2.3

Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken, das hier nicht hingehörte, ein leises, kaum hörbares Tapsen, dessen Ursprung er nicht orten konnte. Vielleicht ein Tier, möglicherweise sogar ein Bär - auch wenn er sich das nicht vorstellen konnte, denn dann hätte er seine Anwesenheit schon vorher spüren müssen. Das Geräusch wiederholte sich und dann glaubte Skar noch etwas anderes zu hören: einen leisen Singsang, sanft und fern wie ein Windhauch, aber doch so deutlich wie das Geräusch der ersten feinen Tropfen, das einen Regen ankündigte.

Skar glitt förmlich in die Töne hinein, die er hörte, versuchte sie zu fassen und zu ergründen, während er noch immer in das prasselnde Feuer vor sich starrte. Es war nicht einfach, die Feuergeräusche so weit auszublenden, bis er die Quelle der anderen Laute feststellen konnte.

»Warum antwortest du nicht auf meine Frage«, wollte Esanna wissen.

»Still«, zischte Skar kaum vernehmbar und legte den Finger auf den Mund, um seine Worte zu bestärken.

»Warum?«, fragte Esanna trotzig, doch ein Blick in Skars Gesicht ließ sie verstummen und erschrocken die Augen aufreißen.

Skar erhob sich langsam und ohne Eile. Wer oder was auch immer dort im Hintergrund der Höhle war, bewegte sich langsam und vorsichtig. Womöglich wurden sie die ganze Zeit über schon beobachtet. Wenn das so war, dann wollte er den oder die Lauscher nicht mit der Nase darauf stoßen, dass er sie entdeckt hatte.

»Was ist denn nun ...«, begann Esanna, brach dann aber mitten im Satz ab, als Skar den Kopf schüttelte.

Es war merkwürdig: Aber in diesem Moment wünschte er, Del wäre an seiner Seite und nicht ein unbeholfenes Digger-Mädchen, das sich mit jeder Bewegung und jeder Äußerung einem heimlichen Beobachter verdächtig machen musste.

Aber Del war nicht nur tot. Er war auch ein dreckiger Verräter gewesen. Der Mann, den er als seinen besten Freund, seinen engsten Vertrauten und letztlich auch als eine Art Ziehsohn betrachtet hatte, hatte ihn von Anfang an betrogen.

»Wir brauchen noch etwas Holz«, sagte er laut. »Halte die Flammen so lange in Gang, bis ich welches gefunden habe.« Esanna nickte hektisch und sah sich gehetzt nach allen Seiten um. Verdammt. Genauso gut hätte sie sich ein Schild um den Hals hängen können mit der Aufschrift: Wir haben euch entdeckt. Und Skar sucht euch jetzt.

Mit langsamen, elastischen Bewegungen ging Skar tiefer in die Höhle hinein, dorthin, wo das flackernde Licht des Feuers ein verwirrendes Spiel zuckender Bewegungen auf die Wände zauberte, die kaum noch ausreichten, um ein paar Schritt weit sehen zu können. Seine Phantasie gaukelte ihm hinter jedem Vorsprung, hinter jedem Knick eine Horde unbekannter Angreifer vor, die nur darauf lauerte, sich mit einem Kampfschrei auf ihn zu stürzen.

Trotzdem vermied er es, seine Waffe zu ziehen. Er wollte niemanden unnötig provozieren. Und dass hier jemand war, das bezweifelte er schon nach ein paar Schritten nicht mehr. Es waren jetzt weniger Geräusche, die ihn bei seiner Wahrnehmung bestärkten, als vielmehr das sichere Gefühl, von mehreren Augen beobachtet zu werden. Skar verfügte über genug Erfahrung, um zu wissen, dass dieses Gefühl absolut verlässlich war: Fast jeder Mensch war in der Lage, die Blicke eines heimlich in der Nähe kauernden Beobachters zu spüren, doch die meisten überlagerten solche Empfindungen mit trägen Gedanken oder Zweifeln.

Das hatte Skar nicht vor. Er schlich weiter hinein in das Halbdunkel, die ganze Zeit über darauf vorbereitet, jederzeit einen Angriff parieren zu können. Er wusste, dass er dabei im Nachteil war: Während er keine Ahnung hatte, wo die anderen steckten, hatten sie ihn die ganze Zeit im Blickfeld und konnten so in Ruhe die beste Angriffsstrategie ersinnen.

»Warte«, ertönte hinter ihm eine Stimme. »Lass mich hier nicht alleine.«

Skar hätte am liebsten laut geflucht. Dieses blöde Kind. Es reichte nicht, dass es sich auffällig umsah, nein, es musste ihm jetzt auch noch hinterherlaufen wie ein Kleinkind, das sich vor einem Gewitter fürchtet.

