16

Hier lebt ein Millionär, der die Gabe des zweiten Gesichts besitzt? In einer kleinen, schmuddeligen Wohnung in einem neunzig Jahre alten, in Verfall geratenen Apartment-Haus unweit der Flatbush Avenue im tiefsten, gottverlassensten Brooklyn? Der Weg dorthin war ein Experiment in Tollkühnheit. Ich wußte — jeder, der mit der Stadtverwaltung zu tun hat, weiß da sehr schnell Bescheid —, welche Gebiete der Stadt als Niemandsland, als jenseits aller Hoffnung auf Erlösung, als außerhalb des Gesetzes stehend abgeschrieben worden waren. Dies war eine solche Gegend. Unter den Hüllen der Zeit und des Verfalls konnte ich noch das Skelett alter Ehrwürdigkeit erkennen; Juden der unteren Mittelklasse hatten einmal hier gewohnt, koschere Metzger und erfolglose Anwälte, danach dann Schwarze der unteren Mittelklasse, dann war ein Slum der Schwarzen daraus geworden, wahrscheinlich mit Enklaven von Puertorikanern, und nun war es schlicht ein Dschungel, ein zerfressenes Ödland abbröckelnder kleiner Zweifamilienhäuser aus roten Ziegeln und verrußter sechsstöckiger Apartment-Gebäude, in denen Penner, Süchtige, Schläger, Schläger der Schläger, streunende Katzen, Elefantenratten hausten — und Martin Carvajal. »Da wohnen Sie?« war mir herausgerutscht, als er, nachdem ich ihn um ein Treffen gebeten hatte, seine Wohnung dafür vorschlug. Ich nehme an, es war taktlos, so erstaunt darüber zu sein, wo er wohnte. Er erwiderte milde, daß mir nichts passieren würde. »Ich glaube, ich werde mir doch lieber Polizeischutz besorgen«, sagte ich, und er lachte und meinte, das sei der sicherste Weg, in Schwierigkeiten zu geraten, und wiederholte mit Nachdruck, ich solle keine Angst haben, mir drohe keine Gefahr, wenn ich allein käme.

Die innere Stimme, deren Eingebungen ich immer befolge, sagte mir, ich solle Vertrauen haben, und so machte ich mich denn ohne Polizeieskorte, nicht aber ohne Furcht auf den Weg.

Kein Taxi fährt in diesen Teil von Brooklyn, und die Hubschrauber bedienen solche Gegenden sowieso nicht. Aus dem Fuhrpark der Stadt entlieh ich mir einen unmarkierten Wagen und fuhr ihn selbst; ich wollte da draußen nicht auch noch das Leben eines Chauffeurs riskieren. Wie die meisten New Yorker fahre ich selten und schlecht, und die Fahrt hatte ihre eigenen Gefahren. Zu guter Letzt aber erreichte ich unversehrt, wenn auch nicht ungerührt Carvajals Straße. Schmutz hatte ich erwartet, ja, und faulende Abfallberge in den Straßen und die schuttbeladenen Grundstücke verwüsteter Häuser, die zwischen den anderen wie Zahnlücken aussahen; aber nicht die trockenen, geschwärzten Tierkadaver auf den Straßen — Hunde, Ziegen, Schweine? — und auch nicht die holzstengeligen Unkräuter, die durchs Pflaster stießen, als wäre dies eine Geisterstadt; nicht den Gestank menschlichen Kots und Urins und nicht die knöcheltiefen Sandverwehungen. Ofenhitze schlug auf mich ein, als ich, ängstlich und von bösen Ahnungen erfüllt, aus der Kühle meines Wagens stieg. Obwohl wir erst Anfang Juni hatten, röstete eine schreckliche Spätaugusthitze diese elenden Ruinen. Das soll New York City sein? Es hätte ein Außenposten in der mexikanischen Wüste vor hundert Jahren sein können.

Die Alarmanlage im Wagen hatte ich auf volle Bereitschaft gestellt. Ich selbst trug einen Anti-Überfall-Knüppel der stärksten Sorte und an der Hüfte einen Sicherheitsstrahler, der garantiert jeden Übeltäter zwölf Meter weit durch die Luft jagen würde. Dennoch fühlte ich mich aufs schlimmste ausgesetzt, als ich das trostlose Pflaster überquerte; ich wußte, daß ich gegen einen Heckenschützen, der so nebenbei mal von den Dächern ballern würde, keine Verteidigung hatte. Aber obwohl ein paar fahlgesichtige Bewohner dieses gräulichen Dorfs mich aus der Dunkelheit hinter ihren durchlöcherten und zersprungenen Fensterscheiben mit säuerlichen Blicken verfolgten, obwohl mich ein paar schmalhüftige Straßencowboys mit langen, finsteren Blicken musterten, näherte sich mir niemand, niemand sprach mit mir, es gab keinen Kugelhagel von oben. Als ich das zusammensackende Gebäude betrat, in dem Carvajal hauste, fühlte ich mich fast entspannt: Vielleicht war die Gegend nur schlechtgemacht worden, vielleicht war ihr schlechter Ruf nur ein Produkt von Mittelklassen-Wahnvorstellungen. Später erfuhr ich, daß ich niemals mehr als sechzig Sekunden außerhalb meines Wagens überlebt hätte, wenn Carvajal nicht Anweisungen gegeben hätte, die meine Sicherheit gewährten. In diesem ausgetrockneten Dschungel besaß er gewaltige Autorität; seinen grimmigen Nachbarn galt er als eine Art Zauberer, ein heiliges Totem, ein heiliger Narr; er war geachtet und gefürchtet, und man gehorchte ihm bedingungslos. Zweifelsohne hatte ihn seine visionäre Gabe, wohlüberlegt und mit überwältigender Wirkung eingesetzt, hier unantastbar gemacht. Im Dschungel legt sich niemand mit einem Schamanen an — und heute hatte er seinen schützenden Mantel über mich gebreitet.

