34

Ich machte Urlaub. Nicht an den Stranden von Hawaii — zu überfüllt, zu hektisch, zu weit weg — und nicht in der Jagdhütte in Kanada, denn dort würde schon der erste Schnee fallen; nein, im goldenen Kalifornien, Carlos Socorros Kalifornien, an der glorreichen Küste von Big Sur, wo bequemerweise ein anderer Freund von Lombroso eine einsame Holzhütte auf einem Felsen hoch über dem Meer besaß. Zehn ruhelose Tage lang lebte ich in ländlicher Abgeschiedenheit: die dichtbewaldeten Hänge der Santa-Lucia-Berge, dunkel, geheimnisvoll, farnverwuchert, hinter mir und die breite Brust des Pazifiks vor mir. Es war, so hatte man mir zugesichert, die schönste Zeit des Jahres in Big Sur, die idyllischen Wochen, die die Nebel des Sommers vom Regen des Winters scheiden, und wirklich war es so: warme, sonnenbeschienene Tage, kühle, sternklare Nächte und ein erstaunlicher, purpur- und goldfarbener Sonnenuntergang allabendlich. Ich wanderte in den stillen Rotholzwäldern, ich schwamm in kalten, ungestümen Bergflüssen, ich kletterte über dicht mit Kaskaden glattblättriger Sukkulenten bewachsene Felsen zum Strand und der tosenden Brandung hinunter. Ich beobachtete Kormorane und Möwen bei ihren Mahlzeiten und, eines Morgens, einen drolligen Seehund, der fünfzig Meter vor der Küste auf dem Rücken dahinschwamm und an einem Krebs knabberte. Ich las keine Zeitungen. Ich telefonierte nicht. Ich schrieb keine Memoranda.

Aber Frieden fand ich nicht. Zuviel dachte ich an Sundara, fragte mich in einer ziellosen, betäubten Weise, warum ich sie verloren hatte; ich zermürbte mich mit Sorgen über öde politische Angelegenheiten, die sich jeder vernünftige Mensch in solch großartiger Umgebung aus dem Kopf geschlagen hätte; ich ersann komplexe Katastrophen, die eintreten könnten, wenn Quinn nicht nach Louisiana ginge. Im Paradies lebend, tat ich alles, zerrissen, angespannt und ruhelos zu sein.

Aber langsam und allmählich erlaubte ich mir doch, mich erfrischt zu fühlen. Langsam drang der Zauber der üppigen Küste, der wie durch ein Wunder in einem Jahrhundert erhalten geblieben war, in dem fast alles andere verdorben wurde, in meine stumpfe und bedrückte Seele.

Möglicherweise sah ich zum ersten Mal während meines Aufenthalts in Big Sur.

Sicher bin ich mir nicht. Monate enger Beziehung zu Carvajal hatten noch keine greifbaren Ergebnisse gezeitigt. Die Zukunft sandte mir keine Botschaften, die ich lesen konnte. Ich kannte jetzt die Tricks, mit denen Carvajal den Zustand des Sehens herbeiführte, ich kannte die Anzeichen einer bevorstehenden Vision, ich war mir sicher, daß ich in Bälde sehen würde, aber ich hatte keine eindeutige visionäre Erfahrung gehabt; und je mehr ich versuchte, eine zu erlangen, desto ferner erschien mir natürlich mein Ziel. Aber gegen Ende meiner Tage in Big Sur gab es einen merkwürdigen Moment.

Ich war am Strand gewesen, und nun, am späten Nachmittag, stieg ich rasch den steilen Pfad zur Hütte hinan, schnell ermüdend, schwer atmend, den berauschenden Schwindel genießend, der mich ergriff, da ich Herz und Lungen bewußt bis an die Grenzen ihrer Kraft beanspruchte. An einer scharfen Biegung des Weges hielt ich kurz inne und drehte mich um, um zurück und hinab zu blicken; der blendende Glanz der niedergehenden Sonne, der auf der Tafel des Meeres vibrierte, schlug auf mich ein und betäubte mich, so daß ich schwankte und zitterte und mich an einen Busch klammern mußte, um nicht zu stürzen. Und in diesem Augenblick schien es mir — schien: Es war nur eine illusorische Empfindung, ein kurzes Aufflackern des Unbewußten —, als starre ich durch das goldene Feuer des Sonnenlichts in eine Zeit, die noch nicht gekommen war, als sähe ich eine riesige, rechteckige, grüne Fahne, die über einem Betonplatz flatterte, und aus der Mitte der Fahne sah mich das Gesicht Paul Quinns an, ein machtvolles, ein beherrschendes Gesicht, und der Platz war voller Menschen. Tausende aneinandergedrängt, Hunderttausende, die die Arme erhoben hatten, brüllten, die Fahne grüßten, ein Mob, ein gewaltiges Kollektivwesen, verloren in Hysterie, in Anbetung Quinns. Es hätte ebenso gut 1934 sein können, Nürnberg, ein anderes Gesicht auf der Fahne, unheimliche, stechende Augen und ein kleiner schwarzer Schnurrbart, und die Menschen hätten ebenso gut Sieg! Heil! Sieg! Heil! rufen können.

