11

Da gab es einen frostigen Tag gegen Ende März ‘99, der wie die meisten anderen Tage begann, seit ich für Paul Quinn gearbeitet hatte, aber noch vor Nachmittag auf ein unerwartetes Gleis geriet. Wie gewöhnlich stand ich um Viertel nach sieben auf. Sundara und ich duschten zusammen — der Vorwand dafür war Wasser- und Energieersparnis, aber in Wirklichkeit waren wir beide Seifenfetischisten und liebten es, uns gegenseitig einzuschäumen, bis wir schlüpfrig wie Seehunde waren. Schnelles Frühstück, aus dem Haus um acht, Pendler-Hubschrauber nach Manhattan. Meine erste Station war mein Uptown-Büro, mein altes Lew-Nichols-und-Teilhaber-Büro, das ich mit einem reduzierten Stab in Gang hielt, solange ich von der Stadt mein Gehalt empfing. Dort bearbeitete ich Routine-Projektionen und Analysen kleinerer Verwaltungsprobleme: der Standort einer neuen Schule, die Schließung eines baufälligen Krankenhauses, Zonenänderungen, die ein neues Abspritz-Zentrum für hirngeschädigte Süchtige in einer Wohngegend erlauben sollten: Trivialitäten dies alles, aber potentiell explosive Trivialitäten in einer Stadt, in der die Nerven aller Bürger hoffnungslos überspannt sind und kleine Enttäuschungen schnell wie unerträgliche Abfuhren aussehen. Dann, gegen Mittag, fuhr ich ins Zentrum zum Rathaus, zu Konferenz und Mittagessen mit Bob Lombroso.

»Mr. Lombroso hat einen Besucher bei sich«, erklärte mir die Empfangsdame, »aber Sie sollen trotzdem hineingehen.«

Lombrosos Büro war die richtige Bühne für ihn. Er ist ein großer, gutgebauter Mann Ende der Dreißiger, von etwas theatralischer Erscheinung, eine beherrschende Gestalt mit dunklem, gelocktem Haar, das sich an den Schläfen versilbert, einem groben, kurzgescherten schwarzen Bart, einem blitzenden Lächeln und der energischen, intensiven Art eines erfolgreichen Teppichhändlers. Sein Büro, vormals im Stil Früher Bürokrat eingerichtet, hatte er auf eigene Kosten renoviert; nun war es ein reich verzierter Levantiner Salon, wohlriechend und warm, mit dunkel schimmernden, ledergetäfelten Wänden, tiefen Teppichen, schweren braunen Samtvorhängen, tausendfach durchlöcherten, gedämpft leuchtenden spanischen Bronzelampen, einem glänzenden Schreibtisch aus verschiedenen dunklen Hölzern mit Maroquin-Intarsien, großen, weißen, urnenartigen chinesischen Bodenvasen, und, in einer barocken Glasvitrine, seiner geliebten Sammlung mittelalterlicher Judaica — silberner Kopfschmuck, Brustharnische, Zeigestöcke für die Schriftrollen des Gesetzes, bestickte Thora-Hüllen aus den Synagogen Tunesiens oder Persiens, mit Filigranarbeit versehene Sabbath-Lampen, Kerzenhalter, Gewürzdosen, Kandelaber. In diesem moschusduftigen, abgeschiedenen Allerheiligsten gebot Lombroso über die städtischen Finanzen wie ein Prinz von Zion: Wehe dem törichten Christen, der seinen Rat verschmähte!

Sein Besucher war ein verblichen wirkender kleiner Mann von fünfundfünfzig oder sechzig Jahren, eine schmächtige, nichtssagende Person mit schmalem, ovalem Kopf, der nur spärlich mit kurzem, grauem Haar bedeckt war. Er war so schlicht gekleidet, nämlich in einen schäbigen alten, braunen Anzug aus der Eisenhower-Ära, daß Lombrosos geschleckte Eleganz dagegen pfauenhaft extravagant aussah und selbst ich in meinem fünf Jahre alten kastanienbraunen, kupferfadendurchwirkten Cape mich wie ein Dandy fühlte. Er saß still, gekrümmt, mit verschränkten Händen. Anonym, fast unsichtbar wirkte er, einer von Mutter Naturs geborenen Smiths, und seine Haut hatte einen bleigrauen Unterton, das Fleisch seiner Wangen eine winterliche Schlaffheit, die nur allzu deutlich von einer sowohl physischen wie spirituellen Erschöpfung sprachen. Die Zeit hatte diesen Mann aller Kraft beraubt, die er einmal besessen haben mochte.

