33

Ich mietete mir eine Wohnung in Manhattan, drei möblierte Zimmer in einem alten, einst luxuriösen Hochhaus in der Dreiundsechzigsten Straße nahe der Second Avenue, einer alten, einst luxuriösen Wohngegend, die noch nicht ernsthaft heruntergekommen ist. Das Alter des Gebäudes wurde von einem Sortiment von Sicherheitsanlagen bezeugt, deren ältere aus den Sechzigerjahren, deren jüngere aus den frühen Neunzigern stammten: Alles, was es gab, von Polizeischlössern und versteckten Gucklöchern bis hin zu neuesten Filtern und Geschoßschirmen. Das Mobiliar war schlicht und von zeitlosem Stil, ehrwürdig und funktional, Sofas, Stühle, Bett, Tische, Bücherregale und dergleichen, anonym bis zur Unsichtbarkeit. Auch ich fühlte mich unsichtbar, nachdem ich vollständig eingezogen war und die Packer und der Hausverwalter gegangen waren: Allein stand ich in meinem neuen Wohnzimmer wie ein eben eingetroffener Botschafter von Nirgendwo, der seine Residenz in der Vergessenheit bezieht. Was war dies für ein Ort, und wie war es gekommen, daß ich hier lebte? Wem gehörten diese Stühle, wem diese Fingerabdrücke auf den nackten blauen Wänden?

Sundara hatte mich einige Bilder und Plastiken mitnehmen lassen, und ich hängte oder stellte sie da und dort auf; in die großzügige Anlage unserer Wohnung auf Staten Island hatten sie sich wunderbar eingefügt, hier aber wirkten sie plump und unnatürlich, wie Pinguine in der Prärie. Hier gab es keine Scheinwerfer, keine ausgeklügelten Arrangements von Sonnensammlern und Lichtwechslern, keine teppichbedeckten Postamente.

Dennoch empfand ich kein Selbstmitleid darüber, hierher verschlagen worden zu sein, nur Verwirrung, Leere, Entwurzelung. Den ersten Tag verbrachte ich mit Auspacken und Einrichten, stellte die Laren und Penaten auf, oft innehaltend, um über nichts im besonderen nachzudenken. Ich verließ die Wohnung nicht, nicht einmal, um Lebensmittel einzukaufen; statt dessen gab ich an Gristedes Delikatessen um die Ecke telefonisch eine Hundert-Dollar-Bestellung durch, um fürs erste die Speisekammer zu füllen. Das Abendessen war eine einsame und unschmackhafte Angelegenheit aus allerlei synthetischem Batz, den ich geistesabwesend zubereitete und hastig herunterwürgte. Ich schlief allein und schlief, zu meiner Überraschung, ausgezeichnet. Am Morgen rief ich Carvajal an und berichtete ihm, was sich getan hatte.

Er grunzte seine Zustimmung und sagte dann: »Aus Ihrem Schlafzimmer haben Sie einen Blick auf die Second Avenue?«

»Ja. Und aus dem Wohnzimmer auf die Dreiundsechzigste Straße. Warum?«

»Hellblaue Wände?«

»Ja.«

»Ein dunkles Sofa?«

»Ja. Warum möchten Sie das wissen?«

»Ich kontrolliere nur«, sagte er. »Um mich zu vergewissern, daß Sie die richtige Wohnung gefunden haben.«

»Sie meinen, die, die Sie gesehen haben?«

»Stimmt.«

»Bestand irgendein Zweifel?« fragte ich. »Haben Sie aufgehört, Ihren Visionen zu vertrauen?«

»Nicht einen Augenblick lang. Aber Sie?«

»Ich vertraue Ihnen, ich vertraue Ihnen. Welche Farbe haben die Badezimmerkacheln?«

»Weiß ich nicht«, sagte Carvajal. »Ich habe nicht darauf geachtet. Aber Ihr Eisschrank ist hellbraun.«

»Okay, genügt schon. Ich bin beeindruckt.«

»Hoffe ich. Können Sie sich jetzt ein paar Notizen machen?«

Ich fand einen Zettel. »Schießen Sie los«, sagte ich.

