19

Eine Woche nach meinem Besuch bei Carvajal rief er an und fragte mich, ob ich mich am nächsten Tag zum Mittagessen mit ihm treffen wolle. So traf ich ihn denn, auf seinen Vorschlag, im Club der Handelsherren und Reeder im Finanzdistrikt.

Der Vorschlag überraschte mich. Der Club der Handelsherren und Reeder ist eine jener ehrwürdigen Wasserstellen der Wall Street, die exklusiv von Spitzenmaklern und Bankiers bevölkert werden und zu denen nur Mitglieder Zutritt haben. Und wenn ich sage, exklusiv, dann meine ich damit, daß selbst Bob Lombroso, ein Amerikaner der zehnten Generation und einer der Mächtigen der Street, stillschweigend wegen seines Judentums von der Mitgliedschaft ausgeschlossen ist und es vorzieht, deswegen keinen Aufstand zu machen. Wie bei allen derartigen Institutionen genügt Reichtum allein als Eintrittskarte nicht; man muß clubfähig sein, ein angenehmer und wohlanständiger Mann aus der richtigen Familie, der auf die richtige Universität gegangen und in der richtigen Firma arbeitet. Soweit ich sehen konnte, sprach in dieser Richtung nichts für Carvajal. Seine richesse war nouveau, und er war von Natur aus ein Außenseiter, dem der erforderliche Privatschulen-Hintergrund und Geschäftsbeziehungen auf höchster Ebene fehlten. Wie hatte er sich eine Mitgliedschaft organisiert?

»Ich habe sie geerbt«, sagte er lässig, als wir uns sechzig Stockwerke über dem Straßenlärm in gemütlichen, elastischen, gutgepolsterten Sesseln neben einem Fenster niederließen. »Einer meiner Vorväter war Gründungsmitglied, im Jahre 1823. Die Charta bestimmt, daß die Mitgliedschaften der elf Gründer automatisch jeweils auf den ältesten Sohn des ältesten Sohns übergehen: Welt ohne Ende. Wegen dieser Klausel konnten einige sehr zweifelhafte Typen die Heiligkeit der Organisation beflecken.« Ein plötzliches und überraschend boshaftes Grinsen blitzte in seinem Gesicht auf. »Ich komme ungefähr alle fünf Jahre einmal her. Wie Sie sehen, trage ich meinen besten Anzug.«

So war es — ein plissierter gold- und grünfarbener Fischgrat-Anzug, der seine beste Zeit vielleicht vor zehn Jahren gesehen hatte, der aber immer noch weit mehr Schmiß und Glanz hatte als der Rest seiner trüben und muffigen Garderobe. In der Tat schien mit Carvajal eine beträchtliche Verwandlung vorgegangen zu sein: Er wirkte munterer, lebhafter, fast verspielt, deutlich jünger als der aschgraue Mann, den ich kannte. Ich sagte: »Ich wußte nichts von Ihren Vorfahren.«

»Es gab in der Neuen Welt schon Carvajals, lange bevor die Mayflower in die Neue Welt aufbrach. Wir waren eine prominente Familie im Florida des frühen achtzehnten Jahrhunderts. Als die Engländer 1763 Florida annektierten, zog ein Zweig der Familie nach New York, und ich glaube, es gab eine Zeit, wo uns der halbe Hafen und der größte Teil der Upper West Side gehörte. Aber unser Vermögen ging in der Panik des Jahres 1837 unter, und ich bin seit hundertfünfzig Jahren der erste in der Familie, der sich über vornehmtuende Armut erhoben hat. Aber selbst in schlimmsten Zeiten haben wir unsere Clubmitgliedschaft behalten.« Er wies auf die herrlichen holzgetäfelten Wände, die glitzernden chromgefaßten Fenster, das unaufdringliche versenkte Licht. Um uns herum saßen Titanen aus Industrie und Finanz, Männer, die zwischen zwei Drinks Reiche aufbauten und abstießen. Carvajal sagte: »Ich werde nie vergessen, wie mein Vater mich zum ersten Mal hierher auf einen Cocktail mitnahm. Ich war ungefähr achtzehn, das muß also, sagen wir, 1957 gewesen sein. Der Club war noch nicht in dieses Gebäude gezogen — er war noch drüben in der Broad Street, in einem spinnwebverhangenen Bau aus dem neunzehnten Jahrhundert —, und mein Vater und ich, wir kamen in unseren Zwanzig-Dollar-Anzügen und unseren alten Wollkrawatten herein, und jeder sah für mich wie ein Senator aus, selbst die Kellner, aber keiner grinste höhnisch über uns, niemand behandelte uns herablassend. Ich hatte meinen ersten Martini und mein erstes Filet Mignon, und es war wie ein Ausflug nach Walhalla, wissen Sie, oder nach Versailles, nach Xanadu. Ein Besuch in einer fremden, blendenden Welt, in der alle reich, mächtig und erhaben waren. Und während ich meinem Vater gegenüber an dem riesigen alten Eichentisch saß, überkam mich eine Vision, ich fing an zu sehen, ich sah mich selbst als alten Mann, als den Mann, der ich heute bin, ausgetrocknet, mit einer Glatze, von ein paar Büscheln grauen Haars gesäumt, das ältliche Selbst, das ich schon kennen gelernt hatte und leicht wiedererkannte, und dieses ältere Ich saß in einem Raum, der wahrhaft luxuriös war, einem Raum eleganter Formen, mit herrlich fantasievollen Möbeln, in der Tat genau dem Raum, in dem wir jetzt sind, und ich teilte einen Tisch mit einem viel jüngeren Mann, einem großen, kräftigen dunkelhaarigen Mann, der sich nach vorne beugte, mich in angespannter und ratloser Manier anstarrte und jedem einzelnen meiner Worte lauschte, als wolle er sie auswendig lernen. Dann verschwand die Vision, und ich war wieder bei meinem Vater, und er fragte mich, ob mit mir alles in Ordnung sei; ich tat so, als sei es die plötzliche Wirkung des Martini gewesen, die meine Augen glasig und mein Gesicht schlaff gemacht hatten, denn nicht einmal damals war ich ein großer Trinker. Und ich fragte mich, ob das, was ich gesehen hatte, sozusagen ein nachschwingendes Echobild von meinem Vater und mir im Club war, das heißt, ob ich mein älteres Selbst gesehen hatte, das meinen eigenen Sohn in einen Handelsclub der fernen Zukunft mitgenommen hatte. Einige Jahre hindurch rätselte ich, wer meine Frau und wie mein Sohn sein würde, und dann begriff ich, daß es keine Frau und keinen Sohn geben würde. Die Jahre vergingen, und hier sind wir heute, und da sitzen Sie mir gegenüber, beugen sich nach vorne, starren mich in angespannter und ratloser Manier…«

