Orson Scott Card Der siebente Sohn

1. Bloody Mary

Die kleine Peggy ging sehr vorsichtig mit den Eiern um. Sie schob die Hand durch das Stroh, bis ihre Finger auf etwas Hartes stießen. Sie kümmerte sich keinen Deut um den Hühnerkot. Schließlich verzog Mama nicht einmal dann das Gesicht, wenn Leute mit Säuglingen im Gasthaus abstiegen und sie ihre schmutzigsten Windeln zu sehen bekam. Selbst wenn der Hühnerkot feucht war und an ihren Fingern klebte, machte es Peggy nichts aus. Sie schob einfach das Stroh auseinander, schlang die Hand um das Ei und hob es aus dem Brutkasten. Und die ganze Zeit mußte sie auf ihren Zehenspitzen auf einem wackligen Schemel stehen. Mama hatte zwar gesagt, daß sie zu jung für das Eierholen wäre, aber Kleinpeggy hatte es ihr gezeigt. Jeden Tag fühlte sie in jedem Brutkasten nach und holte jedes einzelne Ei hervor.

Jedes einzelne, sagte sie sich im Geiste immer und immer wieder. Ich muß in jeden Kasten hineingreifen.

Dann sah die kleine Peggy in die Nordostecke zurück, zum finstersten Ort im ganzen Hühnerstall. Dort hockte Bloody Mary in ihrem Kasten und sah so aus wie ein Alptraum des Teufels persönlich. Der Haß schimmerte aus ihren bösartigen Augen hervor, während sie zu sagen schien: »Komm her, kleines Mädchen, und gib mir ein paar Happen. Ich möchte ein paar Happen vom Finger und ein paar Happen vom Daumen, und wenn du schön nahe kommst und versuchst, mir mein Ei wegzunehmen, kriege ich sogar noch einen Happen von deinem Auge.«

Die meisten Tiere besaßen nicht sehr viel Feuer im Herzen, doch bei Bloody Mary war das anders, ihr Feuer war kräftig und gab einen giftigen Rauch. Niemand konnte es sehen außer Kleinpeggy. Bloody Mary träumte für alle Leute den Tod, ganz besonders aber für ein gewisses, kleines, fünfjähriges Mädchen. Peggy hatte Narben an den Fingern, um es zu beweisen. Na ja, wenigstens eine Narbe, und selbst wenn Papa gesagt hatte, daß er sie nicht erkennen könne, erinnerte sich Kleinpeggy doch daran, wie sie die Narbe bekommen hatte, und niemand konnte es ihr verübeln, wenn sie manchmal vergaß, unter Bloody Mary zu greifen, die wie ein Buschkrieger dort hockte, der nur darauf wartete, die erstbesten Leute umzubringen, die einfach nur versuchten, vorbeizugehen.

Ich habe es vergessen. Ich habe in jeden Brutkasten geschaut, in jeden einzelnen, und wenn ich einen ausgelassen habe, dann habe ich es vergessen vergessen vergessen…

Jedermann wußte, daß Bloody Mary ein schlechtes Huhn war und viel zu bösartig, um Eier zu geben, die nicht sowieso schon faul waren.

Ich habe es vergessen.

Sie hatte den Eierkorb schon hereingebracht, bevor Mama auch nur das Feuer entzündet hatte. Mama war so zufrieden, daß sie es Kleinpeggy gestattete, die Eier eines nach dem anderen ins kalte Wasser zu legen. Dann hängte Mama den Topf an den Haken und schwang ihn weiter über das Feuer. Wenn man Eier kochte, brauchte man nicht erst zu warten, bis das Feuer etwas heruntergebrannt war, das konnte man auch im Qualm.

»Peg«, sagte Papa.

So hieß zwar Mama, aber Papa sagte es nicht in seiner Mama-Stimme, sondern in seiner Kleinpeggyjetztgibtes-Ärger-Stimme. Kleinpeggy wußte, daß sie erwischt worden war, daher drehte sie sich sofort herum und schrie heraus, was sie die ganze Zeit schon hatte sagen wollen.

»Ich habe es vergessen, Papa!«

Mama drehte sich um und musterte Peggy erstaunt. Papa aber war nicht überrascht. Er hob nur eine Augenbraue. Er hielt die Hand hinter den Rücken. Kleinpeggy wußte, daß sich in dieser Hand ein Ei befand. Das böse Ei von Bloody Mary.

»Was hast du vergessen, Kleinpeggy?» fragte Papa mit leiser Stimme.

In diesem Augenblick dachte Kleinpeggy, daß sie das dümmste Mädchen sei, daß jemals auf der Erde geboren worden war. Da stritt sie schon etwas ab, bevor ihr irgend jemand überhaupt etwas vorgeworfen hatte!

Doch sie würde nicht aufgeben, nicht sofort. Sie konnte es nicht ertragen, daß sie wütend auf sie waren, und sie wollte nur, daß die Eltern sie weggehen ließen, um in England zu leben. Also setzte sie eine unschuldige Miene auf und sagte: »Ich weiß nicht, Papa.«

Sie dachte, daß England der beste Ort zum Leben sei, denn in England gab es einen Lordprotektor. Dem Ausdruck in Papas Augen nach, war ein Lordprotektor so ziemlich genau das, was sie gerade brauchte.