»Donnerstag, einundzwanzigster Oktober. Quinn wird nächste Woche nach Louisiana fliegen und sich mit Gouverneur Thibodaux treffen. Danach erklärt er öffentlich seine Unterstützung für das Plaquemines-Projekt. Nach seiner Rückkehr feuert er den Referenten für Wohnungswesen, Ricciardi, und gibt Charles Lewisohn den Job. Ricciardi wird zum Leiter der Rennbehörde ernannt. Und dann…«

Ich schrieb alles auf, schüttelte wie üblich den Kopf, hörte Quinn schimpfen:

Was soll ich mit Thibodaux? Der Plaquemines-Damm geht mich doch einen Dreck an. Ich dachte, Dammbauen wär’ sowieso überholt. Und Ricciardi hat annehmbare Arbeit geleistet, wenn man seine beschränkte Intelligenz bedenkt; werden die Italiener nicht beleidigt sein, wenn ich ihn auf diese Weise die Treppe hinaufwerfe? Et cetera, et cetera.

Immer häufiger hatte ich Quinn in letzter Zeit bizarre Stratageme vorgelegt, die unverständlich und unerklärbar waren; denn Carvajals Pipeline transportierte nun frei und üppig Material aus der unmittelbaren Zukunft; daraus ergaben sich viele Ratschläge, wie Quinn am besten zu manövrieren und manipulieren habe; Quinn ließ sich auf alles ein, was ich vorschlug, aber manchmal sträubte er sich lange. Einer dieser Tage würde er eine meiner Ideen rundheraus ablehnen und sich nicht mehr umstimmen lassen; was würde dann aus Carvajals unveränderlicher Zukunft werden?

Zur gewohnten Zeit war ich am nächsten Tag im Rathaus — ein etwas komisches Gefühl, mit dem Taxi über die Second Avenue zur Stadtmitte zu gondeln, anstatt mit dem Hubschrauber von Staten Island herüberzukommen —, und um halb zehn hatte ich meine neuesten Memos für den Bürgermeister fertig. Ich schickte sie ihm. Kurz nach zehn piepste meine Sprechanlage, und eine Stimme sagte, der Zweite Bürgermeister wünsche mich zu sprechen.

Es würde Ärger geben. Ich fühlte es, als ich den Gang hinunterging, und es war über Mardikians Gesicht geschrieben, als ich sein Büro betrat.

Er sah aus, als fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut — gereizt, angespannt, nicht im Gleichgewicht. Seine Augen waren zu hell, und er nagte an den Lippen. Meine Memos waren auf seinem Schreibtisch ausgebreitet. Wo war der flotte, glatte, lackglänzende Mardikian? Verschwunden. Verschwunden. Und an seiner Stelle saß dieser nervöse, aus der Fassung gebrachte Mann vor mir.

Kaum zu mir aufblickend, sagte er: »Lew, was zum Teufel soll dieser Mist mit Ricciardi?«

»Es ist ratsam, ihn aus seinem gegenwärtigen Amt zu entfernen.«

»Ich weiß, daß es ratsam ist. Du hast es uns gerade geraten. Warum ist es ratsam?«

»Die langfristige Dynamik verlangt es«, versuchte ich zu bluffen. »Ich kann dir keine überzeugenden und konkreten Gründe geben, aber ich fühlte, daß es nicht klug ist, auf dem Posten einen Mann zu haben, der der italienisch-amerikanischen Gemeinde hier so nahe steht, besonders den Grundbesitzerinteressen innerhalb dieser Gemeinde. Lewisohn ist eine gute, neutrale Figur, die keine Reibereien erzeugen und für uns ungefährlich sein wird, wenn die Bürgermeisterwahlen heranrücken…«

»Hör auf, Lew.«

»Was?«

»Hör auf. Du sagst gar nichts. Du redest nur einen Haufen Blech. Quinn meint, Ricciardi habe anständige Arbeit geleistet; er regt sich auf über dein Memo, und wenn ich dich um unterstützende Daten bitte, zuckst du die Schultern und sagst, es wäre eine Ahnung. Und außerdem…«