Seine Wohnung war im fünften Stock. Einen Aufzug gab es nicht. Jeder Treppenabsatz war ein grimmiges Abenteuer. Ich hörte das Trippeln riesiger Ratten, ich würgte an fauligen, unvertrauten Gerüchen, ich wähnte siebenjährige Mörder in jeder Schattenpfütze lauern. Ohne Zwischenfall erreichte ich seine Tür. Er öffnete mir, bevor ich die Klingel finden konnte. Selbst bei dieser Hitze trug er ein weißes Hemd mit zugeknöpftem Kragen, eine graue Tweedjacke, eine braune Krawatte. Er sah aus wie ein Schulmeister, der mich meine lateinischen Konjugationen und Deklinationen abfragen wollte. »Sehen Sie?« sagte er. »Sicher und wohlbehalten. Ich wußte es. Nichts ist passiert.«

Carvajal bewohnte drei Räume: ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, eine Küche. Die Decken waren niedrig, der Verputz hatte Risse, die verblichenen grünen Wände sahen aus, als seien sie zuletzt in den Tagen Tricky Dick Nixons gestrichen worden. Das Mobiliar war noch älter, sah nach Truman-Ära aus, abgeschlunzt und überladen, mit blümchengemusterten Schutzhüllen und massigen Flußpferdbeinen. Die ungefilterte Luft war erstickend; die Beleuchtung kam aus Glühbirnen und war trübselig; der Fernseher war ein archaisches Tischmodell; das Abwaschbecken in der Küche hatte fließendes Wasser, keinen Ultraschall. Als ich in den Siebzigerjahren aufwuchs, war einer meiner engsten Freunde ein Junge, dessen Vater in Vietnam gefallen war. Er lebte bei seinen Großeltern, und deren Wohnung sah genauso aus wie diese hier. In unheimlicher Weise bewahrte Carvajals Apartment die Atmosphäre des Amerikas der Jahrhundertmitte auf; es war wie eine Filmdekoration oder wie ein Historisches Zimmer im Smithsoman Museum.

Mit geistesabwesender Gastfreundlichkeit wies es mir einen Platz auf dem verbeulten abgewetzten Wohnzimmersofa an und entschuldigte sich, daß er mir weder Drink noch Droge anbieten könne. Diesen Dingen fröne er nicht, erklärte er, und in dieser Gegend gäbe es sehr wenig zu kaufen. »Macht nichts«, sagte ich großartig. »Ein Glas Wasser reicht vollkommen.«

Das Wasser war lauwarm und schwach rostig. Auch gut, sagte ich mir. Ich saß unnatürlich aufrecht, das Rückgrat steif, die Beine angespannt. Carvajal, der auf dem Kissen des Sessels zu meiner Rechten saß, bemerkte: »Sie scheinen sich nicht ganz wohl zu fühlen, Mr. Nichols.«

»In einer Minute werde ich mich entspannt haben. Die Fahrt hierher…«

»Natürlich.«

»Aber niemand hat mich auf der Straße belästigt. Ich muß zugeben, daß ich Ärger erwartet habe, aber…«

»Ich sagte doch, es würde nichts passieren.«

»Trotzdem…«

»Aber ich habe es Ihnen doch gesagt«, sagte er milde. »Haben Sie mir nicht geglaubt? Sie hätten mir glauben sollen, Mr. Nichols. Das wissen Sie.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte ich und dachte: Gilmartin, Gelierung, Leydecker. Carvajal bot mir mehr Wasser an. Ich lächelte mechanisch und schüttelte den Kopf. Ein klebriges Schweigen entstand. Nach einem Augenblick sagte ich: »Es ist merkwürdig, daß jemand wie Sie in so einer Gegend wohnt.«

»Merkwürdig? Warum?«

»Ein Mann mit Ihren Mitteln könnte überall in der Stadt leben.«

»Ich weiß.«

»Warum dann hier?«

»Ich habe immer hier gelebt«, sagte er leise. »Das ist die einzige Heimat, die ich je gehabt habe. Diese Möbel haben meiner Mutter gehört und einige davon schon ihrer Mutter. Ich höre in diesen Räumen das Echo vertrauter Stimmen, Mr. Nichols. Ich spüre die lebendige Gegenwart der Vergangenheit. Ist das so merkwürdig, daß man bleibt, wo man immer gelebt hat?«

»Aber die Gegend…«

»Ist heruntergekommen, ja. In sechzig Jahren verändert sich vieles. Aber die Veränderungen sind für mich nicht wahrnehmbar gewesen, nicht in einem wesentlichen Ausmaß. Ein allmählicher Niedergang, Jahr um Jahr, dann vielleicht mal ein steilerer Niedergang, aber ich mache Zugeständnisse, ich passe mich an, ich gewöhne mich an das Neue und füge es in das ein, was immer gewesen ist. Und alles ist mir so wohlvertraut, Mr. Nichols — die Namen, die vor langer Zeit in den feuchten Zement geschrieben wurden, als das Pflaster noch neu war, der große Götterbaum im Schulhof, die verwitterten Fratzen über dem Eingang des Gebäudes gegenüber. Verstehen Sie, was ich meine? Warum sollte ich diese Dinge für eine schicke Wohnung auf Staten Island verlassen?«