Zu spät erinnerte er sich daran, dass Ärger ein schlechter Ratgeber war. So auch in diesem Fall. Seine Wut auf Esanna ließ ihn eine Wurzel übersehen, die in einem Knick vor ihm lag und wahrscheinlich von übereifrigen Holzsammlern dort vergessen worden war. Prompt stieß er mit dem Fuß dagegen, wodurch sie ein paar Schritt über den Boden glitt und mit einem lauten Geräusch an einen Vorsprung krachte. »Hier bin ich, Feuerfee«, sagte er säuerlich und versetzte dem Wurzelstück, über das er gestolpert war, einen wütenden Fußtritt. »Vielleicht hättest du die Güte zu warten, bis ich genug Holz zusammenhabe.«

»Ich weiß nicht... ob das so eine gute Idee ist«, sagte Esanna und dann war sie auch schon heran, mit so raschen Schritten, dass ihre offenen Haare in der Zugluft flatterten. »Es war mir fast so, als ob jemand am Höhleneingang war.«

»Na, wunderbar«, sagte Skar betont leichthin, um möglichen heimlichen Zuhörern die Gelegenheit zu geben, ihm immer noch den unbekümmerten Holzsammler abzunehmen. »Wahrscheinlich ein Bärenjunges, das einen Unterschlupf sucht.«

»Kurz vor Morgengrauen?«, fragte Esanna nervös. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«

Skar seufzte. »Ich kümmere mich gleich darum«, sagte er, was er durchaus ernst meinte. Er konnte sich nicht des Gefühls erwehren, dass ihn jemand in eine Falle gelockt hatte: ein paar Geräusche, die den Satai vom Feuer weg tiefer in das unterirdische Labyrinth lockten, um dann in aller Ruhe den Höhleneingang zu verriegeln und ihnen so den Fluchtweg aus der Höhle abzuschneiden. Diese Idee hätte von ihm stammen können.

Doch ehe er auch nur ansatzweise begriff, was geschah, glitten schwarze Schatten aus dunklen Wänden und verdichteten sich zu einer Gruppe fremdartig wirkender Wesen, die einen fast perfekten Kreis um sie bildeten.

Skar schluckte verblüfft. Er hatte in den letzten Sekunden kein anderes Geräusch gehört als seinen eigenen Herzschlag, das Rauschen des Blutes in seinen Ohren und das Rascheln und Knistern, das durch seine und Esannas Bewegungen entstanden war. Er begriff nicht, wie es hatte geschehen können, dass ihn plötzlich mehrere knabenhaft wirkende Gestalten geräuschlos umringten. Das gefiel ihm nicht, ganz und gar nicht.

Seine Hand wanderte wie von selbst zum reich ziselierten Griff seines Tschekals und zwei Dutzend Augen schienen der Bewegung zu folgen. Plötzlich hatte Skar Angst. Diese Gestalten erinnerten ihn an irgendetwas, die Art, wie sie sich bewegten, schnell, leise und geisterhaft. Er war sich sicher, schon früher mit Menschen (oder Wesen?) diesen Schlags zu tun gehabt zu haben. Aber er kam nicht darauf, wann das gewesen war und in welchem Zusammenhang seine Erinnerung stand.

Es war so dunkel in diesem Teil der Höhle, dass er ihre Gesichter nicht erkennen konnte und auch nicht zu sagen vermochte, ob sie ihn feindselig, misstrauisch oder auch nur abwartend anstarrten. Ihre eleganten, leichtfüßigen Bewegungen hatten etwas fast Insektenartiges an sich und es wurde ihm bewusst, dass sie wahrscheinlich genauso schnell wieder mit der Dunkelheit verschmelzen konnten, wie sie aus ihr hervorgetreten waren.

Doch das war nicht unmittelbar das, was ihm Sorgen bereitete. Er wusste nicht, wie viele von ihrer Sorte sich noch in der Höhle aufhielten. Aber auch die rund zehn Männer, die sie bereits umringten, erschienen ihm gefährlich genug und er ahnte, dass er einen schweren Stand haben würde, wenn sie ihn angriffen. Zwar waren ihre Hände waffenleer, doch ihre geschmeidigen Bewegungen verrieten, dass es durchaus ernst zu nehmende Gegner waren - falls sie entsprechend geschult waren. Andererseits - schmale, braun gebrannte, auffallend zerbrechlich wirkende Menschen: Wann hatte er schon einmal mit diesem Schlag zu tun gehabt? Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern.

