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In den nächsten Wochen machten wir uns ernsthaft an die Aufgabe, Paul Quinns — und unseren — Aufstieg ins Weiße Haus zu planen. Ich mußte meinen Wunsch, mein Verlangen, ihn zum Präsidenten zu machen, nicht mehr verheimlichen; inzwischen bekannte sich jeder im inneren Kreis offen zu derselben Leidenschaft, die mir so peinlich gewesen war, als ich sie vor anderthalb Jahren zum ersten Mal verspürte. Wir hatten alle mit dem Versteckspiel aufgehört.

An der Art und Weise, wie Präsidenten gemacht werden, hat sich seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nicht viel geändert, obwohl die Techniken in unserer Zeit der Datennetze, stochastischen Prognosen und medienintensiven Ego-Sättigung ein bißchen anders sind. Der Anfang von allem ist natürlich ein starker Kandidat, vorzugsweise einer mit einer Machtbasis in einem dicht besiedelten Staat. Ihren Mann muß man sich als Präsident vorstellen können; er muß aussehen und sich anhören wie ein Präsident. Wenn das nicht seine natürliche Gabe ist, muß er darin trainiert werden, eine präsidentenhafte Aura um sich herum zu erschaffen. Die besten Kandidaten waren von Natur aus damit ausgestattet. McKinley, Lyndon Johnson, FDR und Wilson hatten alle dieses dramatische präsidentenhafte Aussehen. Harding auch. Niemand sah jemals mehr nach einem Präsidenten aus als Harding; das war seine einzige Empfehlung für den Job, aber sie genügte. Dewey, AI Smith, McGovern und Humphrey hatten diese Qualifikationen nicht, und sie verloren. Stevenson und Wilkie hatten sie, waren aber gegen Männer angetreten, die mehr davon hatten. John F. Kennedy sah nicht so aus, wie es das 1960er Ideal von einem Präsidenten verlangte — weise, väterlich —, aber für ihn sprachen andere Dinge, und durch seinen Sieg veränderte er das Modell bis zu einem gewissen Grad, was, unter anderen, Paul Quinn zugute kam, der als Präsident vorstellbar war, weil er ein Kennedy-Typ war. Daß man sich wie ein Präsident anhört, ist ebenfalls wichtig. Der Möchtegern-Kandidat muß fest und ernst und tatkräftig klingen und doch auch weitherzig und flexibel, sein Tonfall sollte Lincolns Herzlichkeit und Weisheit, Trumans Schwung, FDR’s Gelassenheit, JFK’s Intelligenz vermitteln. In dieser Rubrik konnte Quinn für sich selbst stehen.

Der Mann, der Präsident sein möchte, muß sich ein Team aufbauen — jemand, der Geld zusammentreibt (Lombroso), jemand, der die Medien umgarnt (Missakian), jemand, der Trends analysiert und die gewinnträchtigste Politik vorschlägt (ich), jemand, der eine landesweite Allianz politischer Häuptlinge schafft (Ephrikian), jemand, der die Strategie leitet und koordiniert (Mardikian). Mit dem Produkt macht sich das Team dann auf den Weg, stellt die notwendigen Verbindungen in der Welt der Politik, des Journalismus und des Geldes her und verankert im öffentlichen Bewußtsein den Gedanken, daß dies der richtige Mann für den Job ist. Wenn der Nominierungskonvent herangekommen ist, müssen, durch offene oder heimliche Zusagen, genug Delegierte gewonnen sein, um den Kandidaten im ersten Wahlgang, schlimmstenfalls im dritten, zum Sieg zu verhelfen; wenn er bis dahin die Nominierung nicht in der Tasche hat, werden Bündnisse brüchig, Gespenster gehen um. Wenn er einmal nominiert ist, sucht man sich einen Mitstreiter als Anwärter auf die Vizepräsidentschaft aus, der sich in seiner Philosophie, seinem Aussehen und seinem geographischen Hintergrund so weitgehend vom Hauptkandidaten unterscheidet, wie das jemandem überhaupt möglich ist, der noch mit ihm auf du und du steht, und los geht’s damit, den ehrenwerten Gegner in den Staub zu stoßen.