Ein Schauder überlief meinen Rücken. »Sie haben mich hier bei sich gesehen, vor mehr als vierzig Jahren?«

Er nickte unbekümmert und fuhr in derselben Bewegung herum, um einen Kellner herbeizuwinken; so gebieterisch bohrte er seinen Zeigefinger in die Luft, als wäre er J. P. Morgan selbst. Der Kellner eilte herbei und grüßte ihn unterwürfig bei seinem Namen. Carvajal bestellte einen Martini für mich — weil er das vor langer Zeit gesehen hatte? — und einen trockenen Sherry für sich selbst.

»Man behandelt Sie hier sehr höflich«, stellte ich fest.

»Es ist für sie eine Ehrensache, jedes Mitglied so zu behandeln, als wäre es der Vetter des Zaren«, sagte Carvajal. »Was sie im Hintergrund über mich sagen, ist wahrscheinlich weniger schmeichelhaft. Meine Mitgliedschaft wird mit mir sterben, und der Club wird erleichtert sein, daß keine schäbigen kleinen Carvajals mehr die Räume verunzieren werden.«

Die Drinks erschienen augenblicklich. In Andeutung eines Toasts stießen wir feierlich mit unseren Gläsern an.

»Auf die Zukunft«, sagte Carvajal, »die strahlende, lockende Zukunft«, und brach in ein raues Lachen aus.

»Sie sind heute sehr angeregt.«

»Ja, ich habe mich schon seit Jahren nicht so schwungvoll gefühlt. Ein zweiter Frühling für den alten Mann — eh? Ober! Ober!«

Wieder eilte der Kellner herbei: Zu meinem Erstaunen bestellte Carvajal nun Zigarren und wählte von dem Tablett, das das Zigarrenmädchen brachte, zwei der teuersten. Wieder das boshafte Grinsen. Er fragte: »Soll man diese Dinger bis nach dem Essen aufbewahren? Ich glaube, ich möchte meine jetzt gleich.«

»Nur zu. Wer soll Sie daran hindern?«

Er zündete seine Zigarre an, und ich folgte ihm. Seine Überschwänglichkeit war beunruhigend, beinahe beängstigend. Bei unseren beiden vorangegangenen Begegnungen hatte es so ausgesehen, als sei sein Kraftreservoir längst überzogen; heute aber wirkte er aufgeputscht, in rasender Fahrt, voll von einer wilden Energie, die ihm aus irgendeiner abscheulichen Quelle zugeflossen sein mochte: Ich spekulierte über mysteriöse Drogen, Stierbluttransfusionen, verbotene Verpflanzungen von Organen, die wehrlosen jungen Opfern geraubt worden waren.