Eine der Gestalten trat vor, langsam aber mit einer fließenden, fast huschenden Bewegung, die Skars ersten Eindruck von der Gefährlichkeit der Männer bestärkte. »Zor-pah!«, sagte der Mann schnell. »Sena konngif immenisten.« Esanna rückte näher an ihn heran. Ihre Hand glitt in Skars Waffengurt und krallte sich dort ein. Hoffentlich unternahm sie nichts Unbedachtes.

»Ich spreche eure Sprache nicht«, sagte Skar betont ruhig, doch ohne seine Nervosität ganz aus seiner Stimme bannen zu können. Er spürte, wie sich Esanna anspannte und gab ihr mit einem kleinen Wink zu verstehen, dass sie sich ruhig verhalten sollte. Erst dann brachte er seine Waffenhand nach oben und verschränkte seine Arme vor der Brust.

»Du... sprechen Tekanda?«, fragte der kleine braune Mann mühsam und mit einem fürchterlichen Akzent.

»Ja«, bestätigte Skar. »Ich spreche Tekanda.«

Und plötzlich begriff er, erinnerte er sich an Menschen, die er schon längst vergessen geglaubt hatte, an die dunklen, grünbraun gemusterten Kleider, die sie in einem Wald genauso gut tarnten wie hier im finsteren Teil der Höhle, an Körbe voller kleiner, beerenartiger Früchte, hölzerne Schalen und feinmaschige Netze aus geflochtenem Gras, die ihr alltägliches Werkzeug darstellten.

Die Männer waren Nahrak, Hüter des Wandernden Waldes. Es war wie der Rückfall in eine weit entfernte Ewigkeit, in eine Vergangenheit, die so fremd und verschüttet war, dass ihm seine eigenen Erinnerungen wie die eines anderen vorkamen.

Del und er hatten die Nonakeshwüste durchquert, gejagt von einer Horde Quorrl. Er hatte bei dem Kampf mit den Verfolgern zahlreiche Verletzungen davongetragen, aber Del war schlimmer dran gewesen: Seine Schulter war bis auf den Knochen gespalten. Fast wahnsinnig vor Durst, ausgedörrt und kraftlos waren sie auf den Wandernden Wald gestoßen, einem von einem unterirdischen Fluss gespeisten gigantischen Waldstück, das mit wuchernder Beharrlichkeit immer weiter hinauskroch in die Wüste, gehegt von den Hütern des Waldes, kleinen, braunen Menschen ...

... den Nahrak!

»Was macht ihr hier?«

»Wir sind die Hüter«, sagte der kleine Mann mit großem Ernst. »Müssen schützen.«

Skar nickte. Die Nahrak waren nicht die einzigen Bewohner des Wandernden Waldes gewesen, sondern eher so etwas wie seine Gestalter, die Architekten und Bewahrer eines künstlich geschaffenen Wunders. »Ihr seid Nahrak?«, fragte er.

»Ja«, sagte der Mann einfach. »Mein Name ist Kama. Aber das ... das ist nicht wichtig.«

»Nicht wichtig?«, ächzte Esanna. »Du kennst sie, Skar?« Er nickte. »Sein Volk, ja. Aber es ist lange her ...«

»Wir müssen uns beeilen«, sagte Kama.

»Wieso?«, fragte Skar, während sich seine Gedanken überschlugen. Er verstand nicht, warum die Nahrak hier plötzlich aufgetaucht waren - ohne Waffen und trotz der beißenden Kälte nur mit ihren üblichen leichten grünbraunen Kleidern gekleidet -, aber er war sich so gut wie sicher, dass von ihnen keine Gefahr ausging. Ganz im Gegenteil. Die Männer wirkten besorgt, aber nicht etwa, weil sie auf ihn und Esanna gestoßen waren, sondern ... weil hier vielleicht noch etwas anderes war, auf sie lauerte, etwas, das das Geräusch am Höhleneingang verursacht hatte.

»Gehen«, drängte Kama. »Schnell.«

Skar packte Esannas Arm. »Wir sollten besser tun, was er sagt«, meinte er.

»Wieso?«, wollte Esanna wissen.

»Weil es besser sein«, sagte Kama. »Schnell!«

Der Kreis der kleinen Männer schloss sich enger um sie und einen Moment lang fürchtete Skar, dass er einen Fehler gemacht hatte, dass es falsch gewesen war, den Hütern des Waldes zu vertrauen. Wieso waren sie überhaupt hier? Was wollten sie und wovor warnten sie ihn? Aber dann sagten ihm sowohl Gefühl als auch Verstand, dass von diesen Männern keine Gefahr drohte, zumindest im Moment nicht, aber dass es dafür hier etwas ganz anderes gab, eine unheimliche, unaussprechliche Gefahr, deren Anwesenheit er instinktiv schon seit Stunden gespürt hatte, die in seine Visionen eingedrungen war und die ihm nun von Sekunde zu Sekunde bewusster wurde.