»Lew, ich möchte dir Martin Carvajal vorstellen«, sagte Lombroso.

Carvajal erhob sich und ergriff meine Hand. Seine war kalt. »Ich schätze mich überaus glücklich, Ihnen endlich zu begegnen, Mr. Nichols«, sagte er in einer sanften, tonlosen Stimme, die aus fernen Winkeln des Universums an mein Ohr drang.

Die vornehme Formulierung seines Grußes war sonderbar. Ich fragte mich, was er hier suchte. Er sah so vollkommen saftlos aus, so ganz nach einem Bewerber um eine sehr untergeordnete bürokratische Planstelle oder, das war plausibler, nach einem ärmlichen Onkel Lombrosos, der sich hier seinen monatlichen Wechsel abholte: Aber nur die Mächtigen hatten doch Zutritt zu Finanzchef Lombrosos prunkvoller Höhle.

Doch Carvajal war nicht das Treibgut, für das ich ihn hielt. Schon in dem Augenblick, als wir Hände schüttelten, schien es mir, als habe er Zugang zu ungeahnten Kräften; er stand aufrechter als erwartet, die Linien seines Gesichts strafften sich, eine gewisse mediterrane Röte hellte seine Hautfarbe auf. Nur seine öden und leblosen Augen verrieten noch, daß in seinem Innern etwas Entscheidendes fehlte.

Salbungsvoll sagte Lombroso: »Mr. Carvajal war einer der großzügigsten Geldgeber unseres Wahlkampfes«, und warf mir dabei einen lieblich-süßen Blick zu, der ungefähr sagte: Sei nett zu ihm, Lew, wir wollen noch mehr von seinem Gold.

Daß dieser graue, elend aussehende Fremde ein vermögender Wahlkampfspender sein sollte, eine Person, der man schmeicheln und schöntun und Eintritt in das Heiligtum eines vielbeschäftigten Politikers gewähren mußte, erschütterte mich tief, denn selten hatte ich jemanden so gründlich verkannt. Doch gelang mir ein höfliches Grinsen, und ich sagte: »In was für einem Geschäft sind Sie, Mr. Carvajal?«

»Investments.«

»Einer der geriebensten und erfolgreichsten privaten Spekulanten, die ich je kennen gelernt habe«, bemerkte Lombroso.

Carvajal nickte selbstzufrieden.

»Sie verdienen sich Ihren Lebensunterhalt ausschließlich an der Börse?« fragte ich.

»Ausschließlich.«

»Ich habe nicht geglaubt, daß jemand dazu tatsächlich imstande ist.«

»Oh, doch, doch, es geht«, sagte Carvajal. Seine Stimme war dünn und ausgedörrt, ein Grabesmurmeln. »Man braucht dazu nur ein hinlängliches Verständnis von Trends und ein bißchen Mut. Sind Sie nie an der Börse gewesen, Mr. Nichols?«

»Ein bißchen. Habe mich nur sehr oberflächlich damit befaßt.«

»Waren Sie erfolgreich?«

»Erfolgreich genug. Ich verstehe selbst einiges von Trends. Aber ich fühle mich nicht mehr wohl, wenn die wirklich wilden Fluktuationen losgehen. Zwanzig rauf, dreißig runter — nein, danke. Ich mag Sicherheit, glaube ich.«

»Ich genauso«, erwiderte Carvajal und gab seiner Bemerkung einen geringfügigen Nachdruck, die Andeutung einer Bedeutung hinter der Bedeutung, die mich verwirrte und mich unbehaglich berührte.

