Roun und seine Männer stammten aus einem Dorf, das eine halbe Stunde scharfen Trab östlich des Sturzes lag. Er und zwei seiner Begleiter waren zusammen mit Skar in die Sättel gestiegen und losgeritten, aber der größte Teil des Trupps war am Wasserfall zurückgeblieben - vermutlich, um nach dem Buch zu suchen, von dem Marna gesprochen hatte. Skar hatte sich gehütet danach zu fragen.
Er hatte überhaupt während des gesamten Rittes zurück ins Dorf sehr wenig gesprochen, dafür jedoch umso genauer zugehört und sich umgesehen. Die Landschaft hier war karg, hatte aber ihren eignen, schroffen Reiz und die zuerst spärliche und dann immer üppiger werdende Vegetation sah kräftig und gesund aus, so als wäre die Versorgung mit Wasser hier überhaupt kein Problem. Skar war sich nicht ganz sicher, ob er schon jemals hier gewesen war. Doch wenn, dann hatte sich die Gegend dramatisch verändert: Kleine Seen hatten sich in Senken gebildet, die merkwürdig frisch aussahen, und als sie einen schmalen Pfad zwischen ein paar zwergenhaften Kalypso-Bäumen hinabritten, erkannte er nicht weit entfernt zu seiner Rechten einen gigantischen Einbruch in der Landschaft, der aussah, als hätte ein unglaublich großer Riese zu fest aufgetreten.
Als sie aus dem Wald herauskamen und die Hand voll Hütten und einfacher Gebäude vor ihnen lag, wusste er bereits, dass Rouns Miliz tatsächlich die gesamte männliche Bevölkerung des Dorfes darstellte und dass sie in größerer Sorge gewesen waren, als sie zugeben mochten. Sie waren Marnas ausdrücklichem Befehl gefolgt, aber nun waren sie erleichtert ihr Dorf unversehrt und ihre Familien lebendig wieder zu sehen. Offensichtlich war das in dieser Gegend nicht unbedingt selbstverständlich.
Ihre Annäherung blieb nicht unbemerkt. Schon während sie den flachen Hang hinabgaloppierten, der den Waldrand von den ersten Häusern trennte, kamen ihnen einige Kinder entgegengelaufen, zu denen sich bald darauf auch noch etliche Erwachsene gesellten - Frauen, Alte, auch zwei oder drei Männer, die aber ausnahmslos verletzt oder krank zu sein schienen. Roun schien tatsächlich alle waffenfähigen Männer mitgenommen zu haben; eine ziemlich leichtsinnige Vorgehensweise, wie Skar fand.
Während Roun und seine beiden Männer absaßen und sein Pferd weiter am Zügel ins Dorf hineinführten - als Skar ebenfalls hatte absitzen wollen, hatte Roun so erschrocken den Kopf geschüttelt und dazu ein fast entsetztes Gesicht gemacht, dass er die Bewegung instinktiv nicht zu Ende geführt hatte -, musterte er den Ausdruck auf den Gesichtern der Dorfbewohner. Er entsprach im Großen und Ganzen dem, den er erwartet hatte: Neugier, Scheu, Bewunderung - vor allem bei den Kindern -, hier und da eine Spur von Abneigung und Neid, aber auch Furcht. Skar war all dies gewohnt, aber weder in dieser Ausprägung noch in dieser Verteilung der zum Teil widersprüchlichen Gefühle. Er war es gewohnt, dass die Menschen ihn fürchteten; nicht einmal so sehr ihn, sondern das, was er war.
Roun geleitete ihn zu einem Gebäude, das sich zusammen mit einem halben Dutzend anderer um einen halbkreisförmigen Platz im Zentrum des Dorfes gruppierte und vielleicht nicht das größte, aber eindeutig eines der besseren Häuser hier war - trotzdem war es eine ärmliche Hütte. Das roh errichtete Fachwerk war mit Stroh und Lehm verfüllt und das Dach mit Schindeln gedeckt, die mit sehr viel mehr gutem Willen als Können aus der Rinde eines Baumes herausgeschnitten worden waren. Als Skar absaß und das Haus betrat, kamen ihm eine junge Frau und zwei Kinder von kaum zehn Jahren entgegen.
»Deine Familie?«, fragte er.
Roun wartete, bis die Frau und die beiden Jungen außer Hörweite waren, ehe er nickte und seine einladende Geste wiederholte. »Meine Frau und meine beiden Söhne, ja. Aber sie werden Euch nicht zur Last fallen. Das Haus gehört Euch, solange Ihr unser Gast seid.«
»Und wenn ich mich entschließe zu bleiben?«
Roun ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei und öffnete die Läden vor den Fenstern, ehe er antwortete. »Dann würde es Euch gehören, wenn Ihr es wünscht, Hoher Herr. Doch es gibt bessere Häuser hier. Wir könnten eine angemessene Unterkunft für Euch errichten.« Er drehte sich herum, lehnte sich gegen die Wand neben eines der beiden Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber Ihr werdet nicht hier bleiben, nicht wahr?«
Skar schloss die Tür und sah sich um - obwohl es wahrlich nicht viel zu sehen gab. Das Innere des Hauses entsprach vollkommen seinem äußeren Erscheinungsbild: Es war ärmlich. Der Boden bestand aus festgestampftem Lehm, in dem sich hier und da tiefe, zum Teil noch frische Kratzspuren zeigten; vermutlich von den Kindern im Spiel hinterlassen. Die Möbel mussten von dem gleichen wenig talentierten Handwerker angefertigt worden sein wie das Dach, und auch sie waren sehr armselig. Es gab einen Tisch, vier Stühle, eine offene Feuerstelle und ein Regal, das war alles. In der gegenüberliegenden Wand war eine niedrige, äußerst massive Tür, die ein wenig schief in den Angeln hing.
»Bitte urteilt nicht vorschnell, Hoher Herr«, sagte Roun. Skars Blick war ihm nicht entgangen und ganz offensichtlich war ihm der Eindruck peinlich, den seine Behausung hinterlassen musste. »Wir sind noch nicht lange hier.«
»Und ihr habt auch nicht vor lange zu bleiben«, vermutete Skar. Er wusste, wie hart und vor allem lang die Winter in diesem Teil des Landes waren. Dieses Haus machte nicht den Eindruck, als ob es einen solchen Winter überstehen konnte. So wenig übrigens wie der Rest des Ortes. Er hob die Hand, als Roun antworten wollte, und fügte in verändertem Tonfall hinzu: »Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich tue. Im Moment bin ich einfach nur müde - und ein wenig hungrig. Könntest du mir etwas zu essen besorgen?«
»Selbstverständlich, Hoher Herr.«
»Und hör auf, mich ständig Hoher Herr zu nennen«, fügte Skar hinzu. »Ich habe einen Namen.«
Roun senkte den Blick und begann wie ein gescholtenes Kind mit den Füßen zu scharren. »Natürlich, Hoher ... Ska. Verzeiht. Es ist nur... hier nicht üblich, einen Satai mit Namen anzusprechen.«
»Da, wo ich herkomme, schon«, murmelte Skar. Er machte zwei Schritte auf den Tisch zu, blieb dann wieder stehen und maß die Schemel davor mit einem so eindeutigen Blick, dass Roun hastig auf die Tür deutete und sagte: »Die Betten sind nebenan. Sie sind nicht luxuriös, aber bequemer als der Boden.«
Wenn Roun sie wie den Rest der Möblierung selbst gebaut hatte, dann bezweifelte Skar das. Er ersparte sich jedoch eine entsprechende Bemerkung, sondern ließ sich mit einem demonstrativ müden Seufzen am Tisch nieder und sah an seinem Gastgeber vorbei aus dem Fenster. Roun verstand und beeilte sich das Haus zu verlassen und die Tür hinter sich zuzuziehen. Trotzdem konnte Skar erkennen, dass sich in den wenigen Augenblicken seit ihrer Ankunft ein regelrechter Aufruhr vor dem Haus gebildet hatte. Der Anblick eines Satai gehörte hier offensichtlich nicht zum Tagesgeschehen.
Skar war froh einen Moment allein zu sein. Er hatte nicht einmal gelogen, als er behauptet hatte zu müde und zu hungrig zu sein, um eine Entscheidung zu treffen. Er hatte Antworten haben wollen, aber gefunden hatte er nur neue Fragen.
Was ihn am meisten verwirrte, war seine eigene Reaktion. Er hatte nicht reagiert, wie er erwartet hatte. Er hatte überhaupt nicht so gehandelt, wie er es von sich gewohnt war. Statt das Einzige zu tun, was überhaupt Sinn ergeben hätte - nämlich abzuwarten und zu beobachten, um so viele Informationen wie nur möglich zu sammeln -, hatte er sich in etwas eingemischt, von dem er weder wusste, worum es ging, noch, welche Rolle die daran Beteiligten spielten. Er hatte sein Leben riskiert, um einen Quorrl zu retten! Und er hatte nicht einmal darüber nachgedacht, sondern es einfach getan.
Verrückt.
Die Tür ging auf, aber es war nicht Roun, der zurückkam, um das verlangte Essen zu bringen. Stattdessen erkannte Skar nur eine schmale, sehr kleine Silhouette im grellen Gegenlicht, die zu einem vielleicht vierzehn-, oder fünfzehnjährigen Mädchen wurde, als sie das Haus betrat. Es hatte langes, glattes Haar und ein schmales Gesicht, das noch ein paar Jahre davon entfernt war, bald aber zu dem einer sehr schönen Frau werden würde. Selbst ein Blinder hätte erkannt, dass es Rouns Tochter war.
»Hallo«, sagte Skar.
Das Mädchen antwortete nicht, sondern sah ihn nur aus Augen an, die die Furcht dunkler erscheinen ließ, als sie waren. Noch größer allerdings war die Neugier, die darin glitzerte.