Auch Esanna schien es zu spüren, denn ihre Füße bewegten sich immer schneller, gefangen und beschützt von den Nahrak, die sie und Skar zurückdrängten, in Richtung Lagerfeuer. Die kleinen Männer bewegten sich so geschickt, dass weder einer von ihnen an einen Felsvorsprung anstieß noch Skar und das Mädchen Gefahr liefen, irgendwo anzurempeln.

»Da ist was«, keuchte Esanna, als sie die Hälfte der Strecke zum Feuer zurückgelegt hatten.

»Still«, zischte Kama kaum hörbar.

Während sie weiterliefen, versuchte Skar das flackernde Halbdunkel zu durchdringen. In den Schatten der Nischen und Vorsprünge glaubte er etwas Dunkles, körperlos Rauchiges wie schwarzen Nebel hervorquellen zu sehen, eine schwarze, von schauderhaftem, schleimigem Leben erfüllte Masse, die sich wie eine finstere Woge über den Boden ergoss. Ein dumpfes Rascheln und Schaben wie das Geräusch unzähliger kleiner, horniger Füße hallte von den Wänden wider und etwas wie Raubtiergestank, vermischt mit einem ekelhaften, an verfaulten Seetang erinnernden Geruch, wehte zu Skar hinüber.

»Vorsicht!«, schrie er. »Vor uns!«

Die Nahrak schienen die Gefahr gleich ihm instinktiv wahrzunehmen und bremsten ihren eleganten Lauf ab. Nur Esanna reagierte mit unerträglicher Trägheit, starrte mit tiefem Nichtbegreifen auf das bizarre Bild, während sie gleichzeitig einen der Nahrak anrempelte und fast gestrauchelt wäre, wenn Skar sie nicht am Handgelenk gepackt und zurückgerissen hätte.

Die Hüter des Waldes reagierten wie eine gut ausgebildete Söldnertruppe. Mit hohen, hellen Schreien wichen sie zurück, bildeten um Skar und das Mädchen eine Schutzmauer, fast wie eine Leibgarde, und drängten sie wieder zurück, in Richtung Höhle.

Keine Sekunde zu früh. Der Boden unter ihnen zuckte und bebte, als wäre er ein lebendes Wesen. Die Wände selbst schienen zu gespenstischem Leben erwacht zu sein, zogen sich zusammen, pulsierten, führten komplizierte, rasche Bewegungen aus, wie die Zuckungen eines Todkranken. Im flackernden, kaum wahrnehmbaren Licht, das vom Dunkel fast vollständig aufgesogen wurde, vollzog sich die Umwandlung von etwas so Fremdem und Bösartigem, dass Skar den Odem des Todes wahrzunehmen glaubte.

»Lauf, Esanna«, schrie er voller Panik. »Lauf!«

Seine Beine bewegten sich ohne sein Zutun, fielen in einen schnellen Rhythmus, im Gleichklang mit den elastischen und erstaunlich kraftvollen Bewegungen der Nahrak. Esanna konnte jetzt gar nicht mehr anders, als mit schnellen Schritten zurückzustolpern; eingeschlossen in die Gruppe der schlanken, braunen Männer, die ohne jede Absprache wie ein Lebewesen handelten, jagten sie und Skar unglaublich schnell zurück.

Die dunklen Schleier begannen sich zu verdichten, wurden zu einem länglichen, fließenden Umriss, wie die Finger einer gigantischen Hand, die mit erbarmungslosem Griff nach ihnen langte. Etwas Gewaltiges, Formloses raste auf sie zu, griff nach dem direkt vor Skar laufenden Mann und schleuderte ihn zu Boden. Der Nahrak schrie auf: ein grausiger, spitzer, gellender Schrei, der sich mit dem berstenden Geräusch seines Aufpralls mischte und dann mit erschreckender Plötzlichkeit abbrach.