Gerade in diesem Augenblick läutete ein süßes Glöckchen in Lombroses innerem Büro, zu dem ein kurzer Korridor links von seinem Schreibtisch führte. Ich wußte, daß das ein Anruf des Bürgermeisters war; die Sekretärin legte Quinns Anrufe stets in das Hinterzimmer, wenn Fremde bei Lombroso waren. Lombroso entschuldigte sich und ging mit schnellen, schweren Schritten, unter denen der teppichbedeckte Boden bebte, zum Telefon im anderen Zimmer. Mit Carvajal allein zu sein, war plötzlich überwältigend beklemmend; meine Haut kribbelte, und ich fühlte einen Druck an der Kehle, als woge eine machtvolle übersinnliche Ausstrahlung unwiderstehlich von ihm zu mir herüber, nachdem die neutrale Gegenwart Lombrosos sie nicht mehr dämpfte. Ich konnte nicht bleiben. Ich entschuldigte mich ebenfalls und folgte hastig Lombroso ins andere Zimmer hinüber, eine enge, ellbogenbreite Höhle, die vom Fußboden bis zur Decke mit Büchern gefüllt war, schweren, verzierten Folianten, bei denen es sich um Talmuds oder um gebundene Exemplare von Moodys Aktien- und Pfandbriefmagazinen handeln mochte: Wahrscheinlich waren sie eine Mischung aus beidem. Lombroso, den mein Eindringen überraschte und ärgerte, wies wütend mit dem Finger auf seinen Telefonschirm, auf dem ich Bürgermeister Quinns Kopf und Schultern erkennen konnte. Aber statt wieder zu gehen, präsentierte ich einen wilden Schwall von Verbeugungen, Handzeichen, Achselzucken und idiotischen Grimassen, und Lombroso mußte schließlich den Bürgermeister bitten, einen Moment zu warten. Das Bild erlosch.

Lombroso funkelte mich an. »Also?« sagte er. »Was ist los?«

»Nichts. Ich weiß nicht. Es tut mir leid. Ich konnte es da drinnen nicht aushallen. Wer ist das, Bob?«

»Genau, was ich dir gesagt habe. Großes Geld. Starker Quinn-Förderer. Wir müssen ihm schöntun. Lew, du siehst, ich bin am Telefon. Der Bürgermeister will wissen…«

»Ich will mit dem Kerl nicht allein sein. Er ist wie ein wandelnder Toter. Macht mich gruseln.«

»Was?«

»Ich meine es ernst. Es ist so, als käme eine kalte, tödliche Kraft von ihm. Ich bekomme eine Gänsehaut. Er hat eine Ausstrahlung, die zum Fürchten ist.«

»O Gott, Lew.«

»Ich kann mir nicht helfen. Du weißt, daß ich für so etwas eine Nase habe.«

»Er ist ein harmloser alter Knacker, der viel Geld an der Börse gemacht hat und unseren Mann mag. Das ist alles.«

»Was will er hier?«

»Dich kennen lernen«, sagte Lombroso.

»Das ist alles? Einfach nur mich kennen lernen?«

»Er wollte unbedingt mit dir sprechen. Er sagte, es wäre sehr wichtig für ihn, mit dir zusammenzukommen.«

»Was will er von mir?«

»Das ist alles, was ich weiß, Lew.«

»Soll denn meine Zeit jedem zur Verfügung stehen, der mal fünf Kröten für Quinns Wahlkampf gegeben hat?«

Lombroso seufzte. »Wenn ich dir sagen würde, wie viel Carvajal gegeben hat, würdest du es nicht glauben; und auf jeden Fall, ja, ich glaube, du solltest dir etwas Zeit für ihn nehmen.«

»Aber…«

»Schau her, Lew, wenn du mehr wissen willst, mußt du Carvajal fragen. Geh jetzt bitte zu ihm zurück. Sei ein Schatz und laß mich mit dem Bürgermeister reden. Geh nur. Carvajal wird dir nicht weh tun. Er ist doch nur ein kümmerliches Kerlchen.« Lombroso wandte sich von mir ab und setzte das Telefon wieder in Betrieb. Das Bild des Bürgermeisters kehrte auf den Schirm zurück. Lombroso sagte: »Entschuldige, Paul. Lew hatte einen kleinen Nervenzusammenbruch, aber ich glaube, er wird sich fassen. Also…«

Ich ging zu Carvajal zurück. Er saß reglos, mit gesenktem Kopf und schlaffen Armen, wie wenn ein eisiger Windstoß während meiner Abwesenheit durch den Raum gefahren wäre und ihn verwelkt und erstarrt zurückgelassen hätte. Langsam und mit offensichtlicher Mühe sammelte er sich wieder, setzte sich aufrecht, füllte seine Lungen und gab eine Lebendigkeit vor, die seine Augen, seine leeren und beängstigenden Augen Lügen straften. Ein wandelnder Toter, jawohl.