»Wegen der Gefahr, zum einen.«

»Es gibt keine Gefahr. Nicht für mich. Für die Leute hier bin ich der kleine Mann, der schon immer hier gewesen ist, ein Symbol der Stabilität, die eine Konstante in einem Universum entropischer Veränderung. Für sie habe ich einen rituellen Wert. Ich bin vielleicht so eine Art Maskottchen. Jedenfalls hat niemand, der hier lebt, mich je belästigt. Und wird es auch in Zukunft nicht.«

»Können Sie dessen sicher sein?«

»Ja«, sagte er mit monolithischer Gewißheit und blickte mir direkt in die Augen; und ich empfand wieder jenes Frösteln, jenes Gefühl, am Rande eines unauslotbaren Abgrundes zu stehen. Ein weiteres langes Schweigen entstand. Kraft strömte von ihm aus — eine Macht, die in vollkommenem Gegensatz zu seiner farblosen Erscheinung stand, seiner sanften Art, seinem stumpfen, ausgebrannten Gesichtsausdruck —, und diese Kraft lähmte mich. Ich weiß nicht, wie lange ich so angefroren dasaß — es hätte eine Stunde sein können. Schließlich sagte er: »Sie wollten mir einige Fragen stellen, Mr. Nichols.«

Ich nickte. Tief Atem holend, stürzte ich mich hinein. »Sie wußten, daß Leydecker dieses Frühjahr sterben würde, nicht wahr? Ich meine, Sie haben nicht einfach nur geraten, daß er sterben würde. Sie wußten es.«

»Ja.« Das gleiche endgültige, unumstößliche Ja.

»Sie wußten, daß Gilmartin in Schwierigkeiten geraten würde. Sie wußten, daß Öltanker ungeliertes Öl verlieren würden.«

»Ja. Ja.«

»Sie wissen, wie die Aktienkurse morgen und übermorgen steigen und fallen werden, und mit diesem Wissen haben Sie Millionen gemacht.«

»Auch das ist wahr.«

»Man kann daher sagen, daß Sie zukünftige Ereignisse mit außergewöhnlicher Klarheit sehen, mit übernatürlicher Klarheit, Mr. Carvajal.«

»So wie Sie.«

»Falsch«, sagte ich. »Ich sehe überhaupt keine zukünftigen Ereignisse. Die Gabe, kommende Dinge zu sehen, geht mir gänzlich ab. Ich bin lediglich ein sehr guter Rater, ich kann Wahrscheinlichkeiten abwägen und die wahrscheinlichste Entwicklung herausfinden, aber ich sehe nicht wirklich. Ich kann niemals sicher sein, ob ich recht habe, nur einigermaßen zuversichtlich. Denn ich rate nur. Sie sehen. Soviel haben Sie mir praktisch schon damals gesagt, als wir uns in Bob Lombrosos Büro trafen: Ich rate, Sie sehen. Die Zukunft ist wie ein Film, der in Ihrem Geist abläuft. Habe ich recht?«

»Das wissen Sie, Mr. Nichols.«

»Ja, ich weiß, ich habe recht. Es ist kein Zweifel möglich. Mir ist bewußt, was mit stochastischen Methoden geleistet werden kann, und was Sie tun, geht über die Möglichkeiten des Ratens hinaus. Vielleicht hätte ich die Wahrscheinlichkeit von ein paar Tankerunglücken vorhersagen können, aber nicht Leydeckers Tod oder den Gilmartin-Skandal. Ich hätte raten können, daß irgendeine politische Schlüsselfigur in diesem Frühjahr sterben würde, aber niemals welche. Ich hätte vielleicht raten können, daß irgendein Politiker gefeuert wird, aber seinen Namen hätte ich nicht nennen können. Ihre Vorhersagen waren genau und spezifisch. Das sind keine Wahrscheinlichkeitsprognosen. Das ist eher wie Zauberei, Mr. Carvajal. Die Zukunft ist der Definition nach unerkennbar. Sie aber scheinen von der Zukunft ziemlich viel zu wissen.«

»Über die unmittelbare Zukunft, ja. Ja, das tue ich, Mr. Nichols.«

»Nur die unmittelbare Zukunft?«

Er lachte. »Glauben Sie, mein Geist durchdringt den ganzen Raum und die ganze Zeit?«

»Zu diesem Zeitpunkt habe ich nicht die geringste Ahnung, was Ihr Geist alles durchdringt. Ich wünschte, ich wüßte es. Ich würde gerne wissen, wie er funktioniert und was seine Grenzen sind.«

»Er funktioniert so, wie Sie es beschrieben haben«, erwiderte Carvajal. »Wenn ich will, sehe ich. Eine Vision künftiger Dinge läuft in mir ab wie ein Film.« Seine Stimme war vollkommen nüchtern. Fast schien er gelangweilt. »Ist das alles, was Sie hier herausfinden wollten?«

»Wissen Sie es nicht? Sicherlich haben Sie doch den Film von dieser Unterhaltung schon gesehen.«

»Natürlich.«

»Aber Sie haben einige Details vergessen?«

»Ich vergesse selten etwas«, sagte Carvajal seufzend.

»Dann müssen Sie auch wissen, was ich noch fragen werde.«

»Ja«, gab er zu.