Anfang April des Jahres ‘99 hielten wir unsere erste formelle Strategiebesprechung im Büro Mardikians, des Stellvertretenden Bürgermeisters, im Westflügel des Rathauses ab — Haig Mardikian, Bob Lombroso, George Missakian, Ara Ephrikian und ich. Quinn war nicht dabei; Quinn war in Washington, um mit dem Ministerium für Gesundheit, Erziehung und Wohlfahrt um eine größere Zuweisung an die Stadt im Rahmen des Gesetzes für Emotionelle Stabilität zu feilschen. Ein elektrisches Knistern war im Raum, das nichts mit dem Ozon-Ausstoß der Luftreinigungsanlage zu tun hatte. Es war das Knistern von Macht, wirklicher und potentieller Macht. Wir, die wir zusammengekommen waren, wollten damit beginnen, in die Geschichte einzugreifen.

Der Tisch war rund, aber mir war, als hätte ich einen Platz in der Mitte der Gruppe inne. Die vier anderen, die auf den Wegen der Macht und des Einflusses bereits viel versierter waren als ich, erwarteten die Angabe der Richtung von mir; denn die Zukunft lag im Nebel, und über die Rätsel noch nicht angebrochener Tage konnten sie nur raten, während sie glaubten, ich sähe, ich wüßte. Ich dachte nicht daran, ihnen den Unterschied zwischen Sehen und bloßem guten Raten zu erklären. Das Gefühl dieser Überlegenheit kostete ich aus. Macht macht süchtig, o ja, auf jeder Ebene, auf der wir sie erlangen. Da saß ich unter den Millionären, zwei Anwälten, einem Börsenmakler und einem Datennetz-Tycoon, drei dunkelhäutigen Armeniern und einem dunkelhäutigen spanischen Juden, jeder einzelne von ihnen so begierig wie ich, den widerhallenden Triumph eines erfolgreichen Kampfes um die Präsidentschaft zu fühlen, jeder einzelne so hungrig wie ich nach einem Anteil abfallenden Ruhms, jeder schon damit befaßt, sich sein Reich in einer zukünftigen Regierung herauszumeißeln — und auf mich warteten sie: Ich sollte ihnen sagen, wie das, was in wortwörtlicher Wahrheit die Eroberung der Vereinigten Staaten von Amerika war, anzustellen sei.

Mardikian sagte: »Wir wollen mit einer Projektion anfangen, Lew. Wie hoch setzt du Quinns Chancen an, im nächsten Jahr die Nominierung zu bekommen?«

Ich legte die angemessene seherhafte Pause ein, ich machte ein Gesicht, als griffe ich nach den Totems der Stochastik, ich blickte in die ungeheuren Weiten des Raums, starrte auf tanzenden Staub, als forme er Zeichen, ich hüllte mich in die Pompösität aller Propheten, die ganze üble, eindrucksvolle Schau ließ ich ablaufen, und nach einer Weile erwiderte ich feierlich: »Für die Nominierung, vielleicht eine Chance gegen acht. Für die Wahl, eine gegen fünfzig.«

»Nicht besonders gut.«

»Nein.«

»Gar nicht gut«, sagte Lombroso.