»Meine Ahnungen sind immer…«

»Moment«, sagte Mardikian. »Dieses Louisiana-Ding. Jesusmariaundjosef! Thibodaux ist die Antithese zu allem, wofür Quinn steht. Warum zum Teufel sollte der Bürgermeister den weiten Weg nach Baton Rouge machen, einen vorsintflutlichen Frömmler umarmen und ein unnützes, umstrittenes und ökologisch riskantes Damm-Projekt unterstützen? Dabei hat Quinn alles zu verlieren und nichts Erkennbares zu gewinnen, es sei denn, du meinst, das wird ihm 2004 die Stimmen der Rotnacken verschaffen, und die wären entscheidend für seine Aussichten; Gott steh uns bei, wenn sie das sind. Nun?«

»Ich kann es nicht erklären, Haig.«

»Du kannst es nicht erklären? Du kannst es nicht erklären? Du gibst dem Bürgermeister eine derartig explizite Anweisung, wie auch die Sache mit Ricciardi, etwas, das offensichtlich einer komplizierten langen Überlegung entsprungen ist, und du weißt nicht, warum? Wenn du nicht weißt, warum, wie sollen wir es wissen? Wo ist die rationale Grundlage für unsere Handlungen? Soll der Bürgermeister wie ein Schlafwandler durch die Gegend laufen, wie irgendein Halbaffe, der tut, was du sagst, und nicht weiß, warum? Komm, Lew! Ahnung ist Ahnung, aber wir haben dich angestellt, damit du rationale und begreifbare Projektionen machst. Wir wollen keinen Wahrsager.«

Nach einer langen, ungemütlichen Pause sagte ich ruhig: »Haig, ich habe in letzter Zeit allerhand Schlimmes durchgemacht, und ich habe nicht mehr sehr viel Energie übrig. Ich möchte jetzt keine schwere Auseinandersetzung mit dir. Ich bitte dich nur, mir zu glauben, daß meine Vorschläge vernünftig sind.«

»Das kann ich nicht.«

»Bitte.«

»Hör zu, mir ist klar, daß der Zusammenbruch deiner Ehe dich schwer mitgenommen hat, Lew, aber genau deswegen muß ich deine heutigen Vorschläge kritisch behandeln. Seit Monaten schickst du uns jetzt auf diese unheimlichen Trips, und manchmal hast du überzeugende Begründungen, manchmal nicht, manchmal setzt du uns schamlos aus den Fingern gesogene Gründe vor; bisher ist Quinn ausnahmslos all deinen Empfehlungen gefolgt, häufig gegen seine bessere Einsicht. Und ich muß zugeben, daß sich soweit alles überraschend gut entwickelt hat. Aber jetzt, aber jetzt…« Er blickte auf, und seine Augen bohrten sich in meine. »Offen gesagt, Lew, wir zweifeln allmählich etwas an deiner Stabilität. Wir wissen nicht, ob wir deinen Vorschlägen weiterhin so blind vertrauen sollten wie in der Vergangenheit.«

»Jesus!« rief ich. »Du denkst, meine Trennung von Sundara hat meinen Verstand kaputtgemacht?«

»Ich glaube, es zehrt sehr an dir«, sagte Mardikian, nun etwas sanfter sprechend. »Du selbst hast den Ausdruck gebraucht, daß du nicht mehr sehr viel Energie übrig hast. Offen gesagt, Lew, wir meinen, daß die Belastung zu groß war, daß du müde, erschöpft, groggy bist, daß du deine Kräfte zu stark beansprucht hast und eine Pause brauchst. Und wir…«