»Komm ruhig rein«, sagte Skar. »Ich fresse keine kleinen Mädchen. Jedenfalls heute nicht. Wie ist dein Name?«
»Esanna«, antwortete das Mädchen. »Ich bin ... Roun ist mein Vater.«
»Ich weiß.« Skar machte eine Geste zu Esanna, die Tür zu schließen und sich zu ihm an den Tisch zu setzen. Während sie gehorchte, warf er einen Blick an ihr vorbei nach draußen. Der Platz war wieder fast leer, obwohl erst einige Augenblicke vergangen waren. Vermutlich hatte Roun dafür gesorgt, dass sich die Menge zerstreute. Aber Skar konnte die Spannung regelrecht fühlen, die sich über dem kleinen Ort ausgebreitet hatte.
»Ich ... möchte Euch nicht stören, Herr«, begann Esanna zögernd. Ihre Stimme schwankte ganz leicht. Sie hatte Angst vor ihrem eigenen Mut und bedauerte vermutlich längst überhaupt hergekommen zu sein. »Ich wollte nur ...« Sie brach ab, streckte die Hand aus und zog den Arm wieder zurück, kurz bevor sie ihn berührt hätte.
»Darf... darf ich Euren Mantel berühren, Hoher Herr?«
»Wenn du aufhörst mich Hoher Herr zu nennen, ja.« Skar lächelte. »Mein Name ist Ska.«
»Skar?« Esannas Augen wurden groß. »So wie der Heilige Skar?«
»An mir ist nur sehr wenig Heiliges, fürchte ich«, seufzte Skar. »Mein Name ist Ska, nicht Skar. Mein Vater hat wohl nicht geahnt, was er mir antat, als er mir diesen Namen gab.«
»Es ist ein sehr berühmter Name«, antwortete Esanna. »Nicht dort, wo ich herkomme. Er hat mir bisher mehr Ärger als Vorteile eingebracht.« Wen glaubte er mit dieser Geschichte zu überzeugen? Sie klang ja sogar in seinen eigenen Ohren lächerlich. Nicht einmal dieses Kind hätte sie ihm geglaubt, wäre es nicht von seinem Erscheinen und seinem Schwert so beeindruckt gewesen, dass es praktisch keinen klaren Gedanken fassen konnte.
Esanna streckte abermals die Hand aus und sah ihn fragend an. Als Skar nickte, führte sie ihre Bewegung zu Ende und strich scheu mit den Fingerspitzen über seinen Mantel. »Darf ich ... Euer Schwert berühren, Herr?«, fragte sie. »Gern«, antwortete Skar lächelnd. »Verrätst du mir auch, warum?«
»Es heißt, es bringt Glück, das Schwert eines Satai zu berühren«, sagte Esanna.
»Nicht jedem«, sagte Skar. »Glaub mir, Kind, nicht jedem.« Esannas Gesicht spiegelte einen Moment lang Verwirrung wieder, dann aber siegte ihre kindliche Neugier und sie zog die schmale Klinge aus schwarzem Sternenstahl aus ihrem Futteral an Skars Gürtel. Obwohl sie fast so groß wie er und trotz ihres schlanken Wuchses eigentlich kräftig war, musste sie beide Hände zu Hilfe nehmen und es fiel ihr sichtbar schwer, die Waffe nicht fallen zu lassen. Der Anblick amüsierte Skar, aber er führte ihm auch vor Augen, wie groß die Kluft zwischen ihnen war. Sternenstahl war nicht nur unzerstörbar, sondern auch schwerer als jedes andere Metall, das Menschen jemals geschaffen hatten.
»Sei vorsichtig«, sagte Skar. »Es ist sehr scharf.«
»Und sehr schwer.« Esanna runzelte die Stirn. »Es ist kein Blut daran. Mein Vater hat erzählt, dass Ihr einen Quorrl damit erschlagen habt.«
»Nichts haftet an diesem Metall«, antwortete Skar. »Und es rostet auch nicht.«
»Das ist Sternenstahl, nicht wahr?« Esannas Stimme war der Stolz auf ihr eigenes Wissen deutlich anzuhören. »Manche sagen, dass die Götter selbst es von den Sternen geschickt haben.«
»Ja, das sagt man.« Skar nahm dem Mädchen das Tschekal aus der Hand und schob es wieder in seine Scheide zurück. »Und andere wieder behaupten, dass unsere Vorfahren selbst es von den Sternen mitgebracht haben.«
»Unsere Vorfahren?« Esanna blinzelte. »Wie können sie zu den Sternen gereist sein? Es sind nur Lichter am Himmel. Und außerdem wohnen die Götter dort oben.«
»Vielleicht ist dieser Unterschied gar nicht so groß, wie du meinst.« Skar stand auf und ging ein paar Schritte, um seinen Kreislauf in Schwung zu bringen. Während er mit dem Mädchen sprach, hatte sich eine Schwere in seinen Gliedern ausgebreitet, die ihm missfiel. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und durfte müde sein, aber nicht so müde. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
»Dieses Schwert.« Esanna deutete auf den ziselierten Griff des Tschekal. »Werdet Ihr es benutzen?«
»Nur wenn ich muss.«
Esanna schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Um uns zu verteidigen.«
»Verteidigen?« Skar blieb stehen. »Gegen wen?«
»Gegen die Quorrl. Mein Vater hat gesagt, dass Ihr hier seid, um dem Ruf zu folgen. Aber er will Euch trotzdem bitten für eine Weile hier bei uns zu bleiben.«
»Dein Vater hat dir vor allem gesagt, dass du nicht hierher kommen und unseren hohen Gast belästigen sollst.« Roun schob die Tür mit dem Fuß hinter sich zu, bedachte seine Tochter mit einem strafenden Blick und trug das Tablett zum Tisch, das er mit hereingebracht hatte. Es enthielt eine Schale mit Fleisch, mehrere Scheiben dünn geschnittenen schwarzen Brotes und einen Becher Wein. Ohne ihn probieren zu müssen, wusste Skar, dass er dünn und viel zu süß war.
»Bitte verzeiht meiner Tochter, Herr. Sie hat...«
»... mich bestens unterhalten«, sagte Skar, während er Esanna verschwörerisch zublinzelte. »Ich sollte dir böse sein, dass du sie mir vorenthalten hast, Roun. Sie ist ein sehr aufgewecktes Kind.«
Roun lächelte nervös und deutete auf das Tablett. »Euer Essen, Herr.« Er schien geradezu krampfhaft darum bemüht zu sein, das Thema zu wechseln. Der Grund dafür war nicht besonders schwer zu erraten.
Skar nahm wieder Platz, schlug seinen Mantel zurück und begann ohne sonderlichen Appetit zu essen. Er war hungrig, aber er musste sich trotzdem beinahe zwingen jeden einzelnen Bissen herunterzuwürgen. In seinem Mund war noch immer der gleiche schlechte Geschmack, mit dem er am Morgen aufgewacht war.
»Es schmeckt Euch nicht, Herr«, sagte Roun, nachdem er ihm eine Weile schweigend zugesehen hatte.
»Das Essen ist gut«, erwiderte Skar. »Es liegt nicht daran, sondern an mir.« Er schob das Tablett davon, obwohl er kaum die Hälfte des Fleisches und gerade eine Scheibe Brot verzehrt hatte; wenige Bissen, die seinen Hunger mehr geweckt als gestillt hatten. Trotzdem spürte er, dass er nichts mehr herunterbekommen würde. Er wiederholte noch einmal in Gedanken, was ihm schon längst klar war: Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Andererseits: Für einen Mann, der eigentlich tot sein sollte, befand er sich in einer erstaunlich guten Verfassung.
»Seid Ihr krank?«, erkundigte sich Roun besorgt.
»Wahrscheinlich nur müde«, antwortete Skar. »Ich war lange unterwegs. Alles, was ich brauche, ist ein wenig Ruhe. Selbst ein Satai wird dann und wann einmal müde.«
»Ihr könnt hier bleiben, so lange Ihr wollt«, sagte Roun. »Es ist uns eine Ehre, Euch Unterkunft zu gewähren.«
»Und während ich mich ausruhe, könnt ihr weiter versu- eben mich zum Bleiben zu überreden.« Skar lächelte matt. »Erzähl mir etwas über euch, Roun. Ihr seid noch nicht lange hier, nicht wahr?«
»Wir sind Digger«, antwortete Roun. »Man findet viel Kaol in der Nähe des Sturzes.«
Skar hatte weder eine Ahnung, was ein Digger war, noch Kaol. Aber er hütete sich eine entsprechende Frage zu stellen. Er benahm sich ohnehin schon auffälliger, als gut war. Stattdessen sagte er: »Und eine Menge Quorrl.«
Roun fuhr ganz leicht zusammen und unterdrückte im letzten Moment ein nervöses Lächeln.
»Lassen wir es gut sein«, sagte Skar. »Ich bin müde. Vielleicht setzen wir das Gespräch fort, wenn ich mich ausgeruht habe.«
»Selbstverständlich, Herr«, sagte Roun hastig. »Verzeiht. Ich wollte Euch nicht bedrängen.«
Skar verdrehte innerlich die Augen, aber er widersprach nicht mehr. Dafür war er viel zu müde. Er hatte mit einem Mal Mühe Rouns Worten zu folgen, ja, selbst die Augen offen zu halten. Um nicht auf der Stelle einzuschlafen, stand er auf und machte ein paar Schritte durch den Raum, aber es half nicht viel. Seine Glieder fühlten sich an wie mit Blei gefüllt.
»Ist... alles in Ordnung mit Euch, Herr?«, fragte Roun. Skar sah ihn nicht an, aber allein der Ton, in dem er die Frage stellte, machte deutlich, dass mit ihm nicht alles in Ordnung war.