Unvermittelt sagte er: »Sagen Sie mir, Lew, haben Sie je Augenblicke des Zweiten Gesichts gehabt?«

»Ich denke schon. Natürlich nicht so intensiv, wie Sie sie offenbar erleben. Aber ich glaube, viele meiner Ahnungen beruhen auf Funken echter Vision — unbewußte Funken, die so schnell kommen und gehen, daß ich sie nicht registriere.«

»Sehr wahrscheinlich.«

»Und Träume«, sagte ich. »In Träumen habe ich oft Vorahnungen und Vorgefühle, die sich als zutreffend erweisen. Als ob mir die Zukunft entgegentriebe und an die Tore meines schlafenden Bewußtseins poche.«

»Ja, im Schlaf sind wir für solche Sachen viel empfänglicher.«

»Aber meine Traumwahrnehmungen kommen in symbolischer Form daher, als Metaphern, nicht als Filme. Kurz bevor Gilmartin bloßgestellt wurde, träumte ich zum Beispiel, er werde vor ein Exekutionskommando geschleift. Als ob ich die richtige Information erhielte, aber nicht wörtlich, sondern verkleidet.«

»Nein«, sagte Carvajal. »Die Botschaft kam genau und wörtlich, aber Ihr Geist entstellte und verschlüsselte sie, weil Sie schliefen und Ihren Empfänger nicht richtig handhaben konnten. Nur der wache, rationale Geist kann solche Botschaften zuverlässig verarbeiten und integrieren. Aber die meisten Menschen weisen ja im Wachzustand diese Botschaften zurück, und wenn sie schlafen, verzehrt ihr Geist das, was hereinkommt, mutwillig.«

»Sie glauben, daß viele Menschen Botschaften aus der Zukunft empfangen?«

»Ich glaube, daß jeder sie empfängt«, sagte Carvajal heftig. »Die Zukunft ist nicht das unzugängliche, ungreifbare Reich, für das man sie hält. Aber die meisten erkennen sie nur als abstrakte Vorstellung an. Die wenigsten öffnen sich für ihre Botschaften!« Sein Ausdruck hatte eine unheimliche Intensität angenommen. Er senkte seine Stimme und sagte: »Die Zukunft ist keine bloße Wortkonstruktion. Sie ist ein Raum, der seine eigene Existenz hat. In eben diesem Augenblick, während wir hier sitzen, sind wir auch dort, dort plus eins, dort plus zwei, dort plus n — in einer Unendlichkeit von Situationen, die alle gleichzeitig bestehen und unserer gegenwärtigen Position auf der Zeitlinie sowohl vorhergehen als auch nachfolgen. Diese anderen Positionen sind weder mehr noch weniger ›real‹ als die jetzige. Sie befinden sich lediglich an einem Ort, der zufällig nicht der ist, den das Zentrum unseres Wahrnehmens gerade einnimmt.«

»Aber gelegentlich können unsere Wahrnehmungen…«

»Springen«, sagte Carvajal. »In andere Abschnitte der Zeitlinie wandern. Ereignisse oder Stimmungen oder Gesprächsfetzen auffangen, die nicht ins ›Jetzt‹ gehören.«

»Wandern unsere Wahrnehmungen«, fragte ich, »oder sind es die Ereignisse selbst, die in ihrem eigenen ›Jetzt‹ nicht fest verankert sind?«

Er zuckte die Achseln. »Ist das wichtig? Es gibt keinen Weg, das herauszufinden.«

»Es ist Ihnen egal, wie es funktioniert? Ihr ganzes Leben ist davon geformt worden und Sie…«

»Ich habe Ihnen gesagt«, sagte Carvajal, »daß ich viele Theorien habe. In der Tat so viele, daß sie dazu neigen, sich gegenseitig auszuschließen. Lew, Lew, meinen Sie, es wäre mir egal? Ich habe mein ganzes Leben lang versucht, meine Gabe, meine Macht zu verstehen, und ich kann auf jede Ihrer Fragen ein Dutzend Antworten geben, von denen jede so plausibel ist wie die nächste. Zum Beispiel die Theorie der zwei Zeitlinien. Habe ich die schon erwähnt?«

»Nein.«

»Also dann.« Gelassen holte er einen Kugelschreiber hervor und zeichnete mit festem Strich zwei parallele Geraden auf das Tischtuch. Er bezeichnete die Endpunkte der einen mit X und Y, die der anderen mit X’ und Y’. »Diese Linie, die von X nach Y läuft, ist der Lauf der Geschichte, wie wir sie kennen. Sie beginnt mit der Entstehung des Universums im Punkt X und endet mit dem thermodynamischen Gleichgewicht, dem Hitzetod, in Y, klar? Und das sind einige bedeutsame Daten in ihrem Verlauf.« Mit pedantischen kleinen Bewegungen zeichnete er Querstriche ein, von seiner Seite des Tisches aus zu mir herüber voranschreitend. »Das ist das Zeitalter des Neandertalers. Das ist die Zeit Christi. Das ist 1939, der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Übrigens auch der Beginn von Martin Carvajal. Wann wurden Sie geboren? Ungefähr 1970?«

»1966.«

»1966. In Ordnung. Hier sind Sie, 1966. Und das ist das gegenwärtige Jahr, 1999. Sagen wir, Sie werden neunzig Jahre alt werden. Dann ist das hier das Jahr Ihres Todes, 2056. Soviel zur Linie X-Y. Nun diese andere Linie, X’-Y’ — das ist ebenfalls der Verlauf der Geschichte in diesem Universum, genau derselbe Geschichtsverlauf, den die andere Linie darstellt. Nur läuft sie in umgekehrter Richtung.«

