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Quinn rief mich zu sich. Es war am Tag vor der Zeremonie im neuen Gebäude von Kuwait.

Er stand in der Mitte seines Büros, als ich eintrat. Der Raum war eintönig, von trostloser Funktionalität, kein Vergleich mit Lombrosos ehrgebietendem Heiligtum — dunkles, klobiges Mobiliar, Porträts früherer Bürgermeister —, aber heute schimmerte darin eine unheimliche Helligkeit. Sonnenlicht, das durch das Fenster hinter Quinn hereinströmte, umhüllte ihn mit einer blendenden, goldenen Aura, und er schien Stärke, Autorität und Zielgewißheit auszustrahlen, eine Lichtflut von sich zu geben, die intensiver war als die, die er empfing. Ein Jahr und ein halbes als Bürgermeister New Yorks hatten Spuren an ihm hinterlassen: Das Netz feiner Fältchen um seine Augen herum war tiefer als am Tag seiner Amtseinführung, das blonde Haar hatte etwas von seinem Glanz verloren, seine stämmigen Schultern schienen sich ein wenig zu krümmen, als drücke ihn ein unmögliches Gewicht. In diesem übellaunigen, feuchten Sommer hatte er oft müde und gereizt gewirkt, und es hatte Zeiten gegeben, wo er viel älter als neununddreißig schien. Aber alles das war jetzt von ihm abgefallen. Der alte Quinnsche Elan war zurückgekehrt. Seine Gegenwart füllte den Raum.

Er sagte: »Erinnerst du dich, daß du mir vor etwa einem Monat gesagt hast, neue Muster entwickelten sich, und du könntest mir bald eine Vorhersage für das kommende Jahr machen?«

»Sicher: Aber ich…«

»Warte. Neue Faktoren sind ins Spiel gekommen, aber du kennst noch nicht alle. Ich möchte sie dir darlegen, damit du sie in deine Synthese einbeziehen kannst, Lew.«

»Was für Faktoren?«

»Meine Pläne für die Präsidentschaftskandidatur.«

Nach einer langen, unbeholfenen Pause brachte ich schließlich heraus: »Du willst nächstes Jahr kandidieren?«

»Nächstes Jahr sind meine Chancen keinen Pfifferling wert«, erwiderte Quinn gleichmütig. »Meinst du nicht auch?«

»Ja, aber…«

»Kein aber. Die Kandidaten im Jahr 2000 sind Kane und Socorro. Ich brauche nicht dein Geschick für Prognosen, um das zu wissen. Sie haben jetzt schon genug Delegierte in der Tasche, um die Nominierung im ersten Wahlgang zu kriegen. Dann treten sie nächstes Jahr im November gegen Mortonson an und beziehen Prügel. Ich schätze, Mortonson wird den größten Erdrutsch seit Nixon ‘72 einheimsen, egal, wer gegen ihn kandidiert.«

»Das glaube ich auch.«

Quinn sagte: »Deshalb rede ich von Null-Vier. Mortonson kann sich nicht noch einmal zur Wahl stellen, und die Republikaner haben niemanden von seiner Statur. Wer auch immer sich die Neu-Demokraten-Nominierung in dem Jahr schnappt, wird Präsident, richtig?«

»Richtig, Paul.«

»Kane wird keine zweite Chance erhalten. Erdrutschverlierer nie. Wen gibt es noch? Keats? Er wird dann über sechzig sein. Pownell? Keine Ausdauer. Der ist bis dahin vergessen. Randolph? Der gibt höchstens einen Vize ab, mehr ist in dem nicht drin.«

»Socorro wird noch mitreden«, sagte ich.

»Socorro, ja. Wenn er nächstes Jahr im Wahlkampf seine Karten richtig spielt, wird er am Ende gut dastehen, egal, wie vernichtend die beiden geschlagen werden. So wie Muskie bei seiner Niederlage ‘68 und Shriver ‘72. Socorro ist mir in diesem Sommer sehr viel durch den Kopf gegangen, Lew. Ich habe beobachtet, wie er seit Leydeckers Tod wie eine Rakete steigt. Deshalb habe ich auch beschlossen, nicht mehr länger zimperlich zu sein und jetzt schon auf die Nominierung loszugehen. Ich muß Socorro ausbooten. Denn wenn er Null-Vier die Nominierung kriegt, wird er gewinnen, und wenn er gewinnt, dann hat er zwei Amtszeiten vor sich, und das würde mich bis 2012 auf ein Nebengleis stellen.« Er verabreichte mir eine Dosis des klassischen Quinnschen Augenkontakts, durchbohrte mich, bis ich mich winden wollte. »Im Jahre 2012 bin ich einundfünfzig Jahre alt, Lew. So lange möchte ich nicht warten müssen. Ein potentieller Kandidat kann ganz schön vertrocknen, wenn er zwölf Jahre am Weinstock hängt, um auf seine Stunde zu warten. Was meinst du?«

»Ich meine, deine Projektion ist durch und durch stichhaltig«, sagte ich.