»Und trotzdem werden Sie die Frage nicht beantworten, bevor ich sie stelle?«

»So ist es.«

»Angenommen, ich frage nicht«, sagte ich. »Angenommen, ich gehe in diesem Moment einfach weg, ohne das zu tun, was ich angeblich tun werde.«

»Das wird nicht möglich sein«, sagte Carvajal gleichmütig. »Ich erinnere mich an den Verlauf, den diese Unterhaltung nehmen muß, und Sie gehen nicht, bevor Sie Ihre nächste Frage gestellt haben. Die Dinge passieren immer nur auf eine Weise. Sie haben keine andere Wahl als zu tun und zu sagen, was ich tun und sagen gesehen habe.«

»Sind Sie ein Gott, der die Ereignisse meines Lebens bestimmt?«

Er lächelte matt und schüttelte den Kopf. »Durchaus sterblich, Mr. Nichols. Ich bestimme nichts. Ich sage Ihnen nur, daß die Zukunft nicht zu ändern ist. Das, was Sie unter Zukunft verstehen. Wir sind beide nur Schauspieler in einem Stück, das nicht umgeschrieben werden kann. Kommen Sie. Lassen Sie uns unseren Text durchspielen. Fragen Sie mich…«

»Nein. Ich werde das Netz durchreißen und Sie jetzt verlassen.«

»… nach Paul Quinns Zukunft«, sagte er.

Ich war schon an der Tür. Aber als er Quinns Namen aussprach, stockte ich, knieweich, verblüfft, und drehte mich um. Das war natürlich die Frage, die ich hatte stellen wollen, die Frage, deretwegen ich hierher gekommen war, die Frage, die nicht zu stellen ich beschlossen hatte, als ich versuchte, mein kleines Spiel mit der unabänderlichen Zukunft zu spielen! Wie fein Carvajal mich manövriert hatte! Denn nun war ich hilflos, besiegt, gelähmt. Sie mögen denken, ich hätte immer noch die Freiheit gehabt, aus der Tür zu gehen, aber nein, aber nein, nicht, wo er mich mit dem Versprechen des ersehnten Wissens gestachelt hatte, wo er ein weiteres Mal, niederschmetternd und endgültig, die Präzision seiner prophetischen Gabe vorgeführt hatte.

»Sagen Sie es«, murrte ich. »Stellen Sie die Frage.«

Er seufzte. »Wenn Sie es wünschen.«

»Ich bestehe darauf.«

»Sie wollen fragen, ob Paul Quinn Präsident wird.«

»Das ist es«, sagte ich hohl.

»Meine Antwort ist: ich glaube, ja.«

»Sie glauben? Das ist alles, was Sie mir sagen können? Sie glauben, er wird Präsident?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie wissen alles!«

»Nein«, sagte Carvajal. »Nicht alles. Es gibt Grenzen, und Ihre Frage liegt jenseits dieser Grenzen. Die einzige Antwort, die ich Ihnen geben kann, beruht auf Raten, auf ähnlichen Überlegungen, wie sie jeder, der sich für Politik interessiert, anstellen würde. Auf Grund dieser Überlegungen glaube ich, daß Quinn wahrscheinlich Präsident werden wird.«

»Aber Sie wissen es nicht sicher. Sie können ihn nicht als Präsident sehen.«

»Genau.«

»Es ist jenseits Ihrer Reichweite? Nicht in der unmittelbaren Zukunft?«

»Jenseits meiner Reichweite, ja.«

»Daher sagen Sie mir, daß Quinn im Jahr 2000 nicht gewählt werden wird, daß Sie aber glauben, er habe gute Chancen für 2004, obwohl Sie nicht bis ins Jahr 2004 sehen können.«

»Haben Sie je geglaubt, Quinn würde 2000 gewählt werden?« fragte Carvajal.

»Niemals. Mortonson ist unschlagbar. Es sei denn, es erwischt Mortonson so wie Leydecker; in dem Fall ist die Wahl völlig offen, und Quinn…« Ich hielt inne. »Was sehen Sie für Mortonson voraus? Wird er bis zur Wahl im Jahr 2000 leben?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Carvajal ruhig.

»Das wissen Sie auch nicht? Die Wahl ist in siebzehn Monaten. Die Reichweite Ihrer Hellsichtigkeit beträgt weniger als siebzehn Monate, wollen Sie das sagen?«

»Zur Zeit, ja.«

»War sie jemals größer?«

»O ja«, sagte er. »Viel größer. Zu Zeiten habe ich bis auf dreißig oder vierzig Jahre vorausgeschaut. Aber jetzt nicht mehr.«

Ich hatte das Gefühl, daß Carvajal wieder mit mir spielte. Erbittert sagte ich: »Besteht eine Chance, daß Ihre langfristige Sehergabe zurückkehrt? So daß Sie, sagen wir, die Wahl des Jahres 2004 erkennen können? Oder wenigstens die Wahl 2000?«

»Nicht wirklich.«

Schweiß lief an meinem Körper herunter. »Helfen Sie mir. Es ist extrem wichtig für mich zu wissen, ob Quinn es ins Weiße Haus schaffen wird.«

»Warum?«

»Nun, weil ich…« Ich stockte, da ich zu meinem Erstaunen erkannte, daß ich außer bloßer Neugier keinen wirklichen Grund hatte. Ich hatte mich der Arbeit für Quinns Wahl verschrieben; unterstelltermaßen war dieser Einsatz nicht an die Bedingung geknüpft, daß ich wußte, ich arbeitete für einen Sieger. Und doch hatte ich in den Augenblicken, als ich dachte, Carvajal könne es mir sagen, verzweifelt nach diesem Wissen verlangt. Umständlich sagte ich: »Weil ich… nun, ich arbeite sehr eng mit ihm zusammen, und ich hätte ein besseres Gefühl, wenn ich wüßte, in welche Richtung das geht, besonders, wenn ich wüßte, daß all unsere Mühe seinetwegen nicht vergeudet sein wird. Ich… äh…« Ich verstummte, fühlte mich töricht.