»Was?«

»Warum nicht? Nehmen Sie an, es gäbe viele Universen, jedes sei unabhängig von allen anderen, jedes habe seinen einzigartigen Bestand an Sonnen und Planeten, auf denen Ereignisse stattfinden, die nur in jenem Universum vorkommen. Eine Unendlichkeit von Universen, Lew. Gibt es irgendeinen zwingenden logischen Grund, warum die Zeit in all diesen Universen in derselben Richtung fließen müßte?«

»Entropie«, murmelte ich. »Die Gesetze der Thermodynamik. Zeitpfeil. Ursache und Wirkung.«

»Ich habe nichts gegen diese Gedanken. Soweit ich weiß, sind sie alle innerhalb eines geschlossenen Systems gültig«, sagte Carvajal. »Aber ein geschlossenes System hat in bezug auf ein anderes keine entropischen Verantwortungen, oder? Die Zeit kann im einen Universum von A bis Z ticken und in einem anderen von Z bis A, aber nur ein Beobachter außerhalb beider Universen wird das erkennen können, solange innerhalb jedes Universums der tägliche Fluß von der Ursache zur Wirkung läuft und nicht umgekehrt. Würden Sie die Logik dieses Arguments anerkennen?«

Für einen Augenblick schloß ich die Augen. »In Ordnung. Wir haben eine Unendlichkeit von Universen, die alle voneinander getrennt sind, und die Richtung des Zeitflusses in einem x-beliebigen mag in bezug auf die anderen auf den Kopf gestellt erscheinen. Und dann?«

»In einer Unendlichkeit existieren alle möglichen Fälle, ja?«

»Ja. Laut Definition.«

»Dann werden Sie ebenfalls zustimmen«, sagte Carvajal, »daß in jener Unendlichkeit unverbundener Universen eines sein könnte, das unserem in allen Einzelheiten gleicht, mit Ausnahme der Richtung seines Zeitflusses in bezug auf unseren Zeitfluß hier.«

»Ich glaube, ich begreife nicht…«

»Schauen Sie her«, sagte er ungeduldig und deutete auf die Gerade, die von X’ nach Y’ über das Tischtuch lief. »Hier ist ein anderes Universum, Seite an Seite mit unserem, haargenau dasselbe. Aber in diesem ist die Entstehung bei Y’ statt bei X, und der Hitzetod des Universums ist bei X’ statt bei Y. Hier unten« — er zeichnete nahe meiner Tischkante einen Querstrich durch die zweite Linie — »ist die Epoche des Neandertalers. Hier die Kreuzigung. Hier 1939, 1966, 1999, 2056. Dieselben Ereignisse, dieselben Schlüsseldaten, aber von hinten nach vorne laufend. Das heißt, ihre Reihenfolge erscheint umgekehrt, wenn Sie in diesem Universum leben und in der Lage sind, einen Blick in das andere zu werfen. Für die da drüben läuft natürlich alles in der richtigen Richtung.« Carvajal verlängerte die Querstriche in den Punkten 1939 und 1999 auf der X-Y-Linie, bis sie die X’-Y’-Linie schnitten, und verfuhr genauso mit den 1999- und 1939-Querstrichen der zweiten Linie. Dann klammerte er beide Querstriche zusammen, indem er ihre Enden verband, wodurch folgendes Bild entstand:



Ein vorübereilender Kellner sah, was Carvajal mit dem Tischtuch anstellte, hüstelte leise, ging aber weiter, sagte nichts, verzog keine Miene. Carvajal schien es nicht zu bemerken. Er fuhr fort: »Nehmen wir nun an, daß im X-Y-Universum ein Mensch geboren wird, der — Gott weiß, warum — in der Lage ist, gelegentlich in das X’-Y’-Universum hineinzusehen. Ich. Hier bin ich auf meiner Wanderung von 1939 nach 1999 in X-Y und werfe ab und zu einen Blick nach X’-Y’ hinüber und beobachte die Ereignisse ihrer Jahre 1939 bis 1999, die dieselben sind wie bei uns, nur daß sie in umgekehrter Reihenfolge abfließen, so daß zum Zeitpunkt meiner Geburt hier mein ganzes X-Y-Leben in X’-Y’ schon passiert, schon Geschichte ist. Wenn sich mein Bewußtsein an das Bewußtsein meines anderen Selbst dort drüben anschließt, erwische ich es dabei, wie es sich seiner Vergangenheit erinnert, die meine Zukunft hier ist.«

»Sehr fein.«

»Ja. Der normale Mensch, der auf ein einziges Universum beschränkt ist, kann nach Belieben in seinem Gedächtnis herumschweifen, er kann sich frei in seiner eigenen Vergangenheit ergehen. Aber ich habe Zutritt zum Gedächtnis eines Menschen, der in der entgegengesetzten Richtung lebt, was mir erlaubt, mich sowohl an die Vergangenheit als auch an die Zukunft zu ›erinnern‹. Das heißt, falls die Theorie der zwei Zeitlinien korrekt ist.«

»Und ist sie das?«

»Wie soll ich das wissen?« fragte Carvajal. »Es ist nur eine plausible Arbeitshypothese, um zu erklären, was bei meinem Sehen passiert. Aber wie soll ich sie überprüfen?«