Ich keuchte und fiel auf die Knie, von Schwindel, Furcht, Verwunderung, Schrecken befallen, und ich stöhnte und schlug die Hände vors Gesicht, und dann war die Vision verschwunden, dann blies die Nachmittagsbrise Fahne und Mob aus meinem zuckenden Hirn, und nichts lag mehr vor mir als der endlose Pazifik.

Hatte ich gesehen? Hatte sich der Vorhang der Zeit für mich geöffnet? War Quinn der kommende Führer, der Duce von morgen? Oder hatte sich mein müder Geist mit meinem müden Körper verschworen, einen flüchtigen paranoiden Blitz hervorzuschleudern, verrückte Einbildungen und nichts weiter? Ich wußte es nicht. Ich weiß es immer noch nicht. Ich habe meine Theorie, und meine Theorie besagt, daß ich gesehen habe, aber nie habe ich jene Fahne wieder gesehen, nie wieder habe ich das furchtbar hallende Gebrüll jenes ekstatischen Mobs gehört, und bis die Fahne nicht tatsächlich über uns weht, werde ich die Wahrheit nicht wissen.

Schließlich beschloß ich, daß ich mich lange genug in die Walder zurückgezogen hatte, um mein Ansehen im Rathaus als stabiler und vertrauenswürdiger Berater wiederherzustellen, und fuhr nach Monterey, machte mit dem Hubschrauber den Sprung nach San Francisco und flog heim nach New York, in meine staubige, vernachlässigte Wohnung in der Dreiundzwanzigsten Straße. Nicht viel hatte sich geändert. Die Tage waren kürzer, es war ja schon November, und der Dunst des Herbstes war von den ersten scharfen Windstößen des heraneilenden Winters gewichen, der von Fluß zu Fluß die Stadt in die Zange nahm. Der Bürgermeister war, mirabile dictu, in Louisiana gewesen, zum Mißvergnügen der Leitartikelschreiber der New York Times, war für den Bau des dubiosen Plaquemines-Damm eingetreten, war fotografiert worden, wie er Gouverneur Thibodaux umarmte: Quinn sah säuerlich entschlossen aus, lächelnd wie vielleicht ein Mann lächelt, der engagiert wurde, einen Kaktus zu herzen.

Bald fuhr ich hinaus nach Brookly, um Carvajal zu besuchen.

Einen Monat lang hatte ich Carvajal nicht gesehen, aber er schien um sehr viel mehr als einen Monat gealtert: fahl, eingesunken, die Augen trüb und wässerig, ein Zittern in seinen Händen. Seit unserem ersten Treffen im März, in Bob Lombrosos Büro, hatte er nicht mehr so verbraucht und hinfällig gewirkt; all die Kraft, die ihm im Frühling und Sommer zugeflossen war, hatte ihn nun verlassen, all die plötzliche Vitalität, die er vielleicht aus der Beziehung zu mir geschöpft hatte. Nicht vielleicht: bestimmt. Denn Minute für Minute kehrte, während wir saßen und redeten, mehr Farbe in ihn zurück, ein Leuchten von Energie trat wieder in seine Züge.

Ich berichtete ihm, was auf dem Küstenpfad von Big Sur geschehen war. Lächelte er? »Möglicherweise ein Anfang«, sagte er leise. »Irgendwann muß es losgehen. Warum nicht dort?«

»Aber wenn ich gesehen habe, was bedeutet die Vision? Quinn mit Fahnen? Quinn, der einen Mob hinreißt?«

»Wie soll ich das wissen?« fragte Carvajal.