»Was hast du vergessen?» fragte Papa wieder.

»Sag es einfach und hör auf damit, Horace«, sagte Mama. »Wenn sie etwas ausgefressen hat, dann hat sie eben etwas ausgefressen.«

»Ich habe es einmal vergessen, Papa«, sagte Kleinpeggy. »Es ist ein böses altes Huhn, und es haßt mich.«

Papa antwortete sanft und langsam. »Einmal«, sagte er.

Dann holte er die Hand hinter dem Rücken hervor. Nur daß er darin nicht etwa nur ein Ei hielt, sondern gleich einen ganzen Korb. Und dieser Korb war voll von altem, klebrigem Stroh, fauligen Eiern und zwei oder drei toten, stinkenden Kükenkörpern.

»Mußtest du das unbedingt vor dem Frühstück ins Haus bringen, Horace?» fragte Mama.

»Ich weiß nicht, was mich wütender macht«, sagte Horace. »Was sie ausgefressen hat, oder wie sie versucht zu lügen.«

»Ich habe nicht versucht, zu lügen«, rief Kleinpeggy. Jedenfalls wollte sie es rufen. Was tatsächlich hervorkam, klang ganz verdächtig wie Weinen, obwohl Kleinpeggy erst gestern beschlossen hatte, den Rest ihres Lebens nie wieder zu weinen.

»Siehst du?» sagte Mama. »Sie fühlt sich bereits schlecht.«

»Sie fühlt sich schlecht, weil sie erwischt wurde«, sagte Horace. »Du bist zu nachsichtig mit ihr, Peg. Sie besitzt einen lügnerischen Geist. Ich will nicht, daß meine Tochter aufwächst und böse wird. Lieber würde ich sie tot sehen wie ihre kleinen Schwestern, bevor ich sie böse aufwachsen sehen möchte.«

Kleinpeggy sah, wie Mamas Feuer im Herzen von der Erinnerung aufflackerte; vor ihren Augen erblickte sie ein Baby, das hübsch in einer kleinen Kiste gelegt war, und dann ein weiteres, nur nicht ganz so hübsch, weil es das zweite Baby Missy war, das an Pocken gestorben war. Niemand hatte es berührt, bis auf seine eigene Mama, die selbst noch so geschwächt von den Pocken gewesen war, daß sie nicht viel hatte tun können. Kleinpeggy sah diese Szene, und sie wußte, daß Papa einen Fehler begangen hatte, zu sagen, was er gesagt hatte. Mamas Miene wurde eisig, obwohl ihr Herzensfeuer brannte.

»Das ist das Bösartigste, was man jemals in meiner Gegenwart gesagt hat«, sagte Mama. Dann nahm sie den stinkenden Korb vom Tisch und trug ihn hinaus.

»Bloody Mary beißt mir in die Hand«, sagte Kleinpeggy.

»Wir werden schon sehen, was hier beißt«, sagte Papa. »Dafür, daß du die Eier hast liegenlassen, gebe ich dir einen Hieb, weil ich schätze, daß diese verrückte Henne für ein froschgroßes Mädchen wie dich wirklich furchterregend aussehen muß. Aber für das Lügen bekommst du zehn Hiebe.«

Die kleine Peggy begann bitterlich zu weinen. Ihr Papa pflegte in allem hart und gerecht auszuteilen, ganz besonders aber beim Hauen.

Papa holte die Haselgerte hervor. Er bewahrte sie auf einem Regal auf, seit Kleinpeggy die alte ins Feuer geworfen hatte.

»Ich höre mir von dir lieber tausend harte und bittere Wahrheiten an, Tochter, als eine einzige schonende und leichte Lüge«, sagte er, dann beugte er sich vor und schlug mit der Gerte auf ihre Waden ein. Klatschklatschklatsch, sie zählte jeden einzelnen Hieb; sie stachen ihr ins Herz und waren so voller Zorn. Das schlimmste daran war, daß sie wußte, wie ungerecht es war, denn sein Herzfeuer loderte immer aus einem völlig anderen Grund. Papas Haß auf Bösartigkeit entsprang stets seiner geheimsten Erinnerung. Kleinpeggy verstand nicht alles, weil es so verzerrt und verwirrt war, und Papa erinnerte sich selbst nicht mehr genau daran. Alles, was Kleinpeggy jemals deutlich zu sehen bekam, war, daß es sich um eine Dame handelte, und zwar nicht um Mama. Papa dachte immer an diese Dame, wann immer etwas schieflief. Als Baby Missy an überhaupt nichts gestorben war, und dann das nächste Baby, das ebenfalls Missy genannt worden war, an den Pocken starb, und dann, als die Scheune einmal abbrannte und als eine Kuh starb — alles, was jemals schieflief, ließ ihn an diese Dame denken, und dann begann er davon zu reden, wie sehr er das Böse verabscheute. In solchen Zeiten peitschte die Haselgerte hart und scharf.