Carvajal sagte: »Ich habe Ihnen geantwortet, so gut ich konnte. Mein Tipp ist, daß Ihr Mann Präsident wird.«

»Nächstes Jahr oder 2004?«

»Wenn Mortonson nichts zustößt, so hat Quinn meines Erachtens bis 2004 keine Chance.«

»Aber Sie wissen nicht, ob Mortonson etwas zustoßen wird?« beharrte ich.

»Ich habe Ihnen doch gesagt: Ich weiß es nicht. Bitte glauben Sie mir, daß ich nicht bis zur nächsten Wahl sehen kann. Und probabilistische Techniken sind, wie Sie selbst vor ein paar Minuten hervorgehoben haben, für die Vorhersage von Todesdaten bestimmter Menschen wertlos. In dieser Sache verlasse ich mich nur auf Wahrscheinlichkeiten. Meine Schätzung ist nicht einmal so gut wie Ihre. Auf dem Felde der Stochastik, Mr. Nichols, sind Sie der Experte, nicht ich.«

»Sie sagen also, daß Ihre Unterstützung für Quinn nicht auf absolutem Wissen beruht, nur auf einer Ahnung.«

»Welche Unterstützung für Quinn?«

Seine Frage, die er in so unschuldigem Tonfall hervorbrachte, verblüffte mich. »Sie dachten, er würde einen guten Bürgermeister abgeben. Sie wollen, daß er Präsident wird«, sagte ich.

»Ich dachte? Ich will?«

»Sie haben seinem Wahlkampffond riesige Summen zukommen lassen, als er für das Amt des Bürgermeisters kandidierte. Ist das keine Unterstützung? Im März erschienen Sie im Büro eines seiner Hauptstrategen und boten ihre Hilfe für Quinns weiteren Aufstieg an. Das ist keine Unterstützung?«

»Es ist für mich völlig belanglos, ob Paul Quinn je wieder eine Wahl gewinnt«, sagte Carvajal.

»Wirklich?«

»Seine Karriere bedeutet mir nichts. Sie hat mir nie etwas bedeutet.«

»Warum haben Sie dann beschlossen, so hohe Summen zu seinem Wahlkampf beizusteuern? Warum sind Sie entschlossen, seinem Team nützliche Tipps über die Zukunft zukommen zu lassen? Warum sind Sie entschlossen…«

»Entschlossen?«

»Entschlossen, ja. Habe ich das falsche Wort gebraucht?«

»Entschlüsse haben damit nichts zu tun, Mr. Nichols.«

»Je länger ich mit Ihnen rede, desto weniger begreife ich.«

»Entschlüsse implizieren Wahl, Freiheit, Willen. Solche Begriffe gibt es in meinem Leben nicht. Ich gebe Quinn Geld, weil ich weiß, ich muß, nicht, weil ich ihn anderen Politikern vorziehe. Ich bin im März in Lombrosos Büro gekommen, da ich Monate vorher sah, daß ich dort hinging, und wußte, daß ich an jenem Tag gehen mußte, egal, ob ich etwas anderes lieber täte. Ich lebe in dieser verfallenden Gegend, da mir niemals eine Vision vergönnt wurde, in der ich mich irgendwo anders wohnen sah; also weiß ich, daß ich hierher gehöre. Ich sage Ihnen, was ich Ihnen heute gesagt habe, weil mir diese Unterhaltung schon so vertraut ist wie ein Film, den ich fünfzigmal gesehen habe; also weiß ich, daß ich Ihnen Dinge sagen muß, die ich keinem anderen Menschen je gesagt habe. Ich frage niemals, warum. Mein Leben ist ohne Überraschungen, Mr. Nichols, und es ist ohne Entscheidungen, ohne Willen. Ich tue, was ich tun muß, und ich weiß, daß ich es tun muß, da ich gesehen habe, daß ich es tue.«

Seine seelenruhigen Worte erschreckten mich mehr als irgendeine der wirklichen oder eingebildeten Schrecknisse auf der dunklen Treppe draußen. Nie zuvor hatte ich in ein Universum geblickt, aus dem freier Wille, Zufall, das Unerwartete, das Beliebige allesamt verbannt worden waren. Carvajal erschien mir als ein Mann, der von seiner Vision der unabänderlichen Zukunft hilflos, aber ohne zu klagen, durch die Gegenwart geschleift wurde. Das flößte mir Furcht ein, aber nach einem Augenblick war das betäubende Entsetzen verschwunden und sollte niemals wiederkehren; denn nachdem ich Carvajal zuerst als tragisches Opfer gesehen hatte, kam nun ein anderes, ein erhebenderes Bild, und darin sah ich Carvajal als einen Menschen, dessen Gabe die höchste Vollendung meiner eigenen darstellte, ich sah ihn als jemanden, für den es die Kapricen des Zufalls nicht mehr gab, da er ins Reich absoluter Vorhersagbarkeit eingetreten war. Durch diese Einsicht war ich unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Ich fühlte, wie unsere Seelen einander durchdrangen, und ich wußte, ich würde nie wieder von ihm loskommen. Es war, als hätte jene kalte Kraft, die von ihm ausging, jene eisige Strahlung und Fremdheit, die ihn mir so widerwärtig gemacht hatten, nun ihr Vorzeichen umgekehrt und zögen mich zu ihm hin.