Quinn nickte. »Okay. Hier ist der Zeitplan, den Haig und ich in den letzten Tagen ausgearbeitet haben. Den Rest von ‘99 und die erste Hälfte des nächsten Jahres verbringen wir einfach nur damit, das Fundament zu legen. Ich halte ein paar Reden in verschiedenen Teilen des Landes, ich lerne die großen Parteiführer besser kennen, ich stelle mich gut mit einer Menge von den kleinen Fischen in den Wahlbezirken, die bis 2004 große Parteiführer sein werden. Nächstes Jahr, wenn Kane und Socorro nominiert sind, rühre ich im ganzen Land die Trommel für sie, besonders im Nordosten. Ich werde verdammt mein Bestes tun, ihnen den Staat New York zuzuführen. Was zum Teufel, ich schätze, sie werden sowieso sechs oder sieben von den großen Industriestaaten erobern, und dann sollen sie auch meinen haben, wenn ich dafür als dynamischer Parteiführer dastehe; Mortonson wird sie immer noch im Süden und im Farmer-Gürtel vom Tisch fegen. 2001 halte ich mich dann zurück und konzentriere mich auf die Wiederwahl als Bürgermeister; aber sobald das hinter mir ist, halte ich wieder Reden im Lande, und nach den Kongreßwahlen 2002 gebe ich meine Kandidatur bekannt. Dann habe ich noch das ganze Jahr Null-Drei und die Hälfte von Null-Vier, um die Delegierten zu beackern, und sobald die ersten Vorwahlen anstehen, ist mir die Nominierung sicher. Also?«

»Mir gefällt der Plan, Paul. Mir gefällt er ausgezeichnet.«

»Gut. Du wirst mein wichtigster Mann sein. Ich will, daß du dich ganz darauf konzentrierst, nationale politische Muster zu identifizieren und projizieren, so daß du Spielpläne innerhalb der größeren Struktur entwerfen kannst, die ich gerade umrissen habe. Kümmere dich nicht um das lokale Kleinzeugs, den ganzen New-York-City-Kram. Mardikian wird mit meiner Kampagne für die Wiederwahl schon ohne große Hilfe fertig. Verschaff du dir den großen Überblick; du sagst mir, was die Leute in Ohio und Hawaii und Nebraska wollen, du sagst mir, was sie aller Wahrscheinlichkeit nach in vier Jahren wollen werden. Du wirst der Mann sein, der mich zum Präsidenten macht, Lew.«

»Verdammt noch mal, das werde ich«, sagte ich.

»Du wirst das Auge sein, das für mich in die Zukunft sieht.«

»Du sagst es, Mann.«

Wir klatschten uns gegenseitig in die Hände. »Auf zum Jahr 2004!« rief er.

»Washington, hier kommen wir!« brüllte ich.

Es war ein närrischer Moment, aber es war auch ein ergreifender. Geschichte hoch zu Roß, auf dem Marsch zum Weißen Haus, und ich in der Vorhut, die Fahne tragend, die Trommel rührend. Ich war so von Gefühl überwältigt, daß ich fast den Mund aufmachte, um Quinn zu sagen, er solle die Kuwait-Zeremonie jemand anderem überlassen. Aber dann war es mir, als sähe ich Carvajals trauriges Gesicht in dem Staub schweben, der im Licht tanzte, und ich hielt mich zurück. Also sagte ich nichts, und Quinn hielt am nächsten Tag seine Rede und trat natürlich tief in alle Fettnäpfchen mit seinen Hornochsenwitzen über die politische Situation im Nahen Osten. (»Wie ich höre, haben König Abdullah und Premier Eleazar letzte Woche im Casino von Eilat Poker gespielt, und der König setzte drei Kamele und eine Ölquelle, und der Premier ging höher mit fünf Schweinen und einem U-Boot, so daß der König…« Oh nein, es ist zu blöd zum Wiederholen.) Natürlich erschien Quinns Auftritt abends in allen Programmen, und am nächsten Tag wurde das Rathaus von wütenden Telegrammen überschwemmt. Mardikian rief mich an und sagte, vor dem Gebäude stünden Demonstranten des Bnai B’rith, des Vereinigten Jüdischen Mahnrufs, der Jüdischen Verteidigungsliga, die ganze Scharfmachermannschaft aus dem Hause David. Ich ging hinüber, schlich mich durch den Mob empörter Hebräer und wollte beim ganzen Kosmos um Verzeihung bitten, daß ich durch mein Schweigen dies alles hatte geschehen lassen. Lombroso war beim Bürgermeister. Wir tauschten Blicke aus. Ich fühlte mich triumphal — hatte Carvajal den Vorfall nicht genauestens vorhergesagt? — und schafsköpfig; Angst hatte ich auch. Lombroso zwinkerte mir kurz zu, was ein Dutzend Bedeutungen haben konnte, aber ich nahm es als beruhigenden und vergebungsvollen Zuspruch.

Quinn war durchaus nicht aus der Fassung gebracht. Kess tippte er mit der Spitze seines Schuhs gegen den riesigen Karton voller Telegramme und sagte mit durchtriebener Stimme: »Und so beginnen wir unsere Werbung um die Gunst des amerikanischen Wählers. Ein kleiner Fehlstart, nicht wahr, mein Junge?«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich ihm, Pfadfindereifer in meiner Stimme. »Das ist das letzte Mal, daß so etwas passiert.«

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