»Werden Sie mit uns zu Mittag essen?« fragte ich ihn.

»Nein, nein, ich will mich nicht aufdrängen. Ich wollte nur einmal mit Ihnen reden, Mr. Nichols.«

»Ich stehe zu Ihren Diensten.«

»Tatsächlich? Wie wunderbar.« Er lächelte ein ausgebranntes Lächeln. »Ich habe viel von Ihnen gehört, wissen Sie. Schon bevor Sie in die Politik gingen. In gewisser Weise haben wir beide in derselben Branche gearbeitet.«

»Sie meinen die Börse?« fragte ich verwirrt.

Sein Lächeln wurde heller und beunruhigender. »Voraussagen«, sagte er. »In meinem Fall, die Börse. In Ihrem, Beratung für Wirtschaft und Politik. Beide haben wir uns mit unserem Köpfchen und unserem… ah… unserem hinlänglichen Verständnis von Trends einen Lebensunterhalt geschaffen.«

Ich war vollkommen unfähig, ihn zu entziffern. Er war undurchsichtig, ein Geheimnis, ein Rätsel.

Er sagte: »Und Sie stehen nun also hinter dem Bürgermeister und sagen ihm, in welchem Zustand die Straße vor ihm ist. Ich bewundere Menschen, die eine so klare Sicht haben. Bitte, sagen Sie mir, was für eine Laufbahn sehen Sie für Bürgermeister Quinn voraus?«

»Eine glänzende«, sagte ich.

»Ein erfolgreicher Bürgermeister also.«

»Er wird einer der besten sein, die diese Stadt je gehabt hat.«

Lombroso kam zu uns zurück. Carvajal sagte: »Und danach?«

Verunsichert blickte ich zu Lombroso hinüber, dessen Augen aber gesenkt waren. Ich war auf mich selbst gestellt.

»Nach seiner Amtszeit als Bürgermeister?« fragte ich.

»Ja.«

»Er ist noch jung, Mr. Carvajal. Gut möglich, daß er drei oder vier Amtszeiten als Bürgermeister vor sich hat. Für Ereignisse, die zwölf Jahre vor uns liegen, kann ich Ihnen keinerlei sinnvolle Prognosen geben.«

»Zwölf Jahre im Rathaus? Glauben Sie, er wird es dort so lange aushalten?«

Carvajal spielte mit mir. Mir war, als sei ich ahnungslos in eine Art Duell verwickelt worden. Ich sah ihn lange an und gewahrte in ihm etwas Schreckliches und Unbestimmbares, etwas Machtvolles und Unbegreifliches, das mich nach dem erstbesten Verteidigungszug greifen ließ, der mir in den Sinn kam. Ich sagte: »Was meinen Sie, Mr. Carvajal?«

Zum ersten Mal glomm ein Funke von Leben in seine Augen auf. Er genoß das Spiel.

»Daß Bürgermeister Quinn auf höhere Ämter zusteuert«, sagte er leise.

»Gouverneur?«

»Höher.«

Ich antwortete nicht sofort, und dann konnte ich nicht antworten, denn ein gewaltiges Schweigen war aus den ledergetäfelten Wänden hervorgesickert und umhüllte uns, und ich fürchtete mich, es zu zerreißen. Wenn nur das Telefon klingeln würde, dachte ich, aber alles war still, so still, wie die Luft in einer Frostnacht, bis schließlich Lombroso uns mit den Worten rettete: »Ja, wir glauben auch, daß er große Möglichkeiten hat.«

»Wir haben große Pläne für ihn«, platzte ich heraus.

»Ich weiß«, sagte Carvajal. »Deshalb bin ich ja hier. Ich will meine Unterstützung anbieten.«

Lombroso sagte: »Ihre finanzielle Hilfe hat uns bisher ungeheure Dienste geleistet, und…«

»Was ich im Sinn habe, ist nicht nur finanzieller Natur.«

Jetzt war es an Lombroso, hilflos nach mir zu sehen. Aber ich war ratlos. Ich sagte: »Ich glaube, wir können Ihnen nicht ganz folgen, Mr. Carvajal.«