Ich fragte: »Sie spielen immer die Szenen aus, die Sie sehen?«

»Immer.«

»Sie versuchen nie, das Drehbuch zu ändern?«

»Nie.«

»Weil Sie die Folgen fürchten?«

Er schüttelte den Kopf. »Wie sollte ich mich vor irgend etwas fürchten können? Was wir fürchten, ist das Unbekannte, nicht wahr? Nein: Ich lese die Zeilen des Drehbuchs gehorsam, weil ich weiß, daß es keine Alternative gibt. Was für Sie wie die Zukunft aussieht, ist für mich eher wie die Vergangenheit, etwas bereits Erfahrenes, das ändern zu wollen müßig wäre. Ich gebe Quinn Geld, weil ich das schon getan habe und diesen Akt gesehen habe. Wie könnte ich sehen, daß ich gegeben habe, wenn ich in Wirklichkeit doch nicht gebe, sobald der Augenblick meiner Vision und der Augenblick meiner ›Gegenwart‹ sich kreuzen?«

»Machen Sie sich jemals Sorgen, daß Sie das Drehbuch vergessen könnten und das Falsche tun, wenn der Augenblick kommt?«

Carvajal kicherte. »Wenn Sie ein einziges Mal sehen könnten, wie ich sehe, wüßten Sie, wie unsinnig diese Frage ist. Es ist nicht möglich, ›das Falsche‹ zu tun. Es gibt nur ›das Richtige‹, das, was geschehen wird; schließlich geschieht es auch; ich bin ein Schauspieler in einem Drama, in dem es keinen Platz für Improvisationen gibt — wie Sie, wie wir alle.«

»Und Sie haben nicht ein einziges Mal versucht, das Drehbuch umzuschreiben? Irgendeine kleine Einzelheit? Kein einziges Mal?«

»O doch, mehr als einmal, Mr. Nichols, und nicht nur kleine Einzelheiten. Als ich jünger war, viel jünger, bevor ich verstand. Wenn ich zum Beispiel die Vision irgendeines Unglücks hatte, sagen wir, eines Kindes, das in einen Lastwagen läuft, oder eines brennenden Hauses, dann beschloß ich, Gott zu spielen, das Unglück zu verhindern.«

»Und?«

»Unmöglich. Wie ich es auch anstellte, wenn der Augenblick kam, fand das Ereignis unweigerlich so statt, wie ich es gesehen hatte. Immer. Die Umstände hinderten mich daran, irgend etwas zu verhindern. Viele Male habe ich damit experimentiert, den vorbestimmten Lauf der Ereignisse zu ändern, und ich hatte nie Erfolg; schließlich gab ich den Versuch auf. Seitdem habe ich einfach meine Rolle gespielt, und ich spreche meinen Text so, wie ich weiß, daß er gesprochen werden muß.«

»Und das akzeptieren Sie vollständig?« fragte ich. Ruhelos, aufgewühlt, erhitzt ging ich durch den Raum. »Für Sie ist das Buch der Zeit geschrieben, versiegelt und unveränderbar? Kismet und keine Widerrede?«

»Kismet und keine Widerrede«, sagte er.

»Ist das nicht eine ziemlich verzweifelte Philosophie?«

Er schien leise belustigt. »Das ist keine Philosophie, Mr. Nichols. Es ist die Anpassung an die Natur der Wirklichkeit. Passen Sie auf, ›akzeptieren‹ Sie die Gegenwart?«

»Was?«

»Während die Dinge sich um Sie herum ereignen, erkennen Sie sie als gültige Ereignisse an? Oder betrachten Sie sie als widerruflich und veränderlich, haben Sie das Gefühl, Sie könnten sie im Augenblick des Geschehens ändern?«

»Natürlich nicht. Wie könnte jemand…«

»Genau. Man kann versuchen, der Zukunft eine andere Richtung zu geben, und man kann sogar seine Erinnerung an die Vergangenheit redigieren und neu aufbauen, aber an dem Augenblick selbst, wie er ins Dasein fließt und Gestalt annimmt, kann nicht gerüttelt werden.«

»Und?«

»Anderen Menschen erscheint die Zukunft steuerbar, weil sie unzugänglich, unerreichbar ist. Man hat die Illusion, man könne seine eigene Zukunft erschaffen, sie aus dem Holz der noch nicht geborenen Zeit herausschnitzen. Aber was ich wahrnehme, wenn ich sehe«, sagte er, »ist nur in bezug auf meine zeitweilige Position im Zeitfluß die ›Zukunft‹. In Wirklichkeit ist es ebenso ›Gegenwart‹, die unveränderliche unmittelbare Gegenwart, die ich erlebe, wenn ich auf einer anderen Position im Zeitfluß stehe. Oder vielleicht auf derselben Position in einem anderen Zeitfluß. Oh, ich habe viele kluge Theorien, Mr. Nichols. Aber sie führen alle zu demselben Schluß: Das, was ich wahrnehme, ist nicht eine hypothetische und nur unter bestimmten Bedingungen eintretende Zukunft, die durch Eingriff in die ihr vorhergehenden Entwicklungen modifiziert werden könnte, sondern vielmehr ein wirkliches und unumstößliches Ereignis, so festgelegt wie die Gegenwart oder Vergangenheit. Ich kann es genauso wenig ändern, wie Sie in einen Film eingreifen können, wenn Sie im Kino sitzen. Ich habe das vor langer Zeit begriffen. Und akzeptiert. Und akzeptiert.«