Er schüttelte den Kopf, doch schon diese kleine Bewegung war zu viel. Ihm wurde schwindelig. Er wankte, machte einen Schritt und streckte hastig die Hand aus, um sich an der Tischkante fest zu halten; hätte er es nicht getan, wäre er vermutlich gestürzt. Alles drehte sich um ihn.
»Herr?« Rouns Stimme klang jetzt nicht mehr besorgt. Sie hörte sich panisch an.
»Es ist... wirklich alles in Ordnung«, murmelte Skar.
Jedenfalls vermutete er, dass er es tat; ganz sicher war er nicht. Das Zimmer drehte sich noch immer um ihn herum und, wie es ihm vorkam, sogar noch schneller. »Ich bin einfach nur ... müde. Sehr müde.«
So müde, dass er nicht einmal mehr registrierte, wie Roun ihn am Arm ergriff und ins Nebenzimmer führte.
Skar träumte wieder und diesmal war es ein gestaltloser, düsterer Traum; keine Bilder aus seiner Vergangenheit, sondern ein dunkles Chaos, durch das er trieb und in dem er sich ebenso zu verlieren drohte, wie es ihn aufzusaugen schien; wenn dieser Traum eine Botschaft enthielt, dann blieb sie ihm verborgen.
Er erwachte in Schweiß gebadet, mit hämmerndem Puls und dem schon gewohnten, üblen Geschmack auf der Zunge. Es war schlimmer geworden. Skar schluckte, um den Geschmack loszuwerden, erreichte damit aber nur das Gegenteil. Das widerliche Gefühl überstieg die Grenzen zu echter körperlicher Übelkeit und für einen Moment musste er all seine Willenskraft aufbieten, um sich nicht zu übergeben.
Erst danach öffnete er die Augen.
Er befand sich in einem kleineren Raum mit niedriger Decke, der Roun und seiner Familie offenbar zugleich als Schlaf- und Vorratskammer diente: Es gab einfache Schlafplätze direkt auf dem nackten Boden sowie ein bis unter die Decke reichendes Regal, das einfach zusammengezimmert war - Skar nahm mit einem flüchtigen Lächeln zur Kenntnis, dass man Rouns Handwerkskunst tatsächlich auf den ersten Blick erkannte - und bis zur Decke voll gestopft: Säcke, Bündel, Kisten, Flaschen und Töpfe, Bündel mit Kleidung und einfaches Werkzeug. Offenbar lagerte in diesem Regal die gesamte Habe Rouns und seiner Familie.
Skar richtete sich behutsam weiter auf. Roun hatte gesagt, dass sie erst seit einigen Monaten hier waren, was den unfertigen Zustand seines Hauses erklärte. Anscheinend hatten sie allerdings auch nicht vor, allzu lange hier zu bleiben.
Er streifte die Decke ab, stellte ohne große Überraschung fest, dass man ihn ausgezogen hatte, und sah sich nach seinen Kleidern um. Sie lagen, ordentlich zusammengelegt, auf der anderen Seite des »Bettes« auf dem Boden. Als Skar sich vorbeugte und die Hand danach ausstreckte, fiel ihm eine Anzahl blutunterlaufener dunkler Stellen auf seinem Unterarm auf, die gestern noch nicht da gewesen waren. Überrascht zog er den Arm zurück, ballte die Hand zur Faust und bewegte prüfend den Arm und das Handgelenk. Seine Bewegungsfreiheit war nicht eingeschränkt und die dunklen Flecken auf seiner Haut schmerzten auch nicht, fühlten sich aber sonderbar taub an, als er mit der Hand darüber tastete.
Skar stand vollends auf, trat ans Fenster und unterzog seinen Körper einer genauen Inspektion. Er entdeckte weitere Flecken auf seinen Armen und Beinen und einige wenige auch auf seiner Brust. Möglicherweise war er krank. Das würde auch seine ungewohnte Müdigkeit und den permanent schlechten Geschmack in seinem Mund erklären. Skar war besorgt; mehr vielleicht, als er sich selbst gegenüber zugeben wollte. Andererseits konnte er momentan an seinem Zustand ohnehin nichts ändern; und wenn es eine Krankheit war, dann schien sie zumindest im Moment nicht lebensbedrohlich zu sein. Er würde mit Roun darüber reden. Sobald er ihm ungefähr fünftausend andere Fragen gestellt hatte.
Er hob seine Kleider auf, zog sich in aller Hast an und machte dabei eine weitere verwirrende Entdeckung: Der Boden bestand hier genau wie in dem Raum, in dem er gestern gewesen war, aus festgestampftem bloßem Erdreich, war aber an zahlreichen Stellen aufgebrochen und zerwühlt; als hätte jemand noch vor kurzem darin gegraben. Roun hatte ihm zwar erzählt, dass er und seine Leute Digger waren, aber Skar konnte sich kaum vorstellen, dass er in seinem eigenen Schlafzimmer grub. Geschweige denn, wonach.
Er ließ sich in die Hocke sinken, nahm ein wenig Erde auf und zerrieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie fühlte sich normal an, verströmte jedoch einen einzigartigen, strengen Geruch, der so etwas wie das Echo einer Erinnerung in ihm wachrief. Er kannte diesen Geruch, konnte sich aber im Moment nicht erinnern, woher.
Als er sich wieder aufrichtete, ging die Tür auf und Roun kam herein. Er trug noch dieselben Kleider wie gestern und der Müdigkeit auf seinem Gesicht nach zu schließen, hatte er sie wohl aus dem einfachen Grund nicht gewechselt, weil er in der vergangenen Nacht nicht geschlafen hatte.
»Guten Morgen, Herr ... Ska«, begann er. »Bitte verzeiht, aber ich habe Geräusche gehört und ... und wollte nachsehen, ob Ihr schon auf seid.«
»Wie du siehst.« Skar schloss die silberne Spange, die seinen Mantel über den Schultern hielt, und lächelte Roun zu. Er fragte sich, ob der Ausdruck in Rouns Augen nur Müdigkeit war oder vielleicht auch Sorge. Und wenn ja, weshalb. »Wie ... fühlt Ihr Euch heute, Ska?« Roun war besorgt und er hatte sich nicht annähernd gut genug in der Gewalt, um sich diese Sorge nicht anmerken zu lassen. Sein Blick wich dem Skars aus, tastete nervös durch den Raum und blieb einen Moment lang an einer Stelle unmittelbar neben ihm haften. Skar folgte ihm und stellte fest, dass Roun den zerwühlten Fleck im Boden anstarrte. Er wirkte irritiert. So als sähe er ihn zum ersten Mal.
»Ich bin nicht ganz sicher«, antwortete Skar. »Der Schlaf hat mir gut getan, aber ...«
Er zuckte mit den Schultern, überlegte einen kurzen Moment und kam dann zu dem Schluss, Roun vorerst nichts von den sonderbaren Flecken auf seiner Haut zu erzählen. Er hatte das sichere Gefühl, dass sein Gastgeber im Augenblick ganz andere Sorgen hatte.
»Dann ... können wir miteinander reden?« Roun riss seinen Blick fast gewaltsam von der Stelle neben Skars Füßen los und sah ihm mit einiger Mühe direkt in die Augen.
»Genau darum wollte ich dich auch gerade bitten.« Was ging hier vor? Roun hatte Angst. Aber wovor?
Sie verließen den Raum. Das Haus war leer, aber Roun - vermutlich wohl eher seine Frau - hatte ein Frühstück vorbereitet und allein der Anblick ließ Skar spüren, wie hungrig er war. Ohne ein weiteres Wort ließ er sich am Tisch nieder und begann mit einem Appetit zu essen, der nicht nur ihn selbst überraschte, sondern auch Roun zu einem fragenden Stirnrunzeln veranlasste. Er stellte jedoch keine entsprechende Frage, sondern geduldete sich, bis Skar seine Mahlzeit beendet hatte.
»Wie ich sehe, hat es Euch geschmeckt.«
»Hervorragend«, sagte Skar, was der Wahrheit entsprach. »Mein Kompliment an deine Frau. Sie ist eine hervorragende Köchin ... ich muss doch kein schlechtes Gewissen haben?«
»Wir haben genügend zu Essen«, antwortete Roun. »Und die Gastfreundschaft ist unser oberstes Gebot.«
»Für das ihr aber die eine oder andere Gegenleistung erwartet«, vermutete Skar. Er lächelte, um seinen Worten ein wenig von ihrer Schärfe zu nehmen, hielt Roun dabei aber scharf im Auge.
»Gastfreundschaft existiert um ihrer selbst willen«, erwiderte Roun in einem Ton schlecht gespielter Empörung. Skar seufzte. »Lass uns nicht länger um den heißen Brei reden«, sagte er. »Was genau wollt ihr von mir?«
»Ihr seid ein Satai, Herr«, antwortete Roun, fast als wäre dies Erklärung genug. Vielleicht war es das, in seinen Augen.
»Ich weiß«, sagte Skar. »Man kann es auch anders ausdrücken: Ich bin ein Krieger. Habt ihr vor einen Krieg zu führen?«
Er sah an Rouns Reaktion, dass er den falschen Ton gewählt hatte. Die Rolle des Satai schien sich nachhaltig verändert zu haben. In der Welt, die er kannte, waren sie ein Symbol für Gerechtigkeit und Ordnung. Man hatte ihnen Respekt gezollt. Doch mittlerweile schienen sie eher Angst und Schrecken zu verbreiten.
»Wir brauchen jemanden, der uns beschützt, Herr«, antwortete Roun. Etwas leiser, aber in eindeutig hastigem Tonfall, fügte er hinzu: »Wir können bezahlen. Gut bezahlen.«
»Ich brauche kein Geld«, sagte Skar.