»Sie haben nie etwas Ähnliches gesehen?«

»Quinns große Zeit erlebe ich nicht mehr«, rief er mir ins Gedächtnis. Seine Augen tadelten mich sanft. Ja: Dieser Mann hatte weniger als sechs Monate zu leben und wußte es, bis hin zur Stunde, zur Minute. Er sagte: »Vielleicht können Sie sich erinnern, wie alt Quinn in Ihrer Vision war. Die Haarfarbe, die Falten im Gesicht…«

Ich versuchte, mich zu erinnern. Quinn war neununddreißig Jahre alt. Wie alt war der Mann, dessen Gesicht jene große Fahne bedeckt hatte? Ich hatte ihn sofort als Quinn erkannt, also konnten die Veränderungen nicht sehr groß gewesen sein. War das Gesicht eckiger, die Kieferpartie wuchtiger? Ergraute das blonde Haar an den Schläfen? Hatte sein eisernes Lächeln tiefere Linien in sein Gesicht geschnitten? Ich konnte es nicht sagen. Ich hatte nicht darauf geachtet. Vielleicht nur eine Einbildung. Eine aus Müdigkeit geborene Halluzination. Ich bat Carvajal um Entschuldigung und versprach, das nächste Mal besser aufzupassen, wenn mir ein nächstes Mal vergönnt sein sollte. Er versicherte mir, es würde ein nächstes Mal geben. Ich würde sehen, sagte er mit Nachdruck. Je länger wir zusammen waren, desto schwungvoller wurde er. Ich würde sehen, daran bestehe kein Zweifel.

Dann sagte er: »Und jetzt zum Geschäft. Neue Instruktionen für Quinn.«

Diesmal gab es nur eine Botschaft: Der Bürgermeister sollte anfangen, sich nach einem neuen Polizeichef umzusehen, weil der gegenwärtige, Sudakis, in Kürze zurücktreten werde. Das überraschte mich. Sudakis war einer von Quinns glücklichsten Griffen bei der Ämterbesetzung gewesen — er war tatkräftig und populär, fast ein Held, wie ihn die New Yorker Polizei seit Generationen nicht mehr gehabt hatte, ein solider, verläßlicher, unbestechlicher, mutiger Mann. Nach den anderthalb Jahren, in denen er das Department geleitet hatte, konnte man es sich schon nicht mehr ohne ihn vorstellen; es war, als ob er immer schon der Chef gewesen sei und es immer sein würde. In bewundernswerter Weise war er daran gegangen, die Gestapo, zu der die Polizei unter Bürgermeister Gottfried geworden war, wieder in eine Friedenstruppe zu verwandeln, und die Arbeit war noch nicht abgeschlossen: Erst vor ein paar Monaten hatte ich gehört, wie Sudakis dem Bürgermeister sagte, er werde noch weitere anderthalb Jahre brauchen, um die Säuberung zu beenden. Sudakis vor dem Rücktritt? Es klang nicht sehr wahrscheinlich.

»Quinn wird es nicht glauben«, sagte ich. »Er wird mir ins Gesicht lachen.«

Carvajal zuckte die Achseln. »Sudakis wird nach dem ersten Januar nicht mehr Polizeichef sein. Der Bürgermeister sollte einen fähigen Nachfolger bereit haben.«

»Vielleicht. Aber das ist alles so verdammt unplausibel. Sudakis steht wie der Felsen von Gibraltar. Ich kann dem Bürgermeister nicht sagen, er werde demnächst aussteigen, selbst wenn er das vorhat. Die Sache mit Thibodaux und Ricciardi hat eine solche Störung verursacht, daß Mardikian darauf bestand, mich auf Erholungsurlaub zu schicken. Wenn ich jetzt mit so einer unglaublichen Sache ankomme, werden sie mich ganz woanders hinschicken.«

Unerschütterlich, unerbittlich starrte Carvajal mich an.