»Wie lange haben Sie schon die Macht zu sehen?«

Achselzuckend sagte Carvajal: »Mein ganzes Leben lang, nehme ich an. Als Kind konnte ich sie nicht begreifen; es war wie ein Fieber, das mich überfiel, ein intensiver Traum, ein Delirium. Ich wußte nicht, daß ich… nun, sagen wir, Vorwärtsblenden erfuhr. Aber dann entdeckte ich, daß ich Episoden durchlebte, die ich vorher ›geträumt‹ hatte. Jenes Gefühl von deja vu, das Sie, Mr. Nichols, sicherlich ab und zu auch schon erlebt haben — es war mein täglicher Begleiter. Es gab Zeiten, wo ich mir wie eine Marionette vorkam, die an Schnüren herumzappelte, während jemand von über mir meinen Text sprach. Allmählich entdeckte ich, daß kein anderer das deja vu so oft und so intensiv erlebte wie ich. Ich glaube, ich verstand erst mit zwanzig völlig, wer ich war, und war schon fast dreißig, bevor ich damit wirklich zu Rande kam. Natürlich habe ich mich nie jemandem offenbart; das ist in der Tat heute das erste Mal.«

»Weil es niemanden gab, dem Sie vertrauten?«

»Weil es nicht im Drehbuch war«, sagte er mit aufreizender Lässigkeit.

»Sie haben nie geheiratet?«

»Nein.«

»Wollten Sie?«

»Wie könnte ich das wollen? Wie könnte ich wollen, was ich augenscheinlich nicht gewollt habe? Ich habe nie eine Frau für mich gesehen.«

»Und daher war Ihnen keine Frau zugedacht.«

»Keine Frau zugedacht?« Seine Augen blitzten sonderbar. »Diese Ausdrucksweise mag ich nicht, Mr. Nichols. Sie impliziert, daß das Universum irgendwie bewußt entworfen wurde, daß es einen Autor des großen Drehbuchs gibt. Das glaube ich nicht. Es ist nicht nötig, eine solche Komplikation einzuführen. Das Drehbuch schreibt sich von Moment zu Moment selbst, und es beinhaltete für mich, daß ich allein lebe. Es ist nicht notwendig zu sagen, daß ich allein leben sollte. Es reicht zu sagen, daß ich mich allein leben sah, und daher würde ich allein sein, und daher war ich allein, und daher bin ich allein.«

»Für einen Fall wie Ihren hat die Sprache nicht die richtige Grammatik«, sagte ich.

»Aber Sie können mir folgen?«

»Ich glaube. Könnte man sagen, ›Zukunft‹ und ›Gegenwart‹ sind bloß verschiedene Namen für dieselben Ereignisse, sofern sie von verschiedenen Blickpunkten aus gesehen werden?«

»Keine schlechte Annäherung«, sagte Carvajal. »Ich neige eher zu der Formulierung, daß alle Ereignisse gleichzeitig sind, und was sich bewegt, ist unsere Wahrnehmung der Ereignisse, der bewegliche Punkt des Bewußtseins, nicht die Ereignisse selber.«

»Und manchmal ist es jemandem gegeben, Ereignisse zur gleichen Zeit von verschiedenen Blickpunkten aus zu sehen, ja?«

»Ich habe viele Theorien«, sagte er vage. »Irgendeine davon trifft vielleicht zu. Entscheidend ist die Vision selbst, nicht die Erklärung. Und die Vision habe ich.«

»Sie hätten damit Millionen machen können«, sagte ich und machte eine Geste, die das schäbige Apartment meinte.

»Habe ich.«

»Nein, ich meine ein wirklich gigantisches Vermögen, Rockefeller plus Getty plus Croesus, ein Geldreich von einem Ausmaß, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Macht. Gipfel des Luxus. Vergnügungen. Frauen, Kontrolle über ganze Kontinente.«

»Das stand nicht im Drehbuch«, sagte Carvajal.

»Und Sie akzeptierten das Drehbuch.«

»Das Drehbuch läßt nichts anderes zu, als daß man es akzeptiert. Ich dachte, den Punkt hätten Sie verstanden.«

»Sie haben also Geld gemacht, viel Geld, aber nichts im Vergleich mit dem, das sie hätten machen können, und es hat Ihnen nichts bedeutet? Sie haben es sich einfach aufhäufen lassen wie fallende Herbstblätter?«

»Ich brauchte es nicht. Meine Bedürfnisse sind gering, und mein Geschmack ist schlicht. Ich habe es aufgehäuft, weil ich gesehen habe, daß ich an der Börse spekulierte und reich wurde. Wenn ich sehe, daß ich etwas tue, dann tue ich es.«

»Immer laut Drehbuch. Keine Fragen nach dem Warum.«

»Keine Fragen.«

»Millionen Dollar. Was haben Sie damit gemacht?«

»Ich habe es so benützt, wie ich es gesehen habe. Einen Teil habe ich weggegeben, an die Wohlfahrt, an Universitäten, an Politiker.«

»Nach Ihren eigenen Neigungen oder nach dem Muster, dessen Entfaltung Sie gesehen haben?«

»Ich habe keine Neigungen«, sagte er ruhig.

»Und den Rest des Geldes?«

»Habe ich behalten. Auf Bankkonten. Was hätte ich damit tun sollen? Es war mir nie wichtig. Wie Sie sagen, bedeutungslos. Eine Million, fünf Millionen, zehn Millionen — nur Worte.« Ein merkwürdiger Ton von Nachdenklichkeit schlich sich in seine Stimme. »Was hat schon Bedeutung? Was bedeutet Bedeutung? Wir folgen nur dem Drehbuch, Mr. Nichols. Hätten Sie gern noch ein Glas Wasser?«

»Bitte«, sagte ich, und der Millionär füllte mein Glas.