Roun machte ein eindeutig enttäuschtes Gesicht. »Ihr werdet dem Ruf folgen, um mit Marna und seiner Streitmacht in die Schlacht gegen die Quorrl zu ziehen.«
»Das habe ich noch nicht entschieden«, antwortete Skar. Was zum Teufel hatte dieser Marna vor? Einen Vernichtungsfeldzug gegen die Quorrl? »Erzähl mir etwas über euch. Ihr braucht Schutz. Vor wem?«
Schon wieder die falsche Frage. Diesmal wirkte Rouns Blick nicht verwirrt. Er sah eindeutig erschrocken aus. »Vor ... den Quorrl, Herr«, sagte er nach einer Weile. Er sah Skar an, als zweifele er an seinem Verstand und vermutlich tat er es auch. Zumindest begann er sich zu fragen, was für einen sonderbaren Satai er da eigentlich in seinem Haus beherbergte.
»Natürlich«, sagte Skar. »Die Quorrl sind überall ein Problem. Ich dachte nur, dass es hier nicht so schlimm wäre. Immerhin bin ich nicht der einzige Satai in diesem Teil des Landes.«
Für einen Moment änderte sich der Ausdruck auf Rouns Gesicht auf eine Weise, die Skar nicht zu deuten vermochte. Dann lächelte er traurig. »Marna«, sagte er. »Ihr kommt wirklich von sehr weit her, scheint mir. Ich verstehe.«
»Wie schön«, sagte Skar. »Aber ich nicht.« Er machte eine entsprechende Geste, als Roun antworten wollte. »Wie du selbst schon gesagt hast: Ich komme von weit her und weiß wenig über das, was in diesem Teil der Welt vorgeht.«
»Das ... das mag sein«, sagte Roun hastig, für Skars Geschmack sogar ein bisschen zu hastig. »Es ist nur so ... uns bleibt nicht mehr allzu viel Zeit. Die Quorrl... sie rotten sich zusammen.«
»Was heißt das: Sie rotten sich zusammen?«, fragte Skar alarmiert. Er dachte an den halb toten - oder besser gesagt: fast toten - Quorrl, den er dort draußen irgendwo in der steinigen Wüste hatte liegen lassen. Es war merkwürdig, dass ihm dieser Gedanke fast entglitten war. Vielleicht hatte das etwas mit seiner Krankheit zu tun, mit dieser Veränderung, die sich über seinen ganzen Körper ausgebreitet hatte wie die ersten Anzeichen eines nahenden Zusammenbruchs, den Vorboten von Vernichtung und Tod. »Hast du Angst, dass sich die Quorrl dafür rächen wollen, weil ihr ihre Freunde niedergemacht habt?«
»Nein«, sagte Roun, wobei ihm anzusehen war, dass ihm das Wort Freunde in Zusammenhang mit Quorrl mehr als nur befremdete. »Wie sollen sie sich rächen wollen, wenn sie nicht wissen, wer ihre Artgenossen zur Strecke gebracht hat?«
Skar nickte mühsam. Den Quorrl am Leben gelassen zu haben, konnte sich als kapitaler Fehler erweisen, aber es war nichts, was sich jetzt noch ändern ließ und auch nichts, was er hätte ändern wollen, selbst wenn er es gekonnt hätte. »Wie weit ist die nächste Quorrl-Siedlung entfernt?«
»Ich weiß nicht genau, wo diese Tiere hausen«, sagte Roun achselzuckend. »Ich weiß nur, dass wir sie nicht gewähren lassen können. Das Ungeziefer muss ausgerottet werden, bevor es uns zur Gefahr wird.«
»Ungeziefer!« Skar spuckte das Wort geradezu aus. »Das ist eine etwas ungewöhnliche Bezeichnung für eine machtvolle Kriegerkaste.«
Roun sah ihn an, als hätte er einen Idioten vor sich. »Es sind Tiere«, sagte er dann stockend. »Aber ich denke ... wir sollten das Gespräch zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen. Ich muss mich um die Vorbereitung der nächsten Erweckung kümmern.«
Skar verspürte einen raschen Anflug von Ärger in sich, hinderte Roun aber nicht daran, aus der Hütte zu stürmen, als wäre ihm eine ganze Hundertschaft Quorrl auf den Fersen. Offensichtlich hatte er den Anführer der Digger vollkommen aus dem Konzept gebracht. Das war kein Wunder. Roun glaubte miterlebt zu haben, mit welcher grausamen Eleganz der fremde Krieger zwei Quorrl getötet hatte - dass es ihm um Menschenwürde und das Leben eben eines dieser Quorrl gegangen war, konnte er ja nicht wissen - und musste nun miterleben, dass sich der Satai in seinen Augen vollkommen widernatürlich für die geschuppten Giganten einsetzte.
Aber das war jetzt nicht weiter wichtig. Es wurde Zeit, dass er wieder die Initiative ergriff. Er hatte gehofft, dass er von den Diggern mehr über sich erfahren könnte, nur um begreifen zu müssen, dass ihn nichts aber auch gar nichts mit diesen Leuten hier verband. Doch so, wie er jeden Gedanken an seinen eigenen schrecklichen Tod durch die Hand seines ehemals besten Freunds verdrängt hatte, hatte er versucht den wahren Grund seines Hierseins zu leugnen, und für eine Weile war ihm dies sogar gelungen; erstaunlich gut sogar. Zu behaupten, dass etwas mit ihm nicht stimmte, wäre eine maßlose Untertreibung gewesen. Er war ein lebender Toter, gelenkt von jemandem - etwas - das ihn vielleicht sogar dazu getrieben hatte, den Quorrl zu retten wider jede Vernunft und wider jede Vorsicht, die einem Krieger in einer vollkommen fremden Situation mehr als angeraten war. Wenn dieses Etwas glaubte ihn in der Hand zu haben, hatte es sich getäuscht. Vielleicht konnte es ihn mühelos töten, so wie er gedankenlos eine Fliege zerquetschen konnte. Vielleicht waren die dunklen Flecken auf seinen Armen und Beinen eine Warnung, die Schwäche, die ihn gestern fast niedergerungen hatte, nichts als Sendboten einer fremden Macht, gedacht ihn daran zu erinnern, dass ihn jederzeit der Strudel der Vernichtung mit hinabziehen konnte. Aber die Drohung zog nicht. Der Tod hatte schon Jahre vor seinem Ableben den Schrecken für ihn verloren, ja, war ihm sogar als milder Freund erschienen im Vergleich zu dem, was der böse Bruder aus ihm gemacht hatte, der Wächter, der sich in ihm eingenistet hatte und den er nicht anders losgeworden war als durch seinen eigenen Tod, durch diese Verzweiflungsaktion Dels, der ihn in einem wahnsinnigen Kampf mit vorbestimmtem Ende geradezu zerfleischt hatte.
Nur, damit er jetzt wieder erweckt wurde, um einer unbekannten Macht zu dienen? Das war geradezu lächerlich. Nein, seine Stärke war nicht die eines Satai, sie war die Stärke eines wieder erwachten Toten, der seine Vernichtung nicht fürchtete, keinen Schmerz und kein Leid - denn all das waren ihm treue Weggefährten gewesen und würden es weiterhin sein, wenn es sein musste. Und wenn er jetzt innerlich verfaulte? Wenn diese dunklen Stellen so etwas wie Leichenflecken waren und er am lebendigen Leib verrottete?
Er wischte den Gedanken mit einer ärgerlichen Handbewegung beiseite, öffnete die Tür und trat hinaus. Was er sah, gefiel ihm nicht: Dichte Nebelwolken hatten sich erstickend über die ärmlichen Häuser gelegt. Wie eine herabstürzende Wolke lag der Nebel auf dem Dorf, grau und wogend und von unheimlich flackerndem Leben erfüllt; selbst die Häuser auf der anderen Seite des Dorfplatzes waren nur als blasse Schemen erkennbar. Ein Schwall warmer, nach Feuchtigkeit und brennendem Holzfeuer riechender Luft schlug ihm entgegen und schien ihn ersticken zu wollen, ließ jeden Atemzug zur Qual werden.
Aber das war nicht alles, was ihn beunruhigte. Mochte er auch Tod und Verletzung nicht fürchten, so verfügte er doch über die Reflexe und Instinkte des geborenen Kriegers, der keinen Vorteil aus der Hand gibt, wenn er nicht muss, und der eine Gefahr erspürt, bevor sie greifbar wird. Und hier war Gefahr, hier lauerte Tod und Verderben. Mit gespannten Sinnen trat Skar einen weiteren Schritt vor und lauschte in das graue, verschlingende Nichts hinein.
Kein Zweifel: Das leise, kaum wahrnehmbare Geklirr, das nervöse Schnauben mehrerer Pferde, das fast unhörbare Geraune und Getrappel - im Schutz des Nebels braute sich etwas unheilvoll zusammen. Skar begriff, wie blind und hilflos die Menschen hier waren. Kein Krieger würde sinnlose Diskussionen mit Fremden führen, wenn er übermächtige Feinde in der Nähe weiß und sich selbst im Nebel gefangen sieht. Wenn er Roun und die Digger richtig einschätzte, würden sie es trotz der unheilvollen Witterung versäumen doppelte Wachen aufzustellen und kein Mensch würde hier auf die Idee kommen alles für einen Abwehrkampf vorzubereiten, Gräben zu ziehen, Barrikaden aufzubauen und Fallen zu errichten.
Hinter ihm war etwas. Leise Schritte, die kaum den Boden zu berühren schienen. Skar wirbelte herum, die Hand auf den Griff seines Tschekals, bereit im gleichen Augenblick die fürchterliche Waffe aus geschliffenem Sternenstahl zu ziehen.