Ich sagte: »Geben Sie mir wenigstens irgendwelche erklärenden Daten. Warum will Sudakis zurücktreten?«

»Ich weiß es nicht.«

»Würde ich mehr erfahren, wenn ich mich an Sudakis wenden würde?«

»Ich weiß nicht.«

»Sie wissen nicht. Sie wissen nicht. Und es ist Ihnen auch egal, nicht wahr? Sie wissen nur, daß er gehen will. Alles übrige ist Ihnen unwichtig.«

»Nicht einmal das weiß ich, Lew. Nur daß er gehen wird. Sudakis weiß selbst vielleicht noch nichts davon.«

»Oh, fantastisch. Fantastisch! Ich sage es dem Bürgermeister, der Bürgermeister holt sich Sudakis, Sudakis bestreitet alles, denn nach dem Stand der Dinge ist es nicht so.«

»Die Wirklichkeit verwirklicht sich immer«, sagte Carvajal. »Sudakis wird zurücktreten. Es wird sehr plötzlich geschehen.«

»Muß ich derjenige sein, der Quinn das sagt? Und wenn ich gar nichts sage? Wenn die Wirklichkeit sich immer verwirklicht, dann wird Sudakis so oder so gehen, ganz gleich, was ich tue. Ist es nicht so? Ist es nicht so?«

»Wollen Sie, daß der Bürgermeister unvorbereitet dasteht, wenn es soweit ist?«

»Lieber das, als vom Bürgermeister für verrückt gehalten zu werden.«

»Haben Sie Angst, Quinn über den Rücktritt zu informieren?«

»Ja.«

»Was meinen Sie, würde Ihnen passieren?«

»Ich komme in eine ziemlich peinliche Situation«, sagte ich. »Ich werde etwas rechtfertigen müssen, das für mich selbst keinen Sinn ergibt. Ich muß auf das Argument zurückgreifen, es wäre eine Vorahnung, nur eine Vorahnung, und wenn Sudakis abstreitet, daß er an Rücktritt denkt, werde ich meinen Einfluß bei Quinn verlieren. Vielleicht verliere ich sogar meinen Job. Ist es das, was Sie wollen?«

»Ich habe nicht die geringsten Wünsche«, sagte Carvajal von fernher.

»Außerdem, Quinn wird Sudakis bestimmt nicht gehen lassen.«

»Sind Sie sicher?«

»Absolut. Er braucht ihn viel zu sehr. Er wird den Rücktritt nicht annehmen. Egal, was Sudakis sagt, er wird im Amt bleiben, und was passiert dann mit der Wirklichkeit, die sich immer verwirklicht?«

»Sudakis wird nicht bleiben«, sagte Carvajal sehr gleichgültig.

Ich verließ ihn und dachte darüber nach.

Meine Einwände gegen eine Empfehlung an Quinn, sich einen Nachfolger für Sudakis zu suchen, dünkten mich logisch, vernünftig, plausibel, unwiderlegbar. Ich war nicht bereit, so kurz nach meiner Rückkehr mich in dieser Weise zu exponieren, wo ich immer noch empfindlich war für Mardikians Zweifel an meiner Stabilität. Andererseits, wenn eine unvorhergesehene Wendung der Ereignisse Sudakis zum Rücktritt zwingen würde, dann hätte ich meine Pflichten vernachlässigt, wenn ich den Bürgermeister nicht gewarnt hätte. In einer Stadt, die stets am Rande des Chaos steht, könnte schon eine kurze Führungslosigkeit in der Polizei Anarchie in den Straßen zur Folge haben, und wenn es etwas gab, was Quinn als potentieller Präsidentschaftskandidat wirklich nicht brauchen konnte, dann war es ein wenn auch noch so kurzes Wiederaufflackern der Gesetzlosigkeit, die die Stadt so oft vor der repressiven Herrschaft Gottfrieds und in der Zeit des schwächlichen Bürgermeisters DiLaurenzio heimgesucht hatte.

Und zu guter Letzt: Nie zuvor hatte ich mich geweigert, Carvajals Direktiven weiterzubefordern, und der Gedanke, ihm jetzt zu trotzen, war mir unbehaglich. Unauffällig waren Carvajals Vorstellungen von der Verwirklichung der Wirklichkeit zu einem Teil meiner selbst geworden; Schritt für Schritt hatte ich seine Philosophie so weit akzeptiert, daß ich nicht mehr furchtlos mit der unvermeidlichen Entfaltung des Unvermeidlichen mich anlegen konnte. Mit dem Gefühl eines Mannes, der eine stromabwärts treibende Eisscholle im Niagara-Fluß besteigt, entschloß ich mich — Zweifel hin, Zweifel her —, Quinn die Angelegenheit Sudakis vorzutragen.