In meinem Geist tobte es. Ich hatte Antworten haben wollen und hatte sie bekommen, aber jede hatte einen Schwarm neuer Fragen aufgeworfen. Offensichtlich war er bereit, sie zu beantworten, aber einzig aus dem Grund, daß er sie in seiner Vision von diesem Tag schon beantwortet hatte. Während ich mit Carvajal redete, rutschte ich zwischen die grammatischen Zeiten der Vergangenheit und Zukunft, verirrt in einem grammatischen Labyrinth durcheinandergeschüttelter Zeiten und Sequenzen. Und er war vollkommen ruhig, saß fast reglos, seine Stimme war dünn, manchmal fast unhörbar, und sein Gesicht war ausdruckslos — nur eigenartig zerstört sah er aus. Zerstört, ja. Er hätte ein Idiot sein können oder vielleicht ein Roboter: der ein starres, vorherbestimmtes, vollprogrammiertes Leben lebte, niemals nach den Gründen für seine Handlungen fragte, einfach nur von Tag zu Tag weitermachte, eine Marionette, die an den Schnüren ihrer eigenen unvermeidbaren Zukunft hing, in einer deterministischen existentiellen Passivität dahintrieb, die ich fremd und bestürzend fand. Ich ertappte mich dabei, wie ich ihn einen Moment lang bemitleidete. Dann fragte ich mich, ob mein Mitgefühl nicht vielleicht fehl am Platz war. Ich spürte die Versuchung jener existentiellen Passivität, eine machtvolle Lockung. Wie tröstlich es sein könnte, dachte ich, in einer Welt zu leben, in der es keine Ungewißheit gibt!

Plötzlich sagte er: »Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen. Ich bin lange Gespräche nicht gewöhnt und fürchte, dieses hat mich etwas erschöpft.«

»Das tut mir leid. Ich hatte nicht beabsichtigt, so lange zu Bleiben.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Alles was heute geschehen ist, kam so, wie ich es gesehen habe. Also ist alles in Ordnung.«

»Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie sich entschlossen haben, so offen über sich selbst zu sprechen«, sagte ich.

»Entschlossen?« sagte er lachend. »Schon wieder entschlossen?«

»Das Wort kommt in Ihrem Umgangswortschatz gar nicht mehr vor?«

»Nein. Und ich weiß, daß es auch bald aus Ihrem ausgemerzt sein wird.« Mit einer Geste des Entlassens ging er zur Tür. »Wir werden uns bald wieder unterhalten.«

»Darüber würde ich mich freuen.«

»Ich bedaure, daß ich Ihnen nicht so helfen konnte, wie Sie sich das gewünscht haben. Ihre Frage nach der Laufbahn Paul Quinns — es tut mir leid. Die Antwort liegt jenseits meiner Grenzen, und ich kann Ihnen keine Informationen geben. Ich nehme nur das wahr, was ich wahrnehmen werde, verstehen Sie? Ich nehme nur meine eigenen zukünftigen Wahrnehmungen wahr, so als sähe ich die Zukunft durch ein Periskop, und mein Periskop zeigte mir nichts von den Wahlen des nächsten Jahres. Viele von den Ereignissen, die der Wahl vorausgehen, ja. Das Ergebnis selbst, nein. Es tut mir leid.«

Für einen Augenblick ergriff er meine Hand. Ich fühlte einen Strom zwischen uns fließen, eine klar zu erkennende, fast greifbare Verbindung. Ich spürte eine große Anstrengung in ihm, nicht bloß die Anstrengung des Gesprächs, sondern eine tiefere, einen Kampf, jenen Kontakt zwischen uns aufrechtzuerhalten und zu erweitern, mich auf einer verborgenen Daseinsebene zu erreichen. Das Gefühl beunruhigte mich. Es dauerte nur einen Augenblick; dann riß es, und ich fiel mit einem wahrnehmbaren Schnitt des Getrenntwerdens ins Alleinsein zurück, und er lächelte, machte eine höfliche kleine Verbeugung, wünschte mir einen sicheren Heimweg, ließ mich ins dunkle, dumpfige Treppenhaus hinaus.

Erst als ich ein paar Minuten später in meinen Wagen stieg, fügten sich alle Stücke zusammen, erst da begriff ich, was Carvajal mir gesagt hatte, als wir an der Tür standen. Erst da verstand ich die Natur jener endgültigen Grenze, die um seine Vision lag, die ihn zu der passiven Marionette gemacht hatte, die er war, und all seinen Handlungen ihre Bedeutung geraubt hatte. Carvajal hatte den Augenblick seines eigenen Todes gesehen. Deswegen konnte er mir nicht sagen, wer der nächste Präsident sein würde, ja, aber die Auswirkungen jenes Wissens lagen noch tiefer. Es erklärte, warum er in dieser eigenartig fraglosen, gleichgültigen Art durchs Leben trieb. Jahrzehntelang mußte Carvajal mit dem Wissen gelebt haben, wie, wo und wann er sterben würde, einem Wissen, das absolut und unbezweifelbar war und das seinen Willen in einer Weise gelähmt hatte, die für gewöhnliche Menschen schwer zu begreifen war. Das war meine intuitive Deutung seines Zustands; und ich vertraue meinen Intuitionen.

Der Zeitpunkt seines Endes war weniger als siebzehn Monate entfernt; und ziellos trieb er darauf zu, hatte es akzeptiert, spielte seine Rolle laut Drehbuch, es kümmerte ihn nicht, es kümmerte ihn gar nicht.

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