Nach einer Weile fragte ich: »Die Dinge, die Sie sehen — erscheinen die Ihnen in umgekehrter chronologischer Ordnung? Die Zukunft, die sich in einer fortlaufenden Bildrolle enthüllt, so etwas Ähnliches?«

»Nein. Nie. Genauso wenig wie Ihre Erinnerungen eine einzige fortlaufende Bildrolle bilden. Ich bekomme unregelmäßige Einblicke. Bruchstücke von Szenen, manchmal längere Passagen, die anscheinend eine Zeitdauer von zehn oder fünfzehn Minuten, oder mehr, umspannen, aber immer in willkürlichem Durcheinander, nie in linearer Folge. Ich habe gelernt, das größere Muster selbst zu finden, mich an Passagen zu erinnern und sie in einer wahrscheinlichen Ordnung aneinander zu hängen. Es war so, wie wenn man lernt, babylonische Gedichte zu lesen, indem man Keilschrift-Inschriften auf zerbrochenen, durcheinandergeratenen Steinen entziffert. Allmählich entwickelte ich ein System von Anhaltspunkten, das mich bei meinen Rekonstruktionen der Zukunft leitete: Das ist mein Gesicht mit Vierzig, mit Fünfzig, mit Sechzig, das sind die Kleider, die ich von 1965 bis 1973 getragen habe, das ist die Zeit, in der ich einen Schnurrbart hatte, in der mein Haar dunkel war, oh, ein ganzer Haufen kleiner Referenzen, Assoziationen und Fußnoten, die mir mit der Zeit so vertraut wurden, daß ich jede Szene, die ich sah, selbst die kürzeste, auf Wochen oder sogar auf Tage genau datieren konnte. Zuerst war das nicht leicht, aber inzwischen ist mir das zweite Natur.«

»Sehen Sie jetzt, in diesem Augenblick?«

»Nein«, sagte er. »Es bedarf einer Anstrengung, den Zustand herbeizuführen. Er ähnelt weitgehend einer Trance.« Ein Hauch von Winter flog über sein Gesicht. »In seiner machtvollsten Form handelt es sich um eine Art Doppelvision, eine Welt liegt über der anderen, so daß ich nicht ganz sicher sagen kann, in welcher Welt ich lebe und welche Welt ich sehe. Selbst nach all diesen Jahren komme ich mit diesem Verlust der Orientierung, dieser Verwirrung, nicht ganz zurecht.« Ein Zittern schien durch ihn zu fahren. »Gewöhnlich ist es nicht so intensiv. Wofür ich dankbar bin.«

»Könnten Sie mir zeigen, wie es ist?«

»Hier? Jetzt?«

»Bitte.«

Er musterte mich lange. Er leckte seine Lippen, preßte sie zusammen, warf die Stirn in Falten, überlegte. Dann änderte sich sein Ausdruck abrupt, seine Augen wurden glasig und starr, als sähe er einen Film von der letzten Reihe eines riesigen Kinos aus oder als fiele er in tiefe Meditation. Seine Pupillen weiteten sich, und die Öffnung blieb, unabhängig von den Lichtschwankungen, die an uns vorbeigehende Leute auslösten, konstant. Sein Gesicht sprach deutlich von einer großen Anstrengung. Sein Atem ging langsam, rau und regelmäßig. Er saß vollkommen reglos; er schien ganz und gar abwesend. Eine Minute vielleicht verstrich; mir war sie unerträglich lang. Dann zerfiel seine Starre wie ein fallender Eiszapfen. Er wurde locker. Schultern sackten nach vorne; mit einem raschen Stoß trat Farbe in seine Wangen; seine Augen tränten und wurden trüb; mit bebender Hand griff er nach seinem Wasserglas und schluckte dessen Inhalt gierig hinunter wie ein Verdurstender. Er sagte nichts. Ich wagte nicht zu sprechen.

Schließlich fragte Carvajal: »Wie lang war ich weg?«

»Nur einige Augenblicke. Es kam mir viel länger vor, als es tatsächlich war.«

»Für mich war es eine halbe Stunde, mindestens.«

»Was haben Sie gesehen?«

Er zuckte die Achseln. »Nichts, das ich nicht schon einmal gesehen hätte. Die Szenen wiederholen sich, wissen Sie, fünf-, zehn-, zwanzigmal. Wie in der Erinnerung. Aber Erinnerung verändert die Dinge. Die Szenen, die ich sehe, ändern sie nie.«

»Möchten Sie darüber reden?«

»Es war nichts«, sagte er leichthin. »Etwas, das im nächsten Frühling geschehen wird. Sie waren dabei. Das ist nicht überraschend, oder? Wir werden in den nächsten Monaten viel Zeit miteinander verbringen, Sie und ich.«

»Was habe ich getan?«

»Beobachtet.«

»Was beobachtet?«

»Mich«, sagte Carvajal. Er lächelte, und es war das Lächeln eines Skeletts, schrecklich trostlos, ein Lächeln gleich dem, das er bei unserer ersten Begegnung in Lombrosos Büro gelächelt hatte. All seine unerwartete Heiterkeit hatte ihn verlassen. Ich wünschte, ich hätte nicht um jene Vorführung gebeten; mir war zumute, als hätte ich einen Sterbenden gebeten, einen Schwof aufs Parkett zu legen. Aber nach einem kurzen, peinlichen Schweigen erholte er sich augenscheinlich. Er zog tief an seiner Zigarre, trank seinen Sherry aus, er saß wieder aufrecht. »Das ist besser«, sagte er. »Es kann sehr erschöpfend sein. Wie wär’s, wenn wir jetzt die Speisekarte kommen lassen, eh?«

»Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Vollkommen.«

»Es tut mir leid, daß ich Sie gebeten habe…«

»Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, sagte er. »Es war nicht so schlimm, wie es ausgesehen haben muß.«

»War es beängstigend, das, was Sie gesehen haben?«

»Beängstigend? Nein, nein, nicht beängstigend. Ich sage Ihnen doch, es war nichts, das ich nicht schon zuvor gesehen hätte. Einer dieser Tage werde ich es Ihnen erzählen.« Er rief den Kellner. »Ich glaube, es ist Zeit zum Mittagessen«, sagte er.

Die Speisekarte wies keine Preise aus, ein Zeichen von geradezu snobistischer Vornehmheit. Das Angebot war unglaublich: gebackenes Lachssteak, Hummer aus Maine, Lende vom Rost, Seezungenfilet, eine ganze Liste unerreichbarer Dinge, nichts von den üblichen eintönigen Sojabohnen-Endzeit-Erfindungen und dem Meeresalgen-Mischmasch. Jedes erstklassige New Yorker Restaurant mochte eine Sorte frischen Fisch und eine Sorte Fleisch anbieten, aber neun oder zehn Raritäten auf einer und derselben Speisekarte, das war ein überwältigender Beweis der Macht und des Reichtums der Clubmitglieder und der hohen Verbindungen seines Küchenchefs. Er wäre kaum überraschender gewesen, wenn die Karte Filet vom Einhorn und gegrilltes Sphinx-Kotelett aufgeführt hätte.

Ohne Ahnung, was die Sachen kosteten, bestellte ich munter drauflos, Cherrystone-Muscheln und die Lende. Carvajal entschied sich für Hummercocktail und Lachs. Er wollte keinen Wein, drängte mich aber, eine halbe Flasche für mich selbst zu bestellen. Die Weinliste gab gleichfalls keine Preise an; ich wählte einen gier Latour, der wahrscheinlich fünfundzwanzig Dollar kostete. Ich sah keinen Sinn darin, mich mit Rücksicht auf Carvajal zurückzuhalten. Ich war sein Gast, und er konnte es sich leisten.

Carvajal beobachtete mich. Er war mir rätselhafter denn je; gewiß hatte er irgend etwas mit mir im Sinn. In seiner abwesenden, unartikulierten, heimlichen Art schien er mich fast zu umwerben. Aber er ließ keine Andeutungen fallen. Ich fühlte mich wie ein Mann, der mit verbundenen Augen gegen einen Gegner pokert, der meine Karten sehen konnte.

Die Vorführung des Sehens, die ich ihm abgelockt hatte, war ein so beunruhigender Einschnitt in unserem Gespräch gewesen, daß ich zögerte, zu dem Thema zurückzukehren; für eine Weile plauderten wir ziellos und liebenswürdig über Wein, Essen, die Börse, die nationale Wirtschaft, Politik und ähnlich neutrale Dinge. Unvermeidlich kamen wir auf das Thema Paul Quinn, und die Luft schien spürbar schwerer zu werden.

Er sagte: »Quinn leistet gute Arbeit, nicht wahr?«

»Ich glaube schon.«

»Er muß der beliebteste Bürgermeister seit Jahrzehnten sein. Er hat Charme, nicht? Und ungeheure Energie. Zuviel manchmal, ja? Er scheint oft ungeduldig zu sein, nicht bereit, die üblichen politischen Gleise zu durchlaufen, wenn er etwas erledigen will.«

»Das stimmt schon«, sagte ich. »Ja, sicher, er ist impulsiv. Ein Fehler der Jugend, Sie müssen bedenken, er ist noch nicht einmal vierzig.«

»Er sollte behutsamer vorgehen. Seine Ungeduld macht ihn manchmal anmaßend. Bürgermeister Gottfried war anmaßend, und Sie wissen, wie es ihm erging.«

»Gottfried war ein ausgesprochener Diktator. Er wollte aus New York einen Polizeistaat machen, und…« Bestürzt hielt ich inne. »Eine Sekunde. Wollen Sie andeuten, daß Quinn ein Attentat droht?«

»Nicht wirklich. Nicht mehr als jedem wichtigeren Politiker auch.«

»Haben Sie etwas gesehen, das…«

»Nein. Nichts.«

»Ich muß es wissen. Wenn Sie irgendwelche Anhaltspunkte für einen geplanten Anschlag auf das Leben des Bürgermeisters haben, machen Sie damit keine Spielchen. Ich möchte es wissen.«

Carvajal sah belustigt drein. »Sie mißverstehen mich. Quinn schwebt in keinerlei persönlicher Gefahr, von der ich wüßte, und ich habe meine Worte schlecht gewählt, wenn sie das impliziert haben. Was ich sagen wollte, ist, daß Gottfrieds Taktiken ihm Feinde gemacht haben. Wenn er nicht ermordet worden wäre, hätte er vielleicht — nur vielleicht — Schwierigkeiten mit der Wiederwahl gehabt. Auch Quinn macht sich in letzter Zeit Feinde. In dem Maße, wie er den Stadtrat immer öfter umgeht, verärgert er bestimmte Wählerblocks.«

»Die Schwarzen, ja, aber…«

»Nicht nur die Schwarzen. Insbesondere die Juden fangen an, sich über ihn zu beschweren.«

»Das war mir nicht bewußt. Die Umfragen zeigen nicht, daß…«

»Noch nicht, nein. Aber in einigen Monaten wird es an die Oberfläche kommen. Zum Beispiel sein Standpunkt in der Frage des Religionsunterrichts in den Schulen hat ihm offenbar in den jüdischen Wohnvierteln schon geschadet. Und seine Kommentare über Israel bei der Einweihung des neuen Hochhauses der Bank von Kuwait in der Lexington Avenue…«

»Diese Einweihung findet erst in drei Wochen statt«, belehrte ich ihn.

Carvajal lachte. »Wirklich. Oh, ich habe die Dinge wieder durcheinandergebracht, nicht wahr? Ich dachte, ich hätte seine Rede im Fernsehen gesehen, aber vielleicht…«

»Sie haben sie nicht gesehen. Gesehen haben Sie sie.«

»Kein Zweifel. Kein Zweifel.«

»Was wird er über Israel sagen?«

»Nur ein paar kleine stichelnde Witzeleien. Aber die Juden hier sind für solche Bemerkungen extrem empfindlich, und die Reaktion war nicht — wird nicht gut sein. Sie wissen ja, New Yorker Juden sind traditionell mißtrauisch gegenüber Politikern irischer Abstammung. Insbesondere gegenüber irischen Bürgermeistern; aber nicht einmal für die Kennedys hatten sie so sehr viel übrig.«

»Quinn ist genauso wenig Ire wie Sie Spanier sind«, sagte ich.

»Jeder, der Quinn heißt, ist für die Juden ein Ire, und seine Nachkommen bis zur fünfzigsten Generation werden Iren sein, und ich bin ein Spanier. Sie mögen Quinns Aggressivität nicht. Bald werden sie finden, daß er nicht die richtige Einstellung zu Israel hat. Und sie werden vernehmlich schimpfen.«

»Wann?«

»Im Herbst. Die Times wird auf der ersten Seite einen Artikel über die Entfremdung der jüdischen Wählerschaft bringen.«

»Nein«, sagte ich. »Ich werde veranlassen, daß Lombroso an Quinns Stelle zu der Kuwait-Einweihung geht. Dann macht Quinn erst gar nicht den Mund auf, und wir rufen allen ins Gedächtnis, daß wir einen Juden auf der höchsten Ebene der Stadtregierung haben.«

»Oh, nein, das können Sie nicht machen«, sagte Carvajal kopfschüttelnd.

»Warum nicht?«

»Weil Quinn die Rede halten wird. Ich habe ihn gesehen.«

»Und wenn ich veranlasse, daß Quinn in der Woche nach Alaska fährt?«

»Bitte, Lew! Es ist unmöglich, daß Quinn am Tag der Einweihung irgendwo anders als im Gebäude der Bank von Kuwait ist. Unmöglich!«

»Und wahrscheinlich auch unmöglich, daß er seine Witzchen über Israel sein läßt, selbst wenn er gewarnt wird?«

»Ja.«

»Das kann ich nicht glauben. Wenn ich morgen zu ihm sage, he, Paul, meine Ermittlungen ergeben, daß die jüdischen Wähler unruhig werden, also laß lieber die Kuwait-Sache, dann wird er sie lassen. Oder seine Zunge im Zaum halten.«

»Er wird hingehen«, sagte Carvajal ruhig, »und seine Witzchen vom Stapel lassen.«

»Egal, was ich sage oder tue?«

»Egal, was Sie sagen oder tun, Lew.«

Ich schüttelte den Kopf. »Die Zukunft ist nicht so unerbittlich, wie Sie denken. Ein Wörtchen haben wir bei dem, was kommt, schon auch mitzureden. Ich werde mit Quinn über die Kuwait-Zeremonie sprechen.«

»Bitte, tun Sie das nicht!«

»Warum nicht?« fragte ich grob. »Weil Sie wollen, daß die Zukunft so kommt, wie Sie sagen?«

Damit schien ich ihn verletzt zu haben. Sanft sagte er: »Weil ich weiß, daß die Zukunft immer so kommt, wie ich sie gesehen habe. Bestehen Sie darauf, das zu überprüfen?«