Aber ich ließ eine Woche in der Hoffnung verstreichen, das Problem würde sich irgendwie selbst ohne mein Zutun lösen, und dann ließ ich auch noch den größten Teil der nächsten Woche vorübergehen; und auf diese Weise hätte ich vielleicht den Rest des Jahres vergehen lassen, aber ich wußte, daß ich mich selbst betrog. So verfaßte ich denn ein Memo und schickte es Mardikian.

»Das werde ich Quinn nicht vorlegen«, sagte er mir zwei Stunden später.

»Du mußt«, sagte ich ohne rechte Überzeugung.

»Weißt du, was dann passiert? Er wird dir einen Arschtritt geben, Lew. Ich mußte einen halben Tag lang in Sachen Ricciardi und Louisiana um ihn herumtänzeln, und was Quinn dabei über dich gesagt hat, war nicht sehr schmeichelhaft. Er befürchtet, du drehst durch.«

»Das denkt ihr alle. Schön, aber so ist es nicht. Ich habe einen wunderbaren Urlaub in Kalifornien verbracht und mich nie wohler gefühlt als jetzt. Und wenn es Januar ist, wird diese Stadt einen neuen Polizeichef brauchen.«

»Nein, Lew.«

»Nein?«

Mardikian knurrte. Er versuchte, geduldig mit mir zu sein, mich zu tolerieren; aber ich wußte, daß er mich und meine Prophezeiungen satt hatte. Er sagte: »Nachdem ich dein Memo erhalten hatte, bat ich Sudakis zu mir und sagte ihm, da gehe ein Gerücht um, daß er an Rücktritt denke. Ich habe dich nicht genannt. Ich ließ durchblicken, ich hätte es von einem Journalisten. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, Lew. Man hätte denken können, ich hätte seine Mutter eine Türkin geschimpft. Er schwor bei siebzig Heiligen und fünfzig Engeln, daß er seinen Job nur dann aufgeben würde, wenn ihn der Bürgermeister rausschmisse. Ich erkenne normalerweise, wenn jemand mir etwas vormacht, und Sudakis war so ehrlich, wie ich nur je einen Menschen gesehen habe.«

»Trotzdem, Haig. In ein oder zwei Monaten wird er seinen Hut nehmen.«

»Wie soll das zugehen?«

»Manchmal treten unerwartete Umstände ein.«

»Zum Beispiel?«

»Irgendetwas. Gesundheitliche Gründe. Ein plötzlicher Skandal bei der Polizei. Ein Superdollar-Jobangebot aus San Francisco. Den genauen Grund kenne ich nicht. Ich sage dir lediglich…«

»Lew, wie kannst du wissen, was Sudakis im Januar macht, wenn nicht einmal Sudakis selbst es weiß?«

»Ich weiß es«, sagte ich.

»Woher?«

»Es ist eine Ahnung.«

»Ahnung, Ahnung. Das sagst du immer. Aber das war eine Ahnung zuviel, Lew. Deine Fähigkeiten haben mit der Interpretation von Trends zu tun, nicht mit Vorhersagen individueller Fälle, nicht wahr, aber immer öfter kommst du jetzt mit diesen Einzelschlüssen daher, diesen Kristallkugeltricks, diesen…«

»Haig, hat sich irgendeine meiner Prophezeiungen als falsch erwiesen?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Nein. Keine einzige. Für viele kann man noch nichts sagen, so oder so, aber keine einzige ist durch die spätere Entwicklung widerlegt worden, keine empfohlene Aktion hat sich als unklug entpuppt, keine…«

»Trotzdem, Lew. Ich habe dir letztes Mal gesagt, wir glauben hier nicht an Wahrsager. Warum hältst du dich nicht an Projektionen erkennbarer Trends?«

»Es geht mir nur um Quinns Bestes.«

»Sicher. Aber mir scheint, du solltest mehr auf dich selbst achten.«

»Was soll das heißen?« fragte ich.

»Daß der Bürgermeister deiner Arbeit hier möglicherweise ein Ende setzen muß, wenn sie nicht etwas, nun, etwas konventioneller wird.«

»Unsinn. Er braucht mich. Haig.«

»Er fängt an, anders zu denken. Er denkt, du könntest ihm vielleicht sogar eine Belastung sein.«

»Dann erkennt er nicht, wie viel ich für ihn getan habe. Er ist tausend Kilometer näher am Weißen Haus, als er es ohne mich wäre. Hör zu, Haig; egal, ob du und Quinn mich für verrückt haltet, diese Stadt wird eines schönen Tages im Januar ohne Polizeichef aufwachen, und deshalb sollte der Bürgermeister noch heute Nachmittag mit einer Personalsuche beginnen, und das sollst du ihm sagen.«

»Das werde ich — verdammt noch mal — nicht tun. Zu deinem eigenen Schutz«, sagte Mardikian.