»Habe ich dich erschreckt?«, fragte Esanna. Das Mädchen lächelte leicht, als mache ihr die Vorstellung Spaß den mächtigen Krieger bei einer Unvorsichtigkeit zu ertappen. »Wo ist dein Vater?«, fragte Skar barsch, und als Esanna nur verständnislos den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Bring mich sofort zu ihm!«
»Warum?«, fragte Esanna. »Ist etwas passiert?«
»Das kann man wohl sagen.« Skars Stimme bekam einen unangenehm metallischen Klang. »Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir gleich Besuch bekommen. Ungebetenen Besuch.«
»Woher willst du das denn wissen?«
»Hörst du es nicht?«, fragte Skar leise. »Die vielen kleinen Geräusche? Wenn es nicht eure Leute sind, die dort im Nebel unterwegs sind, dann, fürchte ich, sind es Quorrl.« Esanna legte den Kopf schief und lauschte. »Da ist etwas«, sagte sie zögernd und mit einem Mal wirkte sie sehr ängstlich. »Es ... da ... ein Klirren ...«
»Und?« Skar packte sie grob bei der Schulter. »Sind es deine Leute - oder ist das jemand anders?«
»Du meinst«, stammelte Esanna, während sie sich unter Skars Griff wand, »die Quuorrl!«
Das letzte Wort hatte sie fast geschrien. Und trotzdem antwortete ihr auch jetzt noch nichts, nicht der fragende Ruf eines Wächters, nicht das Trampeln von Füßen, das davon kündete, dass der geschriene Name des Todfeinds einen Alarm ausgelöst hatte, einfach nichts.
Skar ließ das Mädchen los. Er hatte zu fest zugedrückt und Esanna krümmte sich vor Schmerzen, während sie gleichzeitig versuchte vorwärts zu taumeln. »Selbst wenn es stimmt...«, stammelte sie, »sie bereiten die Erweckung vor... wir dürfen sie jetzt keinesfalls stören! Das heilige Kaol muss von der Gemeinschaft erweckt und bereitet werden - auf dass es uns nähre und uns Kraft gibt unseren Feinden zu trotzen!«
Skar seufzte. »Zu irgendwelchen Spielchen fehlt uns die Zeit, Kind. Wenn wir sie nicht rechtzeitig warnen, ist das Dorf dem Untergang geweiht.«
Esanna starrte ihn einen Herzschlag lang blass und verstört an, dann nickte sie. »Hier entlang, Herr«, sagte sie und deutete nach vorne auf eine Hütte, die größer war als alle anderen, ein massiver Schemen im verschlingenden Nebel. »Aber du darfst auf keinen Fall das Wort ergreifen.«
Skar hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, aber das war im Moment auch nicht weiter wichtig. Er folgte dem Mädchen, das mit kleinen, trippelnden Schritten, aber erstaunlich schnell auf die Eingangstür zulief und sie atemlos aufriss.
Der Anblick übertraf alle seine Erwartungen. Männer und Frauen standen vor roh gezimmerten Tischen, auf denen Schaufeln, Spaten, Hacken und anders Ausgrabungsgerät sorgfältig ausgebreitet waren, dazwischen Säckchen und andere Behältnisse mit irgendetwas, was er nicht erkennen konnte. In dem Raum herrschte ein unglaublicher Gestank; eine scheußliche, atemberaubende Ausdünstung von fast stofflicher Beschaffenheit, die sich ekelhaft klebrig über sein Gesicht und seine Atemwege zu legen schien. Es war gleichzeitig Tod und Verwesung, was er dort mit jedem Atemzug in sich aufnahm, wie auch etwas auf vollkommen falsche Weise Lebendiges und nur mit Mühe schüttelte er die Vorstellung ab, dass etwas über die Atemwege von ihm Besitz zu erlangen versuchte.
Die Menschen in dem Raum wandten sich langsam und mit fast grotesk verzögerten Bewegungen zu ihm um, so als müssten sie sich erst überzeugen, dass ein Eindringling es wagte, sie in ihrer selbstvergessenen Prozedur der Erweckung zu stören. Skar erkannte einige der Männer und Frauen unter ihnen wieder, die am Tag zuvor Jagd auf die Quorrl gemacht hatten und andere, die er beim Eintritt ins Dorf bemerkt hatte, aber es waren auch nicht wenige dabei, die er noch nie zu Gesicht bekommen hatte und die so sonderbar, ja teilweise abscheulich aussahen, dass es ihm erst einmal die Sprache verschlug.
Einer von ihnen war der Mann, der direkt an der Tür und mit dem Rücken zu ihm gestanden hatte, und sich nun vollends zu ihm umdrehte. Er war völlig missgestaltet. Augen und Nase schienen ein gutes Stück nach unten gerutscht zu sein und dabei an Größe zugenommen zu haben, doch wo die Stirn und das rechte Ohr sein sollten, wucherte ein Fladen aus grauem, nässendem Fleisch, dessen Ausläufer so weit bis zur Kopfmitte wucherten, dass sie von seiner einfachen Kopfbedeckung nur unvollkommen verdeckt wurden. Auch einige anderen Menschen wiesen Missbildungen auf, hatten Verwachsungen oder eine rötlich entzündete Haut, verdrehte Gesichtsproportionen, geschwollene Gliedmaßen oder ebenfalls Fladen nässenden Fleischs im Gesicht. »Was bringst du den Fremden hierher?«, fragte Roun, der wie selbstverständlich in der Mitte des Raumes stand. »Er hat hier nichts verloren.«
»Aber ... die Quorrl«, sagte Esanna hilflos. »Er meint, sie könnten uns angreifen.«
»Na klar, Kindchen«, sagte eine dickliche Frau, während sie etwas Unförmiges unter dem Tisch verschwinden ließ, dessen Aussehen Skar nur entfernt erahnen konnte, »sie könnten uns jederzeit angreifen. Aber diese Tiere trauen sich nicht an uns heran. Sie haben Angst vor uns.«
Fast war Skar geneigt ihr zu glauben. Der Mann mit den verrutschten Augen und der nach unten wuchernden Nase trat einen weiteren Schritt auf ihn zu und er konnte seinen stinkenden Atem riechen. Er wusste nicht, wie ein Quorrl auf ihn reagieren würde, aber er selbst empfand mit Sicherheit eines: Ekel. Angewidert schob er den Mann ein Stück von sich fort, wobei er, als er ihn an den Armen packte, ein merkwürdig glibberiges Gefühl hatte, so als wäre da gar nicht lebendiges Fleisch unter den Ärmeln der armseligen Jacke, sondern irgendetwas anderes.
»Aber es ist Nebel«, sagte Esanna verzweifelt. »Begreift ihr denn gar nicht? Sie könnten sich unbemerkt an uns anschleichen. Der Posten auf dem Felsen würde sie nicht einmal sehen, wenn sie direkt vor ihm stünden.«
Wenn er überhaupt noch lebt, dachte Skar. Er fühlte eine merkwürdige Art der Unruhe in sich. Es war fast etwas wie eine Vorfreude, wie die Genugtuung, dass nun endlich das Unglück über diese Menschen und teilweise abscheulichen Kreaturen hereinbrechen würde, dass sie das bekommen würden, was ihnen zustand - ein Gefühl, das so heftig war, dass es ihn erschreckte und gleichzeitig abstieß.
»Quorrl greifen an, wenn wir in kleinen Gruppen diggen«, sagte Roun mürrisch. »Nur deswegen brauchen wir Schutz. Aber wie ich sehe, ist der Hohe Herr eher damit beschäftigt, uns hinterherzuschnüffeln.«
»Ich hoffe, ihr habt mehr als nur eine Wache aufgestellt«, Skars Lippen verzogen sich geringschätzig, »denn es könnte sein, dass euer Dorf gerade umzingelt wird. Ich würde es nicht darauf ankommen lassen, sondern sofort alle zusammentrommeln.«
»Und du meinst, du hast anschleichende Quorrl gehört, während wir alle nichts davon mitbekommen haben?«, fragte Roun spöttisch. »Für wie dumm hältst du uns eigentlich, solche Lügengeschichten aufzutischen? Wenn du mich fragst«, er sah sich Beifall heischend in der Runde um, »willst du uns nur ausspionieren.«
Ein zustimmendes Gemurmel ging durch den Raum und die eine oder andere Hand wanderte in einer mehr oder weniger bewussten Geste an einen Messergurt, zu einem Holzknüppel oder was sich sonst noch als Waffe gebrauchen ließ. Wäre die Situation nicht tatsächlich bedrohlich gewesen, hätte Skar wahrscheinlich laut aufgelacht. Die Männer und Frauen in diesem Raum hier taten das, was er schon dutzende Male erlebt hatten: Sie rotteten sich gegen einen Fremden zusammen, weil sie ihn für das Übel verantwortlich machten, für das sie doch nur selbst etwas konnten. Draußen waren die Quorrl wahrscheinlich gerade dabei, die Bewohner am Rande des Dorfs auszulöschen, und diese Idioten hatten nichts Besseres zu tun, als sich mit einem Satai anzulegen, dessen Gebeine eigentlich schon seit vielen Jahren vermodern sollten.