»Wer ist wir?«

»Quinn. Lombroso. Ich.«

»Was hat Lombroso über mich gesagt?«

»Hauptsächlich, daß er dir seit letztem August zuredet, Urlaub zu machen.«

»Was noch?«

Mardikian sah verwirrt aus. »Was meinst du, was noch? Was soll er sonst noch gesagt haben? Gott, Lew, was du sagst, klingt plötzlich wirklich furchtbar paranoid. Bob ist dein Freund, hast du das vergessen? Er ist auf deiner Seite. Wir sind alle auf deiner Seite. Er sagte, er hätte dir geraten, Urlaub in der Jagdhütte irgendeines Bekannten zu machen, aber du wolltest nicht. Er macht sich Sorgen um dich, wie wir alle. Jetzt wollen wir es etwas deutlicher sagen. Wir meinen, du brauchst eine Pause, Lew, und wir möchten, daß du eine machst. Das Rathaus wird nicht zusammenbrechen, wenn du ein paar Wochen weg bist.«

»Okay. Ich werde Urlaub machen. Klar, ich kann ihn brauchen. Aber tu mir zuerst einen Gefallen.«

»Nur zu.«

»Thibodaux und Ricciardi. Ich möchte, daß du Quinn dazu bringst, nach meinen Vorschlägen zu handeln.«

»Wenn du mir auch nur irgendeine plausible Begründung gibst.«

»Ich kann nicht, Haig.« Plötzlich schwitzte ich am ganzen Leib. »Nichts, das überzeugend klingen würde. Aber es ist sehr wichtig, daß der Bürgermeister diesen Empfehlungen folgt.«

»Warum?«

»Es ist wichtig. Sehr wichtig.«

»Für dich oder für Quinn?«

Ein gut gezielter Schuß, er traf mich schmerzhaft. Für mich, dachte ich, für mich, für Carvajal, für das ganze System von Glauben und Vertrauen, daß ich konstruiert habe. War der Augenblick der Wahrheit schließlich gekommen? Hatte ich Quinn Instruktionen gegeben, denen zu folgen er sich weigern würde? Und was dann? Die Paradoxien, die aus einer solchen Möglichkeit sprossen, machten mich schwindlig. Ich fühlte mich krank.

»Wichtig für alle«, sagte ich. »Bitte. Als einen Gefallen. Ich habe ihm bis jetzt keinen schlechten Rat gegeben, oder?«

»Er mag diese Sache nicht. Er steht ihr fast feindselig gegenüber. Er will etwas von den Projektionen hinter diesen Vorschlägen wissen.«

Fast in Panik sagte ich: »Treib mich nicht zu weit, Haig. Ich bin genau am Rande. Aber ich bin nicht verrückt. Erschöpft, ja, vielleicht, aber nicht verrückt, und meine Vorschläge sind sinnvoll, das wird sich zeigen, in drei, fünf, sechs Monaten, wann auch immer. Schau mich an. Schau mir in die Augen. Ich mache Urlaub. Ich bin dankbar, daß ihr euch alle Sorgen um mich macht. Aber ich möchte, daß du mir diesen einen Gefallen tust, Haig. Wirst du Quinn dazu bringen, diesen Memos zu folgen? Um meinetwillen. Um all der Jahre willen, die wir uns kennen. Ich versichere dir, diese Memos sind koscher.« Ich hielt inne. Ich wußte, ich plapperte haltlos, und je mehr ich sagte, desto weniger würde Haig mich ernst nehmen. Hielt er mich schon für einen gefährlich unstabilen Irren? Warteten die Männer in den weißen Kitteln schon auf dem Gang? Welche Chance gab es denn wirklich, daß man meinen heutigen Memos folgen würde? Säulen stürzten, der Himmel brach ein.

Und dann, zu meiner Überraschung, sagte Mardikian mit warmem Lächeln: »Gut, Lew. Es ist verrückt, aber ich tu’s. Nur dieses eine Mal. Du verziehst dich nach Hawaii oder irgendwohin und sonnst dich ein paar Wochen. Und ich geh’ zu Quinn und überrede ihn, Ricciardi zu feuern und nach Louisiana zu fahren und so weiter. Ich halte es für einen verrückten Rat, aber ich setze auf deine bisherigen Leistungen.« Er kam um den Schreibtisch herum zu mir und, in all seiner Größe über mir aufragend, drückte er mich plötzlich und unbeholfen an sich. »Du machst mir Sorgen, Kleiner«, murmelte er.

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