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Kausalität ist ein anständiges, ehrenwertes Prinzip, aber es liefert nicht alle Antworten. Wenn wir aus den Dingen klug werden wollen, müssen wir über dieses Prinzip hinausgehen. Wir müssen erkennen, daß viele wichtige Phänomene sich nicht in die kausale Schublade packen lassen und nur mit stochastischen Methoden interpretiert werden können.

Ein System, in dem Ereignisse nach einem Gesetz der Wahrscheinlichkeit ablaufen, ohne aber individuell nach dem Kausalitätsprinzip determiniert zu sein, ist ein stochastisches System. Der tägliche Aufgang der Sonne ist kein stochastisches Ereignis: Er ist unabänderlich und unausweichlich von den relativen Positionen der Erde und der Sonne auf ihren jeweiligen Himmelsbahnen bestimmt, und sobald wir den Kausalmechanismus verstehen, ist die Vorhersage nicht mehr riskant, daß die Sonne morgen aufgehen wird und am Tag danach und am Tag danach wieder. Wir können sogar die genaue Zeit des Sonnenaufgangs vorhersagen, und wir raten sie nicht, wir wissen sie im voraus. Die Tendenz des Wassers, bergab zu fließen, ist ebenso wenig ein stochastisches Ereignis: Sie ist eine Funktion der Erdanziehungskraft, die wir als eine Konstante setzen. Aber in vielen Bereichen läßt uns Kausalität im Stich, und Stochastizität muß uns zu Hilfe kommen.

Zum Beispiel sind wir nicht in der Lage, die Bewegungen irgend eines einzelnen Moleküls in einem Liter Luft vorherzusagen, aber mit einiger Kenntnis kinetischer Theorien können wir vertrauensvoll ein ganz bestimmtes Verhalten des Liters insgesamt erwarten. Wir können nicht prophezeien, wann ein bestimmtes Uranium-Atom dem radioaktiven Zerfall ausgesetzt sein wird, aber wir können ziemlich genau berechnen, wie viele Atome in einem Block von U-235 innerhalb der nächsten zehntausend Jahre zerfallen werden. Auf welches Feld die Kugel bei der nächsten Drehung der Roulette-Scheibe fallen wird, wissen wir nicht, aber die Bank hat trotzdem von ihren Einnahmen im Laufe eines langen Abends eine ziemlich gute Vorstellung. Alle möglichen Prozesse sind, wie unvorhersehbar auch immer von Minute zu Minute oder von Fall zu Fall, mit stochastischen Techniken für Voraussagen erschließbar.

Stochastisch. Laut Angabe des »Oxford English Dictionary« wurde dieses Wort im Jahre 1662 geprägt und ist nun selten oder vera. Glauben Sie es nicht! Eher ist das »OED« vera, nicht stochastisch, das von Tag zu Tag weniger vera wird. Das Wort kommt aus dem Griechischen, wo es ursprünglich »runder Schild« oder »Zielpunkt« bedeutete; daraus leiteten die Griechen ein Verb ab, das »auf einen Punkt zielen« bedeutete und — in metaphorischer Übertragung — »nachdenken, reflektieren«. Ins Englische gelangte es zuerst als eine modische Ausdrucksweise für »auf Raterei beruhend«, wie in Whitefoots Anmerkung über Sie Thomas Browne aus dem Jahre 1712: »Gleichwohl er kein Prophet war… überragte er doch alle in jener Fähigkeit, die am nächsten daran heranreicht, nämlich der stochastischen, worin er sich, was zukünftige Ereignisse angeht, selten irrte.«

Mit den unsterblichen Worten Ralph Cudworths (1617–1688): »Diese stochastischen Urteile und Folgerungen im Hinblick auf Wahrheit und Falschheit im menschlichen Leben sind nützlich und notwendig.« Diejenigen, deren Lebensstil zutiefst von der stochastischen Philosophie geprägt ist, sind umsichtig und klug, und nie neigen sie dazu, aus einer zu knappen Sammlung von Daten vorschnelle Verallgemeinerungen abzuleiten. Wie Jacques Bernoulli zu Beginn des 18, Jahrhunderts gezeigt hat, ist ein isoliertes Ereignis nicht der Herold irgendeines anderen, aber je größer die Auswahl der Stichproben, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, die Verteilung der Phänomene innerhalb der Auswahl richtig zu erraten.

Soviel zur Wahrscheinlichkeitstheorie. Leichten Herzens übergehe ich hier die Poissonsche Streuung, das Theorem der zentralen Grenze, die Kolmogorov-Axiome, Ehrenhaft-Spiele, die Markovschen Reihen, das Pascalsche Dreieck und alles übrige. Solche mathematischen Verwicklungen will ich Ihnen ersparen. (»Wenn p die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses innerhalb eines einzelnen Versuchs ist und s die Zahl, die angibt, wie oft dieses Ereignis in n Versuchen beobachtet wird…«) Als entscheidenden Punkt will ich hier nur hervorheben, daß der echte Stochastiker sich darin diszipliniert, stets jene Pause zu beachten, die wir vom Zentrum für Stochastische Prozesse ›Bernoulli-Intervall‹ getauft haben, das heißt, die Pause, in der wir uns fragen: Habe ich wirklich genug Daten, um einen gültigen Schluß zu ziehen?

Ich bin der leitende Sekretär des Zentrums, das vor vier Monaten, im August 2000, gegründet wurde. Carvajals Vermögen deckt unsere Kosten. Gegenwärtig residieren wir in einem Fünf-Zimmer-Haus in einem ländlichen Norden von New Jersey; ich vermeide es tunlichst, den Ort genauer zu bezeichnen. Unser Ziel ist es, Methoden zu entwickeln, mit denen wir das Bernoulli-Intervall auf Null reduzieren können: das heißt also, Voraussagen von immer größerer Genauigkeit auf der Grundlage von immer weniger statistischen Angaben zu machen, oder — um es mit anderen Worten zu sagen — von probalistischer zu absoluter Vorhersage zu gelangen; oder — um es noch einmal anders zu sagen — Raten und Schätzen durch Hellsehen zu ersetzen.

Unsere Arbeit richtet sich also auf parastochastische Fähigkeiten. Carvajal hat mich gelehrt, daß Stochastizität noch nicht das Ende des Weges ist: Sie steht in unserem Ringen um eine vollständige Enthüllung der Zukunft, in unserem Kampf um Freiheit von der Tyrannei des Zufalls bloß für eine Phase, die bald überholt sein wird. Im absoluten Universum können alle Ereignisse als absolut determiniert betrachtet werden, und wenn wir die größeren Strukturen nicht erkennen können, so nur, weil unser Sehen fehlerhaft ist. Wenn wir Kausalität vollständig begriffen und bis hinunter zur Ebene der Moleküle verfolgten, brauchten wir uns bei Prognosen nicht auf mathematische Annäherungen, auf Statistiken und Wahrscheinlichkeiten zu verlassen. Wäre unsere Erkenntnis von Ursache und Wirkung nur gut genug, so könnten wir absolutes Wissen des Künftigen erlangen. Wir würden uns ›all-sehend‹ machen. Das waren Carvajals Worte. Ich glaube, daß er recht hatte. Sie glauben es wahrscheinlich nicht. Sie neigen in solchen Dingen zur Skepsis, nicht wahr? Nur zu! Sie werden Ihre Einstellung ändern. Ich weiß, daß Sie sie ändern werden.

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