Mardikian rupfte bestürzt an der Spitze seiner fleischigen, kaiserlichen Nase und sagte: »Willst du uns sagen, wir sollten das Ganze fallen lassen? Ist das deine Auswertung?«

»Fürs nächste Jahr, ja. Vergeßt die Präsidentschaft.«

»Wir sollen einfach aufhören?« sagte Ephrikian. »Wir sollen hier im Rathaus hocken bleiben und die ganze Sache einfach aufgeben?«

»Warte«, murmelte Mardikian. Er blickte wieder mich an. »Wie sieht’s für Null-Vier aus, Lew?«

»Besser, viel besser, sehr viel besser.«

Ephrikian, ein stämmiger, schwarzbärtiger Mann mit modisch glattrasierter Kopfhaut, sah ungeduldig und gereizt aus. Mit finsterem Blick sagte er: »Gerade jetzt ist überall in den Medien groß davon die Rede, was Quinn alles in seinem ersten Jahr als Bürgermeister geleistet hat. Ich finde, das ist der richtige Augenblick, nach der nächsten Sprosse zu greifen, Lew.«

»Ich stimme dir zu«, sagte ich freundlich.

»Aber du sagst uns doch, daß er 2000 geschlagen werden wird.«

»Ich sage, daß jeder, den die Neuen Demokraten aufstellen könnten, geschlagen werden wird«, erwiderte ich. »Jeder. Quinn, Leydecker, Keats, Kane, Pownell, jeder. Dies ist der richtige Augenblick für Quinn zuzugreifen, in Ordnung, aber die nächste Sprosse ist nicht notwendigerweise schon die höchste.«

Missakian, gedrungen, präzise, schmallippig, der Public-Relations-Experte, der Mann mit dem klaren Blick, sagte: »Kannst du dich etwas genauer äußern, Lew?«

»Ja«, sagte ich und schoß los.

Ich legte ihnen meine nicht sehr riskante Prognose vor, daß, wer auch immer im Jahre 2000 gegen Präsident Mortonson anträte — höchstwahrscheinlich Leydecker — geschlagen werden würde. Amtierende Präsidenten werden in diesem Land nicht abgewählt, es sei denn, ihre erste Amtszeit wäre ein Desaster von Hooverschen Ausmaßen gewesen, und Mortenson hatte einen netten, sauberen, farblosen, schwerfälligen, durch nichts herausragenden Präsidenten abgegeben, so wie ihn viele Amerikaner mögen. Leydecker würde eine ansehnliche Herausforderung darstellen, aber es gab wirklich keine großen Streitfragen als Wahlkampfthemen, und er würde geschlagen werden. Möglicherweise schwer geschlagen, obwohl er eindeutig das Kaliber eines Präsidenten hatte. Es wäre also ratsam, so argumentierte ich, sich nicht in Leydeckers Weg zu stellen. Die Kandidatur sei ihm gegönnt. Jeder Versuch von Seiten Quinns, ihm die Nominierung im nächsten Jahr streitig zu machen, würde vermutlich sowieso fehlschlagen und Leydecker gewiß zu Quinns Feind machen, was nicht wünschenswert war. Laßt Leydecker die Ehre, laßt ihn bei dem Versuch, den unbesiegbaren Mortonson zu schlagen, in seinen Untergang rennen. Wir würden warten und den dann immer noch jungen, von keiner Niederlage befleckten Quinn im Jahre 2004 aufstellen, in dem die Verfassung Mortonson eine neuerliche Kandidatur verwehren würde.

»Quinn soll sich also 2000 für Leydecker stark machen und sich dann auf seine Hände setzen?« fragte Ephrikian.

»Mehr als das«, sagte ich. Ich sah zu Bob Lombroso hinüber. Er und ich hatten die Strategie schon diskutiert und Übereinstimmung erzielt; und nun begann Lombroso, indem er sich mit seinen mächtigen Schultern nach vorne neigte und die armenische Seite des Tisches mit einem eleganten, schwerlidrigen Blick streifte, unseren Plan zu umreißen.

