44

Carvajal starb am 22. April 2000. Dies schreibe ich Anfang Dezember, der eigentliche Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts und des neuen Jahrtausends ist nur noch wenige Wochen entfernt. Das neue Jahrtausend wird mich hier in diesem schlichten Haus im Norden von New Jersey finden, in dem ich die kaum erst in Gang gekommenen Aktivitäten des Zentrums für Stochastische Prozesse leite. Seit August sind wir hier, nachdem Carvajals rechtswirksam bestätigtes Testament mich zum alleinigen Erben seiner Millionen gemacht hatte.

Hier im Zentrum kümmern wir uns natürlich nicht viel um Stochastische Prozesse. Der Name der Institution täuscht; wir sind hier nicht stochastisch, sondern vielmehr post-stochastisch; jenseits der Manipulation von Wahrscheinlichkeiten dringen wir ein ins Reich der Gewißheit, des zweiten Gesichts. Aber ich hielt es für ratsam, das nicht zu offen auszusprechen. Was wir hier tun, ist mehr oder weniger eine bestimmte Art von Zauberei; und eine der großen Lehren aus dem so gut wie abgeschlossenen zwanzigsten Jahrhundert ist die: Wenn man Zauberei praktizieren will, tut man es besser unter einem anderen Namen. Stochastisch hat einen angenehmen, pseudowissenschaftlichen Klang, und so, wie das Wort Bilder von ganzen Kompanien blasser junger Forscher heraufbeschwört, die riesige Computer mit Daten füttern, ist es als Deckname wunderbar geeignet.

Bis jetzt sind wir vier. Es werden mehr werden. Der Aufbau hier geht Schritt für Schritt vonstatten, wir hasten nicht. Ich finde neue Anhänger jeweils, wenn ich sie brauche. Den Namen des nächsten kenne ich schon, ich weiß, wie ich ihn überreden werde, zu uns zu kommen, und im richtigen Moment wird er da sein, so wie die ersten drei da waren. Vor sechs Monaten waren sie noch Fremde für mich; heute sind sie meine Brüder.

Wir erbauen hier eine Gesellschaft, einen Orden, eine Priesterschaft, wenn Sie so wollen, einen Trupp von Sehern. Wir weiten unsere visionären Fähigkeiten aus und verfeinern sie, eliminieren Zweideutigkeiten, schärfen die Wahrnehmung. Carvajal hatte recht: Jeder hat die Gabe. In jedem kann sie erweckt werden. In Ihnen. In Ihnen. Und so werden wir denn hinausgehen, jeder von uns wird einem anderen seine Hand bieten. In aller Stille werden wir das post-stochastische Evangelium verbreiten, in aller Stille die Zahl derer vervielfachen, die sehen. Es wird langsam gehen. Es wird Gefahren geben, Verfolgungen. Schwere Zeiten kommen, nicht nur für uns. Wir müssen immer noch die Ära Quinn durchstehen, eine Ära, die mir so vertraut ist wie nur irgendeine aus der Geschichte, obwohl sie noch gar nicht begonnen hat: Die Wahl, die ihn zum Präsidenten machen wird, ist erst in vier Jahren. Aber ich sehe darüber hinaus: die Umwälzungen, die folgen werden, den Aufruhr, den Schmerz. Sorgen Sie sich deswegen nicht. Wir werden das Quinn-Regime überdauern, so wie wir Assurbanipal, Attila, Dschingis-Khan, Napoleon überdauert haben. Schon teilen sich die Wolken, und hinter der kommenden Dunkelheit sehen wir die Zeit der Heilung.

Wir erbauen hier eine Gemeinschaft, die sich der Abschaffung der Ungewißheit verschrieben hat, der absoluten Beseitigung des Zweifels. Letztendlich werden wir die Menschheit in ein Universum führen, in dem nichts zufällig, nichts unbekannt, in dem auf jeder Ebene alles vorhersagbar ist, vom Mikrokosmos bis zum Makrokosmos, von den Zuckungen eines Elektrons zum Kreisen der Galaxien. Wir werden der Menschheit beibringen, den süßen Komfort des Vorbestimmten zu kosten. Und so werden wir werden wie die Götter.

Götter? Ja.

Hören Sie, kannte Jesus Furcht, als die Zenturionen des Pilatus ihn holen kamen? Winselte er, weil er sterben mußte, klagte er über den Abbruch seiner Sendung? Nein, nein, ruhig ging er hin, er zeigte weder Furcht noch Bitterkeit oder Überraschung, er folgte dem Drehbuch, spielte die ihm zugewiesene Rolle, er war sich heiter dessen bewußt, daß das, was ihm widerfuhr, Teil eines vorbestimmten, notwendigen, unabänderlichen Plans war, Und Isis, die junge Isis, die ihren Bruder Osiris liebt, die schon als Kind alles weiß, was kommen muß, daß Osiris in Stücke gerissen werden wird, daß sie seinen zerfetzten Körper im Schlamm des Nil suchen, daß durch sie er wiederhergestellt wird, daß aus ihrer beiden Lenden der mächtige Horas entspringen wird? Isis lebte mit dem Kummer, ja, und Isis lebte mit dem Vorherwissen eines furchtbaren Verlusts, und sie wußte diese Dinge von Anbeginn an, denn sie war eine Göttin. Und sie handelte, wie sie handeln mußte. Den Göttern ist nicht die Macht der Wahl vergönnt; das ist der Preis und das Wunder ihrer Göttlichkeit. Und Götter kennen nicht Furcht, Selbstmitleid oder Zweifel, denn sie sind Götter und dürfen keinen Weg wählen als den wahren. Gut denn. Wir werden sein wie die Götter, wir alle. Ich habe die Zeit des Zweifels durchschritten, ich habe den Ansturm der Verwirrungen und Schrecken ertragen und überlebt, ich habe ein Reich jenseits dieser Dinge betreten, ich bin der Lähmung entgangen, die Carvajal befallen hatte; ich bin auf einer anderen Ebene, und ich kann Sie zu ihr führen. Wir werden sehen, wir werden verstehen, wir werden die Unvermeidbarkeit des Unvermeidlichen begreifen, wir werden jede Wendung im Drehbuch fröhlich und klaglos akzeptieren. Es wird keine Überraschungen geben; und deshalb auch keinen Schmerz. Wir werden in Schönheit leben, wissend, daß wir Aspekte des einen großen Plans sind.

Vor ungefähr vierzig Jahren schrieb ein französischer Wissenschaftler und Philosoph namens Jacques Monod: »Der Mensch weiß nun endlich, daß er allein ist in den gleichgültigen Weiten des Universums, denen er zufällig als Mensch entstiegen ist.«

Das glaubte auch ich einmal. Vielleicht glauben Sie es noch.

Aber prüfen Sie Monods Behauptung im Lichte einer Bemerkung, die Albert Einstein einmal machte. »Gott ist kein Würfelspieler«, sagte Einstein.

Eine dieser Feststellungen ist falsch. Ich glaube, ich weiß, welche.

Загрузка...