»Du kannst denken, was du willst, Roun«, sagte Skar ruhig. »Ich habe deine Gastfreundschaft genossen und dafür danke ich dir. Als dein Gast ist es meine Verpflichtung, dich vor drohendem Unheil zu bewahren - und das habe ich hiermit getan. Weitere Verpflichtungen habe ich nicht und darum werde ich jetzt gehen. Allerdings nicht, ohne dir einen letzten Rat zu geben: Nimm deine Leute hier und den Rest eurer Familien und versteckt euch in den Wäldern, bis der ganze Spuk vorbei ist.«
Roun lachte unsicher auf. »Du hast den Verstand verloren, Hoher Herr. Auf ein bloßes Wort von dir sollen wir unser Dorf räumen? Selbst wenn die Quorrl kämen: Was sollten diese Bestien schon gegen uns ausrichten? Wir sind Menschen und ihnen schon alleine deswegen haushoch überlegen.«
»Und deswegen lag dir so sehr an meiner Hilfe?«, fragte Skar. Er erschrak ein wenig, als er hörte, wie fremd und hart seine Stimme klang, aber einmal begonnen, konnte er nicht mehr aufhören. »Mach dir nichts vor, Roun. Die Schuppenkrieger überrennen euch schneller als ihr bis fünf zählen könnt. Und ich fürchte, sie haben schon damit begonnen.«
Roun schenkte ihm einen finsteren Blick. »Dann müssten wir sie ja eigentlich hören, deine Reptilienfreunde.«
»Wie dumm bist du eigentlich?«, schnaubte Skar. »Sie schleichen sich im Schutz des Nebels an euer Dorf an. Was würdest du denn machen, wenn du eine feindliche Siedlung überfallen wolltest? Etwa laut schreiend um das Dorf herumhüpfen, bis jeder Depp merkt, was da vorgeht?«
»Du willst mich doch wohl nicht mit diesen Monstern vergleichen?« Rouns Hand legte sich auf seinen Schwertgriff, während sich der Kreis der Leiber immer enger um ihn schloss - und damit auch um Skar. »Ich habe langsam genug von deinem Gerede. Du schwafelst uns die Ohren voll, wie hochanständig die Quorrl sind, wie wichtig es ist, diesen Tieren einen ehrenhaften Tod zu gewähren - ehrenhafter Tod für diese Fischgesichter -, und jetzt platzt du mitten in unsere Vorbereitungen zur nächsten Erweckung herein mit der Behauptung, sie wären gerade dabei, sich geschickt wie eine Gruppe Satai an uns anzuschleichen, um uns dann meuchlings zu ermorden!«
»Genauso ist es«, sagte Skar schroff. Es war offensichtlich ein Fehler gewesen, den halsstarrigen Digger warnen zu wollen, zumal er sich gar nicht sicher war, welche Seite hier im Recht war: Quorrl oder Digger. Das schlampig zusammengezimmerte Digger-Dorf machte jedenfalls nicht den Eindruck, als ob es schon jahrelang an diesem Ort stand. Es sah eher so aus, als ob es schnell und unter Zeitdruck errichtet worden war, nichts weiter als eine provisorische Unterkunft, damit die Digger ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen konnten: der Suche nach irgendetwas, das sie für so wichtig hielten, dass sie ihr ganzes Leben danach ausrichteten. Wenn sie dabei dem Quorrl-Gebiet zu nahe gekommen waren und dazu noch glaubten, auf die Schuppenkrieger Jagd machen zu müssen, war es eigentlich nur legitim, dass sich die Reptilienmänner mit allem zur Wehr setzten, was sie hatten.
Und das war nicht gerade wenig.
Aber da war noch etwas anderes. Esanna, beispielsweise, ein junges Mädchen, hineingeboren in diese Welt, ohne die Chance zu entscheiden, ob es die für sie passende war. Das Mädchen stand dicht neben ihm und er konnte ihre Erregung spüren, das Unverständnis, mit dem sie den Streit verfolgte, hatte sie doch genauso wie Skar die verräterischen Geräusche der Angreifer gehört und wusste, dass es jetzt auf jede Sekunde ankam, falls sich ein Trupp geschuppter Kolosse ans Dorf anschlich, um sie alle im Handstreich zu überrennen. Sie stand stellvertretend für die anderen Kinder und die unschuldigen Frauen und Männer, die in ihren Hütten von der gewalttätigen Flut geschuppter Leiber überrascht werden würden, um allesamt niedergemetzelt zu werden. Skar wusste aus eigener bitterer Erfahrung nur zu gut, dass die Quorrl keine Gefangenen machten, ja, im Gegenteil, dass sie auch Kinder mit derselben Erbarmungslosigkeit töteten, für die sie auf ganz Enwor bekannt waren. »Spar dir deinen Atem«, fuhr Skar dennoch fort, während er langsam das Gewicht nach hinten verlagerte. »Ich werde dich nicht länger belästigen.«
»Nicht so hastig, Hoher Herr«, sagte Roun. Die Männer und Frauen um ihn herum wirkten mit einem Mal wacher und sprungbereiter als noch vor Sekunden. Es erschien Skar beinahe so, als ob dieses Kaol, das diese Menschen möglicherweise wie eine Droge konsumierten, nicht nur ihre Körper deformierte, sondern auch ihre Sinne und ihren Verstand durcheinander brachte. Statt gutmütiger Dorfbewohner sah er sich launischen Bestien gegenüber und er begriff, dass ein einziger Wink Rouns genügen würde, um sie zu einem Angriff zu bewegen.
Doch vielleicht hatte er diese Menschen auch grundlegend falsch eingeschätzt, vielleicht hatte das Kaol sie bereits vor langer Zeit so tiefgreifend verändert, dass sie sich ganz anders verhielten, als er es von Menschen ihres Schlags gemeinhin erwartete. Oben auf der Klippe, als sie die Quorrl verfolgten, hatte er sie für einfache Bauerntölpel gehalten, denen es mit mehr Glück als Verstand gelungen war, eine kleine Gruppe der Geschuppten vor sich herzujagen. Doch offensichtlich hatte er sein Urteil zu vorschnell gefällt. Zwar waren die Digger keine ausgebildeten Krieger, aber sie waren erfahrene Kämpfer, die über das Wichtigste verfügten, was einer Gruppe Stärke verlieh: Kampfbereitschaft und Zusammenhalt.
»Vater, bitte«, sagte Esanna. »Ich habe es auch gehört. Da draußen ist etwas ... jemand.«
»Ja, mein Kind«, sagte Roun geistesabwesend. »Darum werden wir uns kümmern, wenn wir mit dem da fertig sind.« Die Warnung in seiner Stimme war unüberhörbar. Es wurde mit einem Mal sehr still in dem großen, dunklen Raum, so still, dass ihm selbst das Knacken und Knistern der roh gezimmerten Hütte unerträglich laut erschien. Skars Hand kroch wie von selbst zum Griff seines Tschekals und umfasste das harte, kalte Metall, das Versprechen des schnellen Todes für alle, die den Fehler machen würden ihm in einem plumpen Angriff zu nah zu kommen. »Ich werde jetzt gehen«, sagte er betont langsam, »und ich würde euch raten, mich in Frieden ziehen zu lassen.«
»Du hast dein Gastrecht verwirkt«, sagte Roun eisig. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, als müsse er sich darauf konzentrieren, die richtigen Worte zu finden, die Entschuldigung dafür, dass sie gleich über ihn herzufallen gedachten. »Du hast uns verraten an unsere Todfeinde. Und jetzt drohst du uns mit ihrem Angriff.«
Das war eine mehr als freie Interpretation der Ereignisse, aber das Schlimme daran war: Vollkommen Unrecht hatte Roun nicht. Wenn es wirklich eine Schar Quorrl-Krieger war, die sich da draußen anschlich - und dessen war sich Skar so sicher, dass er seinen rechten Arm darauf verwettet hätte -, dann konnte es durchaus sein, dass sie durch den von ihm verschonten Schuppenkrieger auf die Spur der Digger gekommen waren. Keine sehr angenehme Vorstellung, aber nichts, was Rouns Verhalten in irgendeiner Art rechtfertigte.
»Nichts liegt mir ferner als eine Drohung«, sagte Skar. Die explosive Stimmung in dem Raum behagte ihm immer weniger. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er die tausend kleinen Anzeichen eines bevorstehenden Angriffs, die Verlagerung der Haltung, den Griff zur Waffe, das Anspannen von Armen und Beinen, und er fragte sich besorgt, ob es ihm gelingen würde, den Raum ohne Blutvergießen zu verlassen. Die Tür war kurz hinter ihm, das war sein Vorteil, aber zu seiner Linken und Rechten standen ein paar Männer und Frauen, die während des Wortwechsels fast unmerklich näher gerückt waren. Alles, was er tun musste, war nach hinten zu springen und gleichzeitig ein paar der traurigen Gestalten zurückzustoßen, damit er in der Verwirrung entkommen konnte.
Doch was würde dann aus Esanna und den anderen werden, die er hilflos dem Angriff der Quorrl überließ? Er fühlte sich nicht als Beschützer der Armen und Schwachen, hatte in harten Jahren lernen müssen, dass es oft um mehr ging als um das Leben oder Wohlergehen weniger Menschen, dass es ganz andere Zusammenhänge waren, die über Wohl oder Wehe eines Dorfes, einer Stadt, eines Landstrichs oder gar ganz Enwors entschieden. Und doch war es etwas anderes, wenn ein vor Lebendigkeit sprühender junger Mensch neben ihm stand, ein Mädchen, das Angst hatte, das gerechtfertigterweise einen grauenvollen Tod fürchtete durch eine Horde Ungeheuer, die es auf sie, das ganze Dorf und vielleicht sogar alle Digger abgesehen hatten; es war etwas anderes, weil er Esanna durch einen schmachvollen Rückzug mehr gefährden würde, als wenn er den Kampf mit ihrem Vater auf sich nahm, um diesen alten Narren davon zu überzeugen, dass nur rasche Flucht ihn und die anderen noch zu retten vermochte.
Dieser Mischmasch von Gedanken und Gefühlen ließ ihn zögern, schwächte seine Aufmerksamkeit für den Bruchteil einer Sekunde. Es war Pech, dass Roun gerade in diesem Moment das Zeichen zum Angriff gab und dass Skar das Zeichen nicht gleich als solches erkannte: ein kurzes Hochziehen der Augenbrauen. Die drei, vier Digger, die direkt neben ihm waren, sprangen ansatzlos nach vorne. Ein flüchtiges Aufblitzen, der Lichtreflex an einer Messerklinge und Skar wusste, wo er zuerst zupacken musste: Er packte das Handgelenk des Angreifers, drehte es mit einem brutalen Ruck herum. Das Messer sauste pfeilgleich durch den Raum und bohrte sich irgendwo weiter hinten in ein Holzbrett. Die kurze Aktion hatte einem anderen die Gelegenheit gegeben in Skars Rücken zu gelangen. Zwei kräftige Arme umklammerten seinen Brustkorb und versuchten ihn zusammenzudrücken. Skar sprengte seinen Griff mit einer kurzen, ärgerlichen Handbewegung und schlug ihm den Handrücken ins Gesicht. Der Mann taumelte rückwärts, wild mit den Armen um sich schlagend, und riss dabei ein paar andere Angreifer mit, die ihm den Rückzug zur Tür abschneiden wollten, was ihnen durch eben dieses wüste Manöver sogar zu gelingen schien, denn in dem Durcheinander wild rudernder Arme, Beine und Leiber war kein Durchkommen, es sei denn, er zog sein Tschekal und hieb sich den Weg frei.