Quinn würde in den nächsten Monaten in die nationale Öffentlichkeit treten; gipfeln würde das in einer Reise durchs Land im Frühsommer ‘99 und einigen größeren Reden in Memphis, Chicago, Denver und San Francisco. Mit einigen soliden, publizitätsträchtigen Leistungen in New York hinter sich (Enklavensicherung, stromlinienförmige Erneuerung der Lehrpläne, De-Gottfriedisierung der Polizei), würde er anfangen, sich zu größeren Themen zu äußern, etwa dem regionalen Kernenergie-Austausch, der Wiedereinführung der aufgehobenen Privatsphären-Gesetze von 1982 und — warum nicht? — der Pflicht zur Ölgelierung. Im Herbst dann würde er einen direkten Angriff auf die Republikaner starten, nicht so sehr auf Mortonson selbst als vielmehr auf ausgesuchte Mitglieder von dessen Kabinett (besonders Energieminister Hospers, Informationsminister Theiss und Umweltminister Perlman). So würde er langsam eine nationale Figur werden, ein junger Politiker im Kommen, ein Mann, mit dem man rechnen mußte. Die Leute würden anfangen, über seine präsidentiellen Möglichkeiten zu reden, obwohl die Umfragen ihn in gutem Abstand hinter Leydecker als dem Favoriten für die Nominierung zeigen würden — darauf würden wir schon achten — und er sich nie tatsächlich als Bewerber erklären würde. Er würde die Medien annehmen lassen, daß er Leydecker jedem anderen der erklärten Kandidaten vorzöge, aber darauf achten, keine ausdrückliche Unterstützungserklärung für Leydecker abzugeben. Auf dem Konvent der Neuen Demokraten in San Francisco im Jahre 2000 würde Quinn, sobald Leydecker nominiert wäre und die traditionelle Annahme-Rede gehalten hätte, in der er seinen Mitstreiter noch nicht nennen würde, eine mutige und dramatische, letzten Endes aber erfolglose Bewerbung um die Nominierung als Vizepräsident vom Stapel lassen. Warum Vizepräsident? Weil der Kampf auf dem Konvent ihm starke Beachtung von selten der Medien eintragen würde, ohne ihn Anklagen wegen verfrühten Ehrgeizes auszusetzen und ohne den mächtigen Leydecker zu vergrämen, was eine Bewerbung um die Präsidentschaftsnominierung gewiß tun würde. Warum erfolglos? Weil Leydecker die Wahl sowieso an Mortonson verlieren würde und Quinn nichts dabei zu gewinnen hatte, mit ihm als sein Mitstreiter eine Niederlage zu erleiden. Besser, vom Konvent abgewiesen — was ihm das Image eines brillanten, vielversprechenden Neulings gäbe, dem alte Politikerhengste sich in den Weg stellten —, als an den Urnen besiegt zu werden. »Unser Modell«, schloß Lombroso, »ist John F. Kennedy, der, 1956 genau auf diese Weise als Vizepräsident abgedrängt, sich 1960 die Nominierung für die Präsidentschaft holte. Lew hat Simulationen durchgespielt, die die Übereinstimmung der Dynamik zeigen, ihr könnt die Profile sehen.«

»Großartig«, sagte Ephrikian. »Wann ist die Ermordung fällig — 2003?«

»Bleiben wir doch ernst«, sagte Lombroso sanft.

»Okay«, sagte Ephrikian. »Hier hast du Ernst. Was, wenn Leydecker sich entscheidet, 2004 noch einmal anzutreten?«

»Er wird dann einundsechzig Jahre alt sein«, gab Lombroso zurück, »und er wird eine frühere Niederlage am Hals haben. Quinn wird dreiundvierzig sein und ungeschlagen. Der eine auf dem Weg nach unten, der andere offensichtlich auf dem Weg nach oben, und die Partei wird nach acht Jahren abseits der Macht nach einem Sieger lechzen.«

Ein langes Schweigen trat ein.

»Mir gefällt der Plan«, verkündete Missakian schließlich.

Ich sagte: »Und du, Haig?«

Mardikiän hatte eine Weile nicht gesprochen. Nun nickte er. »Quinn ist noch nicht soweit, im Jahr 2000 die Macht im Lande zu übernehmen. 2004 wird er es sein.«

»Und das Land wird sie ihm gerne geben«, sagte Missakian.

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