Als wären die an den Wänden entlanggleitenden Schatten zu Leben erwacht, schoss erst ein weiterer, dann noch einer und schließlich eine ganze Gruppe der widerlichen Kreaturen auf sie zu. In diesem einen Sekundenbruchteil, der sich zur Ewigkeit dehnte, durchlebte Skar seine erste Begegnung mit diesen Wesen: auf einem Gemälde in Went, der Hauptstadt des wandernden Waldes von Cearn. Obwohl der Eindruck, den dieses plastisch und lebendig wirkende Gemälde bei ihm hinterlassen hatte, eine Ewigkeit zurücklag, war er doch gleichzeitig ungeheuer frisch und von geradezu ekelhafter Präsenz - eine schwarze, unangenehm anzuschauende Masse, die an ein Nest sich windender Schlangen, an Spinnenbeine und glitschige Krakenarme erinnerte, die wie damals auf dem Gemälde nun in der Wirklichkeit zu ihm vorschossen. Er hatte sich damals versucht vorzustellen, wie es sein musste, einer derartigen Scheußlichkeit wirklich gegenüberzustehen, aber allein der Gedanke daran hatte ihn erfüllt mit Furcht, beinahe Panik ... PANIK!

Die Höhle verwandelte sich von einem Moment auf den anderen in einen brodelnden Hexenkessel, in dem er keine einzelnen Bewegungen mehr wahrzunehmen vermochte, sondern nur noch ein gewaltiges Stürmen und Brodeln undefinierbarer Bewegungen. Schon einmal hatte Skar gegen die Khtaám gekämpft, gegen die schwarzen Nachtmahre des Grauens, die Wiedergeborenen, vor denen es kein Entrinnen gab und die ihn nach kurzem, verzweifeltem Kampf geschlagen hatten - irgendetwas klatschte gegen Skars Rücken und versuchte sich mit Millionen und Abermillionen winziger spitzer Zähne festzukrallen. Ein grausamer Schmerz zuckte durch seine Eingeweide. Sein Rücken schien in Flammen zu stehen. Er schrie, taumelte einen Schritt und brach mit einem wimmernden Laut in die Knie.

Aber das war Vergangenheit, verdammt, und er durfte nicht zulassen, dass sich der Kreis der Geschichte auf so sinnlose Art schloss.

Dann waren sie heran, Hunderte, wie es Skar schien. Mit einem unerträglichen Fauchen, grässlichen Lauten, die sich geradewegs in die Gehörgänge zu fressen schienen, stürzten sie sich auf die Nahrak.

Die Männer handelten bewundernswert kaltblütig und geschickt. Mit geradezu übernatürlicher Geschwindigkeit tauchten sie unter den Angreifern weg, wichen zur Seite, wehrten mit bloßen Händen und Füßen mehrere der Alptraumkreaturen ab, schleuderten etliche von ihnen zurück - wäre es nicht eine so bedrohliche Situation gewesen, hätte ihnen Skar Beifall gezollt. Doch so begriff er, dass sie trotz all ihrer Anstrengungen den wütenden Angriff nicht zurückwerfen konnten. Sie waren wie kleine, bewegliche Bäume, die einem Wirbelsturm erstaunlich lange zu trotzen vermochten, doch den Gewalten auf Dauer nichts entgegenzusetzen hatten - wenn der Angriff zu gewaltig war.

Und das war er. Die Khtaám brachen wie eine wogende Flutwelle über sie herein und die Nahrak waren der Staudamm, der die Welle zu brechen versuchte. Es gelang ihnen erstaunlich lange. Doch dann wurde ein Nahrak von einem widerlich saugenden Ungeheuer getroffen, das sich in seiner Schulter festbiss. Das Wesen war eine Ausgeburt der Hölle, eine Mischung zwischen Spinne und Tintenfisch mit mindestens einem Dutzend Fangarmen, kaum größer als eine Männerhand, aber gefährlicher als alle Lebewesen, die Skar auf Enwor kennen gelernt hatte, und als der Mann direkt neben ihm in die Knie ging, war er schon heran, ließ sein Tschekal eine aus dem Handgelenk kreisende Bewegung vollführen. Das Schwert schlitzte die Kreatur in der Mitte auf, trennte sie in zwei Hälften, ohne der Schulter des Nahrak mehr als nur einen kleinen blutigen Kratzer zuzufügen, und mit zwei kurzen seitlichen Hieben wischte Skar die sich noch immer windenden Körperteile des Khtaám zur Seite. Und doch war es zu spät. Das Gift der Kreatur war schon in den Körper seines Opfers gedrungen, die unzähligen spitzen Zähne des Monsters hatten sich einen Sekundenbruchteil zu lange in sein Fleisch gegraben. Der Mann war dadurch nur einen kurzen Augenblick lang angeschlagen, schwankte leicht und kam dann wieder auf die Beine. Aber diese kurze Zeitspanne hatte drei weiteren Monstren genügt, um seine unbeholfene Verteidigung zu durchbrechen und sich in seinen Körper zu vergraben: Eines hatte sich in seinen rechten Oberschenkel verbissen, ein weiