35

Nach dem Mittagessen räumte ich meinen Schreibtisch aus und ging nach Hause, ging in die Wohnung, die jetzt mein Zuhause abgab, wanderte den Rest des Nachmittags in den schäbigen, halbleeren Räumen herum und versuchte zu begreifen, was mir widerfahren war. Entlassen? Ja, entlassen. Ich hatte die Maske fallen lassen, und was darunter war, hatte ihnen nicht zugesagt. Ich hatte aufgehört, den Wissenschaftler zu heucheln, und mich zur Zauberei bekannt, ich hatte Mardikian die wahre Wahrheit eröffnet, und nun würde ich nicht mehr ins Rathaus gehen und im Kreise der Mächtigen sitzen, und nicht mehr würde ich hinfort die Geschichte des charismatischen Paul Quinns formen und lenken, und wenn er im Januar in fünf Jahren den Amtseid in Washington leistete, würde ich die Szene aus weiter Ferne im Fernsehen verfolgen, als der vergessene, der gemiedene Mann, der Aussätzige der Regierung. Ich war zu unglücklich, um auch nur zu weinen. Ohne Frau, ohne Arbeit, ohne Aufgabe: Stundenlang durchstrich ich meine trostlose Wohnung, und als ich dessen müde wurde, stand ich eine weitere Stunde oder länger müßig am Fenster, sah zu, wie sich der Himmel bleiern färbte, sah zu, wie der unerwartete erste Schnee dieses Winters niederfiel, sah zu, wie kalte Nacht sich über Manhattan breitete.

Dann verdrängte Ärger die Verzweiflung, und wütend rief ich Carvajal an.

»Quinn weiß Bescheid«, sagte ich. »Über Sudakis’ Rücktritt. Ich habe Mardikian das Memo vorgelegt, und er hat es dem Bürgermeister gezeigt.«

»Ja?«

»Und sie haben mich entlassen. Sie glauben, ich bin verrückt. Mardikian sprach mit Sudakis, der ihm sagte, er denke nicht an Rücktritt, und Mardikian sagte, er und der Bürgermeister machten sich Sorgen wegen meiner Kristallkugel-Prophezeiungen; sie wollten, daß ich wieder zu normalen Projektionen zurückkehre, und da habe ich ihnen vom Sehen erzählt. Sie habe ich nicht erwähnt. Ich sagte, ich hätte die Fähigkeit, und von daher stammten die Empfehlungen in Sachen Thibodaux und Sudakis, und Mardikian ließ mich alles vor Quinn wiederholen, und Quinn sagte, es wäre ihm zu gefährlich, einen Irren wie mich in seinem Stab zu behalten. Natürlich hat er es etwas milder ausgedrückt. Bis zum dreißigsten Juni bin ich beurlaubt, dann werde ich von der Liste der städtischen Gehaltsempfänger gestrichen.«

»Aha«, sagte Carvajal. Es klang weder überrascht noch mitfühlend.

»Sie wußten, daß das passieren würde.«

»Ja?«

»Sie müssen es gewußt haben. Treiben Sie keine Spiele mit mir, Carvajal. Wußten Sie, daß man mich feuern würde, wenn ich dem Bürgermeister sagte, daß Sudakis im Januar zurücktreten werde?«

Carvajal sagte nichts.

»Wußten Sie’s, oder wußten Sie’s nicht?«

Das schrie ich.

»Ich wußte es«, sagte er.

»Sie wußten es. Natürlich wußten Sie es. Aber Sie haben es mir nicht gesagt.«

»Sie haben mich nicht danach gefragt«, erwiderte er unschuldig.

»Ich habe nicht daran gedacht zu fragen. Gott weiß warum, aber ich habe nicht dran gedacht. Hätten Sie mich nicht warnen können? Hätten Sie nicht sagen können: Halten Sie den Mund, lassen Sie nichts verlauten, Ihre Lage ist heikler, als Sie ahnen, man wird Sie mit einem Tritt in den Hintern hinausbefördern, wenn Sie nicht aufpassen?«

»Wie können Sie immer noch solche Fragen stellen, Lew?«

»Sie konnten einfach ruhig zulassen, daß meine Karriere zerstört wird?«

»Überlegen Sie doch mal in Ruhe«, sagte Carvajal. »Ich wußte, daß Sie entlassen werden würden, ja. Genauso, wie ich weiß, daß Sudakis zurücktreten wird. Aber was konnte ich machen? Für mich hat Ihre Entlassung schon stattgefunden. Sie kann nicht verhindert werden.«

»O Gott! Kommen Sie mir wieder mit der Verwirklichung der Wirklichkeit?«

»Natürlich. Nehmen Sie denn wirklich an, Lew, ich würde Sie vor etwas warnen, wenn es doch nur scheinbar in Ihrer Macht steht, es zu ändern? Wie sinnlos das wäre! Wie töricht! Wir ändern nichts.«

»Nein, wir ändern nichts«, sagte ich bitter. »Wir halten uns abseits und lassen es höflich geschehen. Notfalls sorgen wir noch dafür, daß es geschieht. Selbst wenn das eine Karriere zerstört, selbst wenn damit der Versuch zerstört wird, diesem armen, schlechtregierten Land einen Präsidenten zu geben, der… O Gott, Carvajal, das haben Sie mir eingebrockt, nicht wahr? Sie haben die ganze Sache so geplant und mich hineingeritten. Und es ist Ihnen egal. Nicht wahr? Es ist Ihnen völlig egal!«

»Es gibt viel Schlimmeres, als nur einen Job zu verlieren, Lew.«

»Aber alles, was ich aufgebaut habe, alles, was ich zu formen versucht habe… Wie in Gottes Namen soll ich jetzt Quinn helfen? Was soll ich tun? Sie haben mich ruiniert.«

»Was geschehen ist, mußte geschehen«, sagte er.

»Sie und Ihre verdammte fromme Ergebenheit!«

»Ich dachte, Sie hätten sich diese Ergebenheit längst zu eigen gemacht.«

»Ich mache mir gar nichts zu eigen!« schrie ich. »Ich war von Sinnen, mich je mit Ihnen einzulassen, Carvajal. Ihretwegen habe ich Sundara verloren, meinen Platz an Quinns Seite, meine Gesundheit und meinen Verstand, ich habe alles verloren, was mir wichtig war, und wofür? Wofür? Für einen kümmerlichen Blick in die Zukunft, der vielleicht nur eine Erschöpfungshalluzination war? Für einen Kopf voll krankhafter fatalistischer Philosophie und unausgegorener Theorien über den Fluß der Zeit? Mein Gott! Wäre ich Ihnen nur nie begegnet! Wissen Sie, was Sie sind, Carvajal? Ein Vampir sind Sie, ein Blutsauger, der Energie und Vitalität aus mir zieht! Sie benützen mich, Ihre Kräfte aufzufrischen, während Sie dem Ende Ihres nutzlosen, sterilen, vergeudeten, leeren Lebens zutreiben!«

Das alles schien Carvajal keineswegs zu bewegen. »Es tut mir leid, daß Sie sich so miserabel fühlen«, sagte er sanft.

»Was verbergen Sie noch vor mir? Kommen Sie, nur heraus mit all den schlimmen Nachrichten! Rutsche ich Weihnachten auf Glatteis aus und breche mir das Rückgrat? Verbrauche ich meine Ersparnisse und werde erschossen, während ich eine Bank beraube? Werde ich demnächst zum Fixer? Kommen Sie, sagen Sie, was mir bevorsteht!«

»Bitte, Lew.«

»Sagen Sie mir’s!«

»Sie sollten sich beruhigen.«

»Sagen Sie mir’s!«

»Ich verberge nichts. Sie werden einen ziemlich ereignislosen Winter verbringen. Es wird eine Zeit des Übergangs für Sie sein, der Meditation und des inneren Wandels, ohne dramatische äußere Ereignisse. Und dann — und dann —, mehr kann ich Ihnen nicht sagen, Lew. Sie wissen, ich kann nicht weiter als bis zum kommenden Frühling sehen.«

Diese letzten Worte trafen mich wie ein Fußtritt in den Bauch. Natürlich. Natürlich! Carvajal würde bald sterben. Ein Mann, der nichts tun würde, seinen eigenen Tod zu verhindern, würde auch nicht eingreifen, wenn ein anderer, selbst sein einziger Freund, geradewegs auf die Katastrophe zumarschierte. Er würde seinen Freund sogar noch den Abhang hinunterstoßen, wenn er einen Stoß für richtig hielt. Es war naiv von mir gewesen, anzunehmen, Carvajal würde mich vor Schaden zu bewahren suchen, wenn er einmal den Schaden hatte kommen sehen. Der Mann war ungut. Und der Mann wollte mein Verderben.

Ich sagte: »Alle Abmachungen zwischen uns sind gekündigt. Ich habe Angst vor Ihnen. Ich möchte nichts mehr mit Ihnen zu tun haben, Carvajal. Sie werden nichts mehr von mir hören.«

Er schwieg. Vielleicht lachte er in sich hinein. Fast sicher lachte er in sich hinein.

Sein Schweigen untergrub die melodramatische Wucht meiner kleinen Abschiedsrede.

»Wiedersehen«, sagte ich, kam mir im selben Moment furchtbar blöde vor und hängte krachend auf.

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