»Dürfte ich dann einen Augenblick mit Ihnen allein sprechen?«

Ich spähte zu Lombroso hinüber. Wenn es ihn ärgerte, seines eigenen Büros verwiesen zu werden, so war es ihm nicht anzumerken. Mit der für ihn charakteristischen Anmut verbeugte er sich und schritt in das Hinterzimmer. Wieder war ich mit Carvajal allein, und wieder fühlte ich mich unbehaglich, drangsaliert von den eigenartigen Fäden unverletzbaren Stahls, die seine welke und schwache Seele zu umschnüren schienen. In einem neuen, schmeichlerischen, zutraulichen Ton sagte Carvajal: »Wie gesagt, Sie und ich arbeiten in derselben Branche. Allerdings meine ich, daß unsere Methoden ziemlich verschieden sind, Mr. Nichols. Sie arbeiten intuitiv und mit der Wahrscheinlichkeitstheorie, und ich — nun, ich arbeite anders. Was ich sagen will, ist dies: Ich glaube, einige meiner Einsichten könnten vielleicht Ihre ergänzen.«

»Prognostische Einsichten?«

»Genau. Ich möchte mich nicht in Ihre Zuständigkeiten einmischen. Aber ich wäre vielleicht in der Lage, ein paar Hinweise zu geben, die, wie ich glaube, wertvoll sein könnten.«

Eine Erkenntnis durchzuckte mich. Plötzlich war das Geheimnis gelüftet, und was sich enthüllte, war enttäuschend banal. Carvajal war nichts als ein reicher Polit-Amateur, der in dem Wahn, sein Geld qualifiziere ihn zum Universalexperten, danach gierte, bei den Profis mitzumischen. Ein Steckenpferdreiter. Ein Armstuhl-Politiker. O Gott! Nun, streich ihm um den Bart, hatte Lombroso gesagt. Ich würde streichen. Nach Takt suchend, sagte ich steif: »Selbstverständlich. Mr. Quinn und sein Stab sind für nützliche Hinweise immer dankbar.«

Carvajals Augen suchten die meinen, aber ich mied sie. »Ich danke Ihnen«, flüsterte er. »Fürs erste habe ich ein paar Dinge hier aufgeschrieben.« Er reichte mir ein zusammengefaltetes Stück weißes Papier. Seine Hand zitterte ein wenig. Ohne es mir anzusehen, nahm ich das Papier. Plötzlich schien ihn alle Kraft zu verlassen, als hätte er seinen letzten Vorrat erschöpft. Sein Gesicht wurde grau, seine Gelenke gaben sichtbar nach.

»Danke«, murmelte er noch einmal. »Ich danke Ihnen vielmals. Ich glaube, wir werden uns bald wiedersehen.« Und er verschwand. Buckelte sich aus der Tür wie ein japanischer Gesandter.

Man trifft in diesem Geschäft die sonderbarsten Typen. Kopfschüttelnd öffnete ich den Zettel. In spinnwebartiger Handschrift waren darauf drei Zeilen zu lesen:

1. Haltet Gilmartin im Auge.

2. Nationales Gesetz für Ölgelierung — macht euch bald dafür stark.

3. Noch vor Sommer Socorro für Leydecker. Macht euch frühzeitig an ihn ran.

Ich las zweimal, kapierte nichts, wartete auf den vertrauten erhellenden Sprung der Intuition; auch der blieb aus. Etwas war an diesem Carvajal, das meine Fähigkeiten vollständig abblitzen zulassen schien. Dieses geisterhafte Lächeln, diese ausgebrannten Augen, diese dunklen Zeilen — alles an ihm verwirrte und verstörte mich. »Er ist weg«, rief ich, und Lombroso kam sofort aus seinem Hinterzimmer.

»Und?«

»Ich weiß nicht. Ich habe absolut keine Ahnung. Das hat er mir gegeben«, sagte ich und reichte ihm den Zettel.