»Quinns Interessen sind meine Interessen. Wenn Sie gesehen haben, daß er etwas tut, was diesen Interessen schadet, wie kann ich da still sitzen und ihn einfach drauflosmachen lassen?«

»Es gibt keine Wahl.«

»Das glaube ich noch nicht.«

Carvajal seufzte. »Wenn Sie die Sache mit der Kuwait-Zeremonie beim Bürgermeister aufbringen«, sagte er ernst, »werden Sie das letzte Mal etwas von dem erfahren haben, was ich sehe.«

»Ist das eine Drohung?«

»Die Feststellung einer Tatsache.«

»Eine Feststellung, die dazu tendiert, Ihre Prophezeiung selbsterfüllend zu machen. Sie wissen, daß ich Ihre Hilfe will, also verschließen Sie mir mit Ihrer Drohung die Lippen, und natürlich findet dann die Zeremonie so statt, wie Sie sie gesehen haben. Aber was habe ich davon, wenn Sie mir etwas erzählen und ich nicht die Konsequenzen ergreifen darf? Warum riskieren Sie es nicht, mir freie Hand zu lassen? Sind Sie sich der Kraft Ihrer Visionen so unsicher, daß Sie auf diese Weise ihr Eintreten garantieren müssen?«

»Also gut«, sagte Carvajal milde, ohne Bosheit. »Sie haben freie Hand. Tun Sie, was Sie für richtig halten. Wir werden sehen, was passiert.«

»Und wenn ich mit Quinn rede, wird das den Bruch zwischen Ihnen und mir bedeuten?«

»Wir werden sehen, was passiert«, sagte er.

Er hatte mich in der Falle. Wieder hatte er mich ausgespielt, denn wie konnte ich es wagen, meinen Zugang zu seinen Visionen zu gefährden, und wie sollte ich wissen, wie er auf meinen Verrat reagieren würde? Ich würde es zulassen müssen, daß Quinn im nächsten Monat die Juden verärgerte, und darauf bauen, den Schaden später auszubessern, es sei denn, ich fände einen Weg, Carvajals Schweigegebot zu umgehen. Vielleicht sollte ich die Angelegenheit mit Lombroso besprechen.

Ich fragte: »Wie schwer wird die Verstimmung der Juden über Quinn sein?«

»Schwer genug, ihm eine Menge Stimmen zu kosten. Er will Null-Eins für die Wiederwahl kandidieren, nicht wahr?«

»Wenn er nicht nächstes Jahr Präsident wird.«

»Wird er nicht«, sagte Carvajal. »Das wissen wir beide. Er wird nicht einmal kandidieren. Aber er muß im Jahre 2001 als Bürgermeister wiedergewählt werden, wenn er drei Jahre später ins Weiße Haus will.«

»Unbedingt.«

»Dann sollte er sich die jüdischen Stimmen von New York nicht verscherzen. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.«

Im Geist merkte ich mir vor, Quinn den Rat zu geben, seine Beziehungen zu den Juden der Stadt zu verbessern — er brauchte nur ein paar koschere Delikatessengeschäfte zu besuchen, freitagabends mal in ein paar Synagogen hineinzusehen.

»Habe ich Sie mit meiner Bemerkung vorhin verärgert?« fragte ich.

»Ich ärgere mich nie«, sagte Carvajal.

»Verletzt dann. Es schien Sie zu verletzen, als ich sagte, Sie wollten die Zukunft so haben, wie Sie sie gesehen haben.«

»Ja, es hat mich wohl verletzt. Weil es zeigt, wie wenig Sie mich verstanden haben, Lew. Als ob Sie wirklich dächten, ich stände unter einem neurotischen Zwang, meine Vision wahrzumachen. Als ob Sie annähmen, ich erpresse Sie psychologisch, um Sie daran zu hindern, die Entwicklung durcheinander zu bringen. Nein, Lew. Die Entwicklung kann nicht durcheinandergebracht werden, und solange Sie das nicht einsehen, wird es zwischen uns keine wirkliche Verwandtschaft des Denkens, keine Gemeinsamkeit der Visionen geben. Ihre Bemerkung hat mich traurig gestimmt, weil sie mir gezeigt hat, wie weit Sie tatsächlich von mir entfernt sind. Aber, nein, nein, ich bin nicht über Sie verärgert. Ist das Steak gut?«

»Ausgezeichnet«, sagte ich, und er lächelte. Wir beendeten unser Mal schweigend und gingen, ohne auf die Rechnung zu warten. Der Club würde ihm die Rechnung schicken. Sie mußte sich auf über hundertundfünfzig Dollar belaufen.

Draußen, als wir uns verabschiedeten, sagte Carvajal: »Eines Tages, wenn Sie selbst sehen werden, werden Sie begreifen, warum Quinn bei der Bank-Einweihung die Dinge sagen muß, die er, wie ich weiß, sagen wird.«

»Wenn ich selbst sehen werde?«

»Sie werden.«

»Ich habe nicht die Gabe.«

»Jedermann hat die Gabe«, sagte er. »Nur sehr wenige wissen mit ihr umzugehen.« Er drückte kurz meinen Unterarm und verschwand in der Menschenmenge auf der Wall Street.

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