Ich würde lieber tausend harte und bittere Wahrheiten hören, hatte er gesagt, doch Kleinpeggy wußte, daß es eine Wahrheit gab, die er niemals hören wollte, daher behielt sie sie für sich. Sie würde sie ihm nie entgegenschreien, selbst wenn es ihn dazu brächte, die Haselgerte zu zerbrechen, denn immer, wenn sie daran dachte, etwas über diese Dame zu sagen, sah sie vor ihrem geistigen Auge ihren Vater als Toten, und das war etwas, was sie niemals in Wirklichkeit sehen wollte.

Außerdem hatte die Dame, die sein Herzensfeuer heimsuchte, gar keine Kleider an, und Kleinpeggy wußte, daß sie mit Sicherheit gehauen werden würde, wenn sie von nackten Leuten sprach.

Also nahm sie die Hiebe entgegen und weinte. Papa verließ dann sofort den Raum, und Mama kam zurück, um das Frühstück für den Schmied, die Gäste und die Knechte zuzubereiten, doch keiner von beiden sagte auch nur ein Wort zu ihr, ganz so, als wenn man sie überhaupt nicht bemerkte. Eine Weile lang weinte sie daher noch stärker und lauter, doch auch das half nicht. Schließlich nahm sie ihren Bugy aus dem Nähkasten und lief ganz steif und voller Schmerzen hinaus zu Altpapis Blockhütte und weckte ihn.

Er hörte sich ihre Geschichte an, wie er es immer tat.

»Ich weiß auch, was mit Bloody Mary los ist«, sagte er, »und ich habe deinem Papa mindestens fünfzigmal gesagt, er soll diesem Huhn den Hals umdrehen. Das ist ein verrückter Vogel. Einmal in der Woche dreht sie durch und zerbricht ihre eigenen Eier, sogar diejenigen, die sie brüten könnte. Bringt ihre eigenen Küken um. Das ist doch ein Verrückter, wer seine eigene Verwandtschaft umbringt.«

»Papa möchte mich umbringen«, sagte Kleinpeggy.

»Ich schätze, wenn du noch gehen kannst, ist es doch nicht ganz so schlimm.«

»Ich kann aber nicht mehr viel gehen.«

»Nein, ich sehe schon, daß man dich fast zum Krüppel geschlagen hat«, sagte Altpapi. »Aber ich will dir was sagen: so, wie ich das sehe, sind deine Mama und dein Papa hauptsächlich aufeinander böse. Warum verschwindest du nicht einfach für ein paar Stunden?«

»Ich wünschte, ich könnte mich in einen Vogel verwandeln und fliegen.«

»Aber das nächstbeste«, sagte Altpapi, »ist, einen geheimen Ort zu haben, wo dich niemand findet. Hast du so ein Versteck? Nein, sag es mir nicht — es macht alles zunichte, wenn du auch nur einem einzigen anderen Menschen davon erzählst. Begib dich einfach für eine Weile dorthin. Solange es ein sicherer Ort ist, nicht draußen in den Wäldern, wo ein Roter dir dein hübsches Haar rauben könnte, und kein Ort irgendwo hoch oben, wo du herunterfallen könntest, und kein so winziger Ort, wo du möglicherweise feststecken könntest.«

»Er ist groß und tief und nicht in den Wäldern«, erwiderte Kleinpeggy.

»Dann geh dorthin, Maggie.«

Kleinpeggy schnitt dieselbe Grimasse, die sie immer schnitt, wenn Altpapi sie so nannte. Sie hielt Bugy hoch und sagte mit Bugys quiekender, hoher Stimme: »Ihr Name ist Peggy.«

»Geh dorthin, Piggy, wenn dir das besser gefällt…«

Kleinpeggy schlug Bugy über Altpapis Knie.

»Eines Tages macht Bugy das einmal zu oft, dann zieht er sich einen Bruch zu und stirbt«, sagte Altpapi.

Aber Bugy tanzte in seinem Gesicht herum und sagte beharrlich: »Nicht Piggy, Peggyl«

»Das ist schon richtig, Puggy, begib dich an diesen geheimen Ort, und wenn irgend jemand kommt und sagt: Wir müssen dieses Mädchen finden, werde ich sagen: Ich weiß, wo sie ist; sie wird schon zurückkommen, wenn sie dazu bereit ist.«

Kleinpeggy rannte zur Tür der Blockhütte, dann blieb sie stehen und drehte sich um. »Altpapi, du bist der netteste Erwachsene auf der ganzen Welt.«

»Dein Papa sieht mich etwas anders, aber das hat alles nur mit einer anderen Haselgerte zu tun, die ich einmal zu oft benutzt habe. Und nun lauf.«

Bevor sie die Tür schloß, hielt sie noch einmal an. »Du bist der einzige nette Erwachsene!«

Sie rief es ganz laut und hoffte beinahe, daß man es im Haus hören könnte. Dann war sie auch schon verschwunden, war durch den Garten geschossen, vorbei an der Kuhweide, den Hügel hinauf in den Wald, und dann über den Pfad zum Bachhaus.

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