»Gilmartin. Gelierung. Leydecker.« Lombroso runzelte die Stirn. »Also dann, Zaubermeister. Was bedeutet das?«

Gilmartin, das mußte der Chef des Rechnungshofes des Staates New York, Anthony Gilmartin, sein, der wegen der städtischen Finanzpolitik schon einige Male mit Quinn zusammengestoßen, seit Monaten aber nicht mehr in den Nachrichten erschienen war. »Carvajal glaubt, es steht Ärger mit Albany in Geldsachen bevor«, riskierte ich eine Deutung. »Aber darüber müßtest du mehr wissen als ich. Beklagt sich Gilmartin mal wieder über die Ausgaben der Stadt?«

»Mit keinem Wort.«

»Bereiten wir ein neues Steuerpaket vor, das ihm nicht behagen wird?«

»Das hätten wir dir doch längst gesagt, Lew.«

»Es bahnen sich also keine Konflikte zwischen Quinn und der Finanzaufsicht an?«

»In absehbarer Zukunft sehe ich keine«, sagte Lombroso. »Siehst du welche?«

»Nein. Was die Pflicht zur Ölgelierung angeht…«

»Wir haben daran gedacht, ein strenges örtliches Gesetz durchzuziehen«, sagte er. »Kein Tanker soll mehr im New Yorker Hafen anlegen dürfen, der ungeliertes Öl transportiert. Quinn hat seine Zweifel, ob die Idee wirklich so gut ist, wie sie klingt, und wir haben schon erwogen, dich um eine Projektion zu bitten. Aber ein nationales Gesetz? Quinn hat in Angelegenheiten nationaler Politik nicht viel von sich gegeben.«

»Noch nicht.«

»Noch nicht, stimmt. Vielleicht ist es an der Zeit. Vielleicht hat Carvajal hier etwas gerochen. Und die dritte Zeile…«

»Leydecker«, sagte ich. Gewiß war damit Gouverneur Richard Leydecker von Kalifornien gemeint, einer der mächtigsten Männer der Neuen Demokratischen Partei und der frühe Spitzenanwärter auf die Präsidentschaftsnominierung im Jahre 2000. »Socorro ist Spanisch für ›Hilfe‹, nicht wahr, Bob? Helft Leydecker, der keine Hilfe braucht? Warum? Außerdem, wie könnte Paul Quinn Leydecker schon helfen? Abgesehen davon, daß er sich Leydeckers Wohlwollen gewinnt, sehe ich nicht, was Quinn davon hätte, und es kann auch Leydecker kaum etwas geben, das er nicht schon sicher in der Tasche hätte; also…«

»Socorro ist Vizegouverneur von Kalifornien«, sagte Lombroso sanft. »Carlos Socorro. Es ist der Name eines Mannes, Lew.«

»Carlos Socorro.« Ich schloß die Augen. »Natürlich.« Meine Wangen brannten. All mein Listenmachen, das ganze verrückte Zusammengestelle von Machtzentren in der Neuen Demokratischen Partei, das ganze schweißtriefende Gekritzel der letzten anderthalb Jahre — und es gelang mir trotzdem, Leydeckers designierten Nachfolger zu vergessen. Nicht socorro, sondern Socorro, Idiot! Ich sagte: »Worauf will er dann hinaus? Daß Leydecker zurücktreten wird, um sich die Nominierung zu holen, und daß Socorro Gouverneur wird? Okay, das macht Sinn. Aber: Macht euch frühzeitig an ihn heran? An wen?« Ich stockte. »Socorro? Leydecker? Alles ein trübes Mischmasch. Ich kriege keine sinnvolle Auslegung.«

»Wie legst du Carvajal aus?«

»Ein Spinner«, sagte ich. »Ein reicher Spinner. Ein verschrobener kleiner Kerl, mit einem schweren Politik-Tumor im Hirn.« Ich steckte den Zettel in meine Brieftasche. Das Blut pochte in meinem Kopf. »Vergiß es. Ich habe ihn geduldig ertragen, weil du das wolltest. Ich war heute ein sehr braver Junge, nicht wahr, Bob? Aber man kann nicht von mir verlangen, etwas von diesem Zeug ernst zu nehmen, und ich weigere mich, es zu versuchen. Komm, gehen wir Mittagessen. Ich würde gern etwas gutes Bone rauchen und ein paar schöne, leuchtende Martinis schlürfen und vernünftig reden…« Lombroso lächelte sein strahlendstes Lächeln, klopfte mir tröstend auf die Schulter und führte mich aus dem Büro. Ich verbannte Carvajal aus meinem Bewußtsein. Aber ich empfand ein Frösteln, als wäre ich in eine neue Jahreszeit eingetreten, und diese Jahreszeit war nicht Frühling, und das Frösteln war noch bei mir, als das Mittagessen schon lange vorüber war.

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