Seine Gegner kannten weniger Skrupel. Mit gezogenem Schwert stürzte sich der Mann mit dem deformierten Gesicht auf ihn; seine sowieso schon viel zu großen Augen schienen geradezu aus seinem Gesicht zu quellen, als er zum alles entscheidenden Schlag ausholte. Skar hatte nicht vor es so weit kommen zu lassen. Er sprang nach vorne, warf sich dem Mann in den Arm, packte ihn und schleuderte ihn in seine Kumpane. Ein Aufschrei aus einem Dutzend wütender Kehlen antwortete ihm. Die Digger hatten sich in einen Mob verwandelt, der nur noch ein Ziel kannte: zu vernichten, zu töten, auszulöschen. Plötzlich verstand Skar, wie es ihnen gelungen war, die Quorrl vor sich herzutreiben. Diese Menschen hier waren nicht bei Verstand, wenn sie kämpften, es waren Bestien, Straßenkötern ähnlich, die nicht eher abließen, bis sie ihre Beute zerfleischt hatten.
Er kam nicht dazu, den flüchtig aufschießenden Gedanken weiterzuverfolgen. Von allen Seiten drangen sie jetzt auf ihn ein, mit Schwertern, Stöcken, Äxten und was sonst sich auch immer als Waffe gebrauchen ließ. Skar begriff, dass sie es ihm nicht so einfach machen würden, hier wieder lebend rauszukommen. Der Instinkt des Kriegers zwang ihn dazu, alle bewussten Gedanken aus seinem Geist auszublenden und nur noch ums nackte Überleben zu kämpfen. Er ließ sich nach unten gleiten und zog noch im Fall sein Tschekal.
Einer der Männer schien dieser schnellen Bewegung folgen zu können; der Satai hatte den flüchtigen Eindruck eines vollkommen zerstörten Gesichts mit geradezu grotesken Proportionen, einer riesigen Nase und eines vor Feuchtigkeit sabbernden Fladens, der sich quer über sein Gesicht zog. Für einen endlosen Augenblick trafen sich ihre Blicke, und es war der Blick des Missgetalteten, der Ausdruck der flackernden Augen in seinem verhärmten Gesicht, der ihn schließlich dazu brachte, alle Hemmungen fallen zu lassen. Der Mann, der sich mit gezogener Waffe auf ihn stürzen wollte, schrie gellend auf, als ihn die Waffe aus geschliffenem Sternenstahl durchschnitt; er ließ sein eigenes Schwert fallen und stürzte dicht neben Skar schwer zu Boden. Der Satai rollte sich ab, stieß mit der Schulter die dicke Frau beiseite, die bei ihrem Eintritt in die Hütte Esanna mit Kindchen angeredet hatte, und kam mitten im Raum wieder auf die Füße.
Die Digger wurden von seiner blitzschnellen, kaum wahrnehmbaren Aktion vollkommen überrascht. Die Hälfte von ihnen bildete ein dichtes Knäuel im Türbereich, in dem sie ihren Gegner noch immer vermuteten. Etliche von ihnen drehten sich mit einem ungläubigen Ausdruck auf ihren Gesichtern zu ihm um. Die Bewegungen seiner Gegner erschienen Skar von bizarrer Langsamkeit, als müssten ihre Glieder einen unsichtbaren, zähen Widerstand überwinden. Doch er wusste, dass es eine Täuschung war. Er selbst bewegte sich mit katzenhafter Geschicklichkeit und Geschwindigkeit und die Digger sich wie ein schwerfälliges Ungeheuer; doch sobald der Mob seine Bewegungen koordiniert hatte, würde er wie eine Sturmflut über ihn kommen - wenn er es so weit kommen ließ.
Die ersten Männer und Frauen stürmten mit merkwürdig ausdruckslosen Gesichtern auf ihn zu. »Bleibt an der Tür«, schrie Roun über den Kampflärm hinweg. Insgeheim addierte Skar einen weiteren Pluspunkt für den Mann: Wenn es sein Ziel war, ihm das Verlassen das Raumes unmöglich zu machen, musste er in der Tat dafür sorgen, dass ihm der Ausgang weiterhin versperrt blieb. Was der Digger allerdings nicht wissen konnte, war, dass Skar keineswegs vorhatte, den Raum auf dem üblichen Weg zu verlassen.
Es gab schließlich noch die Wand.
Sternenstahl hatte den Vorteil Holz wie Butter durchschneiden zu können. Zwei, drei wuchtige Hiebe und das morsche Gebälk würde so weit nachgeben, dass er diesen verfluchten, stinkenden Raum verlassen konnte.
Er hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass bereits jemand anders auf den gleichen Gedanken gekommen war. Während er einen Digger mit einer kraftvollen Armbewegung beiseite schleuderte und einen anderen mit einem wuchtigen Hieb seines Schwertknaufs ausschaltete, wurde er von einer berstenden Explosion geradezu nach vorne geschleudert. Die ganze Seitenwand hinter ihm brach mit einem wahnsinnigen Getöse in sich zusammen; eine alles verschlingende Staub- und Dreckwolke wirbelte auf, Holzsplitter surrten durch die Luft, Männer und Frauen wurden von einer unglaublichen Wucht nach vorne gestoßen und stürzten schreiend zu Boden und ein Balken fiel so unglücklich auf einen Digger, dass der Mann wie von einer Axt gefällt und mit blutüberströmtem Kopf zusammenbrach. Das alles ging so schnell, dass Skar seine schwungvolle Vorwärtsbewegung nicht mehr abbremsen konnte: sein Tschekal donnerte nun vollkommen sinnlos in die gegenüberliegende Wand und schnitt einen meterlangen Streifen in die wacklige Konstruktion hinein, die durch den Zusammenbruch des anderen Seitenteils bereits der Vernichtung preisgegeben war.
Es war wie ein Traum, ein böser, grausamer, nicht enden wollender Traum, aber er war von fürchterlicher Realität und es dauerte nur Sekunden, aber sie dehnten sich zu Ewigkeiten der Qual. Das ganze klapprige Gebäude bebte, Strohpartikel rieselten vom Dach herab, gefolgt von Latten und Steinen, die wohl als Beschwerung gedient hatten und nun zu Geschossen wurden. Menschen duckten sich unter dem gefährlichen Hagel, warfen Waffen beiseite, um ihre Gesichter mit Händen und Armen zu schützen oder krochen unter die Tische, die einen, wenn auch sehr zweifelhaften Schutz vor dem Grauen boten. Schrecklicher aber noch als das Bersten, Splittern und Zusammenkrachen waren die Alptraumgestalten, die die Zerstörung ausgelöst hatten. Es waren mehrere Quorrl, drei, vier, fünf der Giganten, die mit wahnsinniger Geschwindigkeit den Raum stürmten und mit ihren Zackenschwertern eine furchtbare Schneise von Tod und Vernichtung schnitten. Die geschuppten Kolosse hatten gar nicht vor sich auf einen Kampf einzulassen, sondern führten eine vollkommen neue Variante davon vor, wie man ein Gebäude stürmen konnte: Mitten durch die Wand auf der einen Seite rein und auf der anderen Seite raus.
Ihre Geschwindigkeit war so hoch, dass Skar es gerade noch schaffte herumzuwirbeln, aber nicht mehr sein Schwert in Position bringen konnte - das sich unglücklich in der Wand verklemmt hatte und sich nur mit einem kräftigen Ruck wieder befreien ließ -, wodurch er dem Quorrl, der quasi durch ihn und die Wand wieder ins Freie stürzen wollte, nur passiven Widerstand entgegensetzen konnte; er steppte im letzten Moment beiseite, sodass der beiläufig und dennoch wuchtig geführte Hieb der Quorrl-Waffe ihn nur mit der stumpfen Seite streifte und zu Boden taumeln ließ. Dann waren die Quorrl auch schon an ihm vorbei. Ohne merklich an Geschwindigkeit zu verlieren, durchbrachen die Kolosse, doppelt so schwer wie Menschen und mindestens fünfmal so stark, die zweite Wand und versetzten so dem Gebäude den endgültigen Todesstoß. Holz, Steine, Metallteile, Späne regneten auf Skar hinab; ein wahrer Splitterregen ergoss sich über ihn und alle anderen, die es nicht rechtzeitig geschafft hatten, sich unter den Tischen in vorläufige Sicherheit zu retten. Doch dann folgten auch schon die größeren Stücke und Holzbalken und stürzten mit grausamer Wucht hinab und aus dem Schutz der Tische wurden Todesfallen mit zusammenknickenden Beinen und Tischplatten, die mit grausamer Wucht auf die Schutzsuchenden prallten. Binnen weniger Augenblicke glich die Mitte des Raums einem Hexenkessel aus schreienden Menschen, herabstürzendem Baumaterial, dichten Staubschwaden und absoluter Hoffnungslosigkeit. Wer konnte, sprang durch eine der Öffnungen ins Freie, hinein in den grauen Nebel, nur weg aus dem Chaos von Tod und Verderben, das so unglaublich schnell hier Einzug gehalten hatte, dass niemand Zeit gehabt hatte auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.