»Sei nicht stur.«

»Stur? Stur? Ich versuche deinen Hals zu retten!«

»Was kann es schaden, wenn Quinn in aller Ruhe nach einem neuen Polizeichef Ausschau hält? Wenn Sudakis nicht zurücktritt, kann Quinn die ganze Sache fallen lassen, und niemand muß davon erfahren. Darf ich mich nie irren? Zufällig habe ich recht in bezug auf Sudakis, aber selbst, wenn nicht, was macht’s? Ich habe eine möglicherweise nützliche Information anzubieten, die wichtig sein wird, wenn sie zutrifft, und…«

Mardikian sagte: »Niemand sagt, daß du hundert Prozent Treffer haben mußt, und natürlich kann es nicht viel schaden, für alle Fälle unauffällig nach einem neuen Polizeichef zu suchen. Der Schaden, den ich verhindern will, droht dir. Quinn hat mir so gut wie wörtlich gesagt, wenn du noch einmal mit so einer exzentrischen Prophezeiung ankommst, mit so einem Stückchen Schwarzer Magie, wird er dich dem Gesundheitsamt überweisen, und er meint es ernst, Lew, er meint es verdammt ernst. Vielleicht hast du eine ungeheure Glückssträhne gehabt, derlei Zeug aus der freien Luft zu produzieren, aber…«

»Es handelt sich nicht um Glück, Haig«, sagte ich ganz ruhig.

»Was?«

»Ich benütze überhaupt keine stochastischen Prozesse. Ich rate nicht. Ich will damit sagen, ich sehe. Ich bin in der Lage, in die Zukunft zu blicken und Gespräche zu hören, Schlagzeilen zu lesen, Ereignisse zu beobachten, ich beziehe alle möglichen Daten direkt aus der Zukunft.« Es war nur eine kleine Lüge, Carvajals Fähigkeiten mir selbst zuzuschreiben. Die Ergebnisse waren dieselben, ob nun er oder ich das Sehen besorgte. »Deshalb kann ich meine Memos nicht immer erklären«, sagte ich. »Ich schaue in den Januar, ich sehe, daß Sudakis zurücktritt, und das ist alles, ich weiß nicht warum, ich kann die umgreifende Struktur von Ursache und Wirkung noch nicht erkennen, nur das Ereignis selbst. Das ist etwas anderes als Trendprojektion, etwas völlig anderes, viel unerklärlicher, hundertprozentig verläßlich, hundertprozentig! Weil ich sehe, was passiert.«

Mardikian schwieg sehr lange.

Mit heiserer, wattiger Stimme fragte er schließlich: »Lew, meinst du das ernst?«

»Absolut.«

»Wenn ich Quinnhole, wirst du ihm genau das sagen, was du mir gerade gesagt hast? Genau dasselbe?«

»Ja.«

»Warte hier«, sagte er.

Ich wartete. Ich versuchte, an nichts zu denken. Den Geist leer halten, die Stochastizität fließen lassen: Hatte ich einen Fehler gemacht, zu hoch gereizt? Ich war nicht der Meinung. Ich hielt die Zeit für gekommen, den Schleier zu lüften. Aus Gründen der Plausibilität hatte ich Carvajals Rolle in dem Prozeß nicht erwähnt, aber ansonsten hatte ich nichts zurückgehalten; ich empfand eine tiefe Entspannung, eine warme Woge der Erleichterung durchzog mich, da ich nun endlich aus meinem Versteck getreten war.

Nach ungefähr fünfzehn Minuten kehrte Mardikian zurück. Der Bürgermeister war bei ihm. Sie machten ein paar Schritte ins Büro hinein und blieben dann Seite an Seite in Türnähe stehen; ein seltsames Paar: Mardikian dunkel und lächerlich groß, Quinn blond, kurz, korpulent. Sie wirkten entsetzlich ernst.

