt ihr einfach einen Zauber, dann ändert es sich natürlich.«

»Diesmal nicht«, sagte Alvin. »Dieser Sturm hat eigens auf uns gewartet.«

Der Hufschmied legte den Arm um Alvins Schulter und sprach beinahe sanft mit ihm. »Das soll keine Beleidigung sein, Mister, nur verrücktes Gerede.«

Alvin schüttelte ihn ab. »Dieser Sturm und dieser Fluß wollten uns haben.«

»Papa«, sagte David, »du bist müde und traurig. Das beste ist, wenn du ruhig bleibst, bis wir zum Gasthaus gekommen sind und nach Mama gesehen haben.«

»Mein Kind ist ein Junge«, erwiderte Papa. »Ihr werdet schon sehen. Es wäre der siebente Sohn eines siebenten Sohns geworden.«

Das erregte sofort die Aufmerksamkeit des Hufschmieds und der anderen Männer. Jeder wußte, daß ein siebenter Sohn bestimmte Fähigkeiten besaß, aber der siebente Sohn eines siebenten Sohnes war so ziemlich die außergewöhnlichste Geburt, die es geben konnte.

»Das macht natürlich einen Unterschied«, meinte der Hufschmied. »Sicherlich wäre er als Rutengänger geboren worden, und so etwas haßt das Wasser.«

Die anderen nickten wissend.

»Das Wasser hat seinen Willen bekommen«, sagte Alvin. »Hat seinen Willen bekommen und alles zunichte gemacht. Wenn es gekonnt hätte, hätte es Faith und das Kind getötet. Aber da es das nicht konnte, nun, so hat es eben meinen jungen Vigor umgebracht. Und jetzt, wenn das Kind kommt, wird er der sechste Sohn sein, denn nun habe ich nur noch fünf, die am Leben sind.«

»Manche meinen, daß es keinen Unterschied macht, ob die ersten sechs noch am Leben sind oder nicht«, warf ein Farmer ein.

Alvin erwiderte nichts, doch er wußte sehr wohl, daß es einen Unterschied machte. Er hatte geglaubt, daß dieser Säugling ein Wunderkind werden würde, doch das hatte der Fluß schon vereitelt. Wenn das Wasser jemanden nicht auf die eine Weise aufhalten konnte, tat es dies eben auf eine andere. Er hätte nicht auf ein Wunderkind hoffen dürfen. Der Preis war zu hoch. Alles, was er vor seinen Augen noch sah, den ganzen Weg zum Gasthof hinüber, war Vigor, der verfangen im Geäst durch den Strom trieb wie ein Blatt, das von einer Windhose gepackt worden war, mit Blut, das aus seinem Mund hervorsickerte, um den mörderischen Durst des Hatrack zu stillen.

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