Skar hatte Glück im Unglück: So nahe der Stelle, an der die Quorrl die Wand durchbrochen hatten, waren keine schweren Trümmer niedergegangen. Er kam mit einer schnellen Bewegung in eine sprungbereite Hockstellung hoch; wie von selbst stießen seine Finger das Tschekal in die Schwertscheide zurück, der Reflex des Kriegers, der seine Waffe schützen will und muss, um jederzeit gegen einen wie auch immer gearteten Feind antreten zu können.
Gerade, als er sich vollends aufrichten wollte, um wie die überlebenden Digger fluchtartig das zusammenstürzende Gebäude zu verlassen, hörte er neben sich einen Aufschrei, einen spitzen, entsetzten Laut, der trotz des Chaos um ihn herum an ihn herandrang und ihn zögern ließ.
Es bedurfte nur eines kurzen Blicks, um zu erkennen, wer dort geschrien hatte: Es war Esanna. Das Mädchen lag kaum zwei Fuß von ihm entfernt, ein undeutlicher Schemen inmitten einer Staub- und Partikelwolke, die es fast gänzlich einhüllte. Die Beine des Mädchens waren von etwas eingeklemmt, was wie der zerborstende Rest eines Dachbalkens aussah. Mit einem Schritt war Skar bei ihr. Ein Digger, der an ihm vorbeitaumelte in Richtung der vermeintlichen Rettung - also dorthin, wo die Quorrl verschwunden waren -, starrte ihn einen Augenblick aus weit aufgerissenen Augen an und hob dann die mit einem Schwert bewehrte Hand, als wollte er Skar mit einem einzigen Schlag in zwei Stücke spalten. Aber dann taumelte er weiter, ohne auch nur den Versuch eines Angriffs unternommen zu haben.
Skar beugte sich zu Esanna herab. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit, streng genommen gar keine mehr, denn das Gebäude schien nun den Widerstand gegen die mutwillige Zerstörung aufgeben zu wollen, um dann endgültig einzustürzen und zuvor als ersten Sendboten der totalen Zerstörung den Rest der Dachkonstruktion auf all die herabzuschicken, die sich noch nicht in Sicherheit hatten bringen können. Ohne zu überlegen, ging Skar in die Hocke, packte Esanna am Handgelenk und sprang im gleichen Moment schon wieder auf; das Mädchen wurde wie eine Puppe hochgerissen und der Rest des Balkens rutschte von ihren Füßen. Ein fürchterliches Krachen im noch verbliebenen Gebälk über ihnen kündete die nächste Schuttlawine an. Skar brauchte nicht nach oben zu sehen, um zu wissen, dass er die wenigen Meter bis zur zerstörten Wand kaum noch zurücklegen konnte, bevor er und das Mädchen von den herabfallenden Trümmern erschlagen wurden. Er setzte zu einem gewaltigen Sprung an, der sie mit einem Schritt aus der Gefahrenzone bringen sollte, doch im selben Moment ging ein massiver Querbalken vor ihm krachend nieder, gefolgt von einer Flut weiterer schwerer Holzteile. Skar bremste seine Bewegung gerade noch rechtzeitig ab, um nicht mitten in die hinabstürzenden Trümmer hineinzulaufen, die sie andernfalls beide zweifelsohne zerschmettert hätten, schlug einen Haken und setzte dann, immer noch Esannas Handgelenk fest umklammernd, über den Trümmerhaufen hinweg.
Keinen Augenblick zu früh. Hinter ihnen stürzte das größte Gebäude des Dorfes wie ein Kartenhaus in sich zusammen; der Rest des Dachs krachte mit einer Reihe gewaltiger Explosionen auf den Boden, gefolgt von den wenigen Stützbalken, die die bereits zerstörten Wände noch halbwegs in ihrer Position gehalten hatten. Ein mehrfaches Wummern, dumpf und erschreckend laut für eine solche instabile Konstruktion, erschütterte den Boden, und dann folgte eine aufgewirbelte Staub- und Dreckwolke, die sich über die Trümmer ausbreitete, als wollte sie das Ausmaß der Zerstörung vor neugierigen Blicken verbergen.
Doch das war absolut nicht nötig, denn wie ein erstickendes Leichentuch hing der Nebel über dem Tal und machte es unmöglich, viel mehr als nur die Hand vor Augen zu erkennen. So sehr sich Skar auch anstrengte, das feuchte Grau zu durchdringen, hatte er doch kaum einen anderen Ansatzpunkt zur Orientierung als die Kampfgeräusche, das Wimmern und Schreien überall um sich herum und er begriff, dass die Quorrl die systematische Vernichtung des Dorfes mit der ihnen eigenen Gründlichkeit und Grausamkeit zu Ende führen würden, egal, wie viel erbitterten Widerstand die Digger auch zu leisten bereit waren.
Was ihn selber aber nicht aus der Gefahrenzone brachte. Er hatte nur zwei, drei Sekunden lauschend dagestanden, dann lief er wieder los, ohne die mittlerweile sich sträubende Esanna loszulassen, aber auch ohne sich ihr zuzuwenden, um zu überprüfen, wie es ihr ging; dafür würde gleich Zeit sein, wenn er den Kampftumult erst einmal hinter sich gelassen hatte. Es war mehr ein Gefühl als ein bewusstes Wahrnehmen, das ihn dazu brachte, sich nach links zu wenden und damit direkt an mehreren Diggern vorbei, die wohl gleich ihm noch in letzter Sekunde aus dem einstürzenden Gebäude hatten entkommen können. Zwei, drei Männer wandten sich zu ihm; sie waren ihm so nah, dass Skar trotz des Nebels das kalte Funkeln in ihren Augen zu sehen glaubte, als sie ihn entdeckten, wie er auf sie zustürmte, die Tochter ihres Anführers wie eine Trophäe hinter sich herziehend. Auch unter weitaus günstigeren Umständen wäre es Skar wahrscheinlich schwer gefallen zu erklären, was er mit Esanna vorhatte und wieso er gar keine andere Wahl gehabt hatte, als die mittlerweile Zappelnde und um sich Schlagende mitzuschleifen.
Als Skar im dicken Nebel das Aufblitzen eines kampfbereit umklammerten Schwertes bemerkte, das einer der Männer auf ihn zusausen ließ, war es schon fast zu spät. Es war ein recht plump geführter Schwerthieb, der den Satai unter normalen Bedingungen nicht in Bedrängnis gebracht hätte, doch für einen überraschend geführten Angriff war er im Moment denkbar schlecht vorbereitet: Seine linke Hand umklammerte nach wie vor Esannas Handgelenk und seine Rechte war zu weit von seinem Schwertgriff entfernt, um das Tschekal schnell genug aus der Scheide ziehen zu können. Einem zielgenauen Schwerthieb unter diesen Bedingungen zu entkommen war nahezu unmöglich oder doch nur, wenn er seinen Gegner mit einer unvorhergesehenen Finte austrickste.
Er stieß Esanna kraftvoll zurück und setzte ihr gleichzeitig nach: Als das Schwert durch die Luft pfiff, fand ihn der Digger dort vor, wo eben noch das Mädchen gewesen war; unmöglich jetzt noch den Hieb zu korrigieren. Der Mann taumelte, vom Schwung seiner eigenen Waffe nach vorne gerissen, direkt an Skar vorbei. Der Satai streckte den Fuß vor und sorgte damit dafür, dass der darüber stolpernde Mann endgültig das Gleichgewicht verlor und schwer zu Boden stürzte.
Die anderen Männer handelten entschlossener, als es ihm lieb war. Einer von ihnen, ein fast sieben Fuß großer und breitschultriger Hüne, stürzte sich mit einem Aufschrei auf ihn, mit weit ausgebreiteten Armen wie ein gigantischer Bär, der es gewohnt war, den Brustkorb seiner Opfer mühelos zu zerquetschen. Blitzschnell drehte sich Skar herum, versetzte dem Angreifer einen Tritt vor die Brust und zog gleichzeitig das Schwert aus der Scheide. Der Hüne schwankte leicht, ließ sich aber nicht von seinem Angriff abbringen. Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf den Satai, bevor dieser sein Tschekal nach oben bringen konnte. Skar ließ den Angreifer so nah herankommen wie möglich, drehte sich dann in einer fließenden Bewegung zur Seite und riss das Knie hoch. Der Hüne schrie auf - diesmal vor Schmerz -, krümmte sich und taumelt haltlos ein paar Schritte weiter in den alles verschlingenden Nebel hinein. Dem dritten Mann ließ Skar nicht den Hauch einer Chance. Sein Tschekal strich mit spielerischer Leichtigkeit durch die Luft, streifte das Schwert des Diggers und riss es mit einer gleichzeitig kraftvollen und eleganten Bewegung aus seiner vorbestimmten Bahn. Als ihm seine Waffe aus der Hand geprellt wurde, taumelte der Mann mit einem Aufschrei zurück und verschwand im grau wabernden Nichts.
Doch da war der Hüne schon wieder heran. Skar ließ das Tschekal einen Bogen beschreiben und schlug dem Koloss mit voller Wucht der breiten Seite seines Schwertes auf die Schläfe. Er verabscheute es, einen Mann zu töten, der ihn waffenlos angriff, aber in diesem Fall wäre er vielleicht besser beraten gewesen es zu tun. Denn statt zu Boden zu stürzen, torkelte der Hüne mit grotesk rudernden Armen weiter auf ihn zu und erwischte ihn mit seinem Handrücken, der plötzlich hochzuckte. Skar hatte das Gefühl, vom Huf eines Pferdes getroffen zu werden; er hatte den Schlag nicht kommen sehen und war deshalb nicht mehr in der Lage, seine Energie durch ein Wegtauch-Manöver verpuffen zu lassen. Während er zurücktaumelte öffnete sich seine linke Hand, die während des ganzen schnellen Kampfs Esanna fest umklammert gehalten hatte, und ließ das Mädchen ins graue Wallen entkommen.