Mardikian sagte: »Sag dem Bürgermeister, was du mir gesagt hast, Lew.«

Munter wiederholte ich mein Eingeständnis des zweiten Gesichts und benützte, soweit wie möglich, die gleichen Redewendungen wie beim ersten Mal. Quinn hörte ausdruckslos zu. Als ich fertig war, fragte er: »Wie lange arbeitest du schon für mich, Lew?«

»Seit Anfang ‘96.«

»Fast vier Jahre. Und seit wann hast du einen direkten Draht zur Zukunft?«

»Noch nicht lange. Erst seit letztem Frühjahr. Du erinnerst dich, als ich dir riet, das Ölgelierungsgesetz schnell verabschieden zu lassen, kurz bevor die Tanker vor Texas und Kalifornien verunglückten? Ungefähr damals war es. Das war kein Raten. Und dann, die anderen Sachen, die manchmal so seltsam wirkten…«

»Wie aus der Kristallkugel«, sagte Quinn nachdenklich.

»Ja. Ja. Weißt du noch, Paul, was du an dem Tag zu mir gesagt hast, als du mir deinen Entschluß mitgeteilt hast, Null-Vier für die Präsidentschaft zu kandidieren? Du sagtest: Du wirst das Auge sein, das für mich in die Zukunft sieht. Du wußtest nicht, wie recht du hattest!«

Quinn lachte. Es war kein fröhliches Lachen.

Er sagte: »Ich dachte, wenn du für ein paar Wochen auf Erholung gingest, Lew, würdest du dich schon wieder fassen. Aber jetzt sehe ich, daß das Problem viel tiefer liegt.«

»Was?«

»Du warst mir vier Jahre lang ein guter Freund und ein wertvoller Berater. Ich will den Dienst, den du mir erwiesen hast, nicht unterschätzen. Vielleicht hast du deine Ideen aus intuitiver Trendanalyse bezogen oder vielleicht aus Computern, oder vielleicht hat ein Geist dir die Sachen ins Ohr geflüstert — wo immer du ihn hergenommen hast, du hast mir guten Rat gegeben. Aber nach dem, was ich eben gehört habe, kann ich nicht riskieren, dich in meinem Stab zu behalten. Wenn sich herumspricht, daß Paul Quinns wichtigste Entscheidungen von einem Guru, einem Seher, einer Art hellsichtigem Rasputin für ihn gefällt werden, daß ich in Wahrheit nur eine Puppe bin, die im Dunkeln zappelt, bin ich erledigt, tot. Wir beurlauben dich ab sofort, dein Gehalt zahlen wir dir bis zum Ende des Steuerjahres weiter, in Ordnung? Damit hast du mehr als sieben Monate Zeit, deine alte private Beratungsfirma wieder in Gang zu bringen, bevor du von den Gehaltslisten der Stadt gestrichen wirst. Mit deiner Scheidung und allem bist du wahrscheinlich finanziell in einer schwierigen Lage, und ich möchte es nicht schlimmer für dich machen. Und wir wollen noch eine Abmachung treffen, du und ich: Ich werde öffentlich keine Erklärung über die Gründe deines Rücktritts abgeben, und du wirst nicht verkünden, woher du deine Ratschläge für mich bezogen hast. Einverstanden?«

»Du wirfst mich raus?« murmelte ich.

»Es tut mir leid, Lew.«

»Ich kann dich zum Präsidenten machen, Paul!«

»Das werde ich wohl alleine schaffen müssen.«

»Du denkst, ich bin verrückt, nicht wahr?« sagte ich.

»Das ist ein hartes Wort.«

»Aber das denkst du, stimmt’s? Du denkst, ein gefährlicher Irrer hat dich beraten, und es zählt nicht, daß der Irre immer recht gehabt hat, du mußt ihn rauswerfen, denn es würde schlecht für dich aussehen, ja, sehr schlecht, wenn die Leute dächten, du hättest einen Zauberer in deinem Stab, und deshalb…«

»Bitte, Lew«, sagte Quinn. »Mach es mir nicht noch schwerer.« Er durchquerte den Raum und nahm meine schlaffe, kalte Hand in seinen festen Griff. Sein Gesicht war meinem nahe. Hier kam sie: die berühmte Quinn-Tour, noch einmal, ein letztes Mal. Beschwörend sagte er: »Glaube mir, du wirst mir fehlen. Als Freund, als Berater. Vielleicht mache ich einen großen Fehler. Und was ich tun muß, ist schmerzlich. Aber du hast recht: Ich kann es nicht riskieren, Lew. Ich kann es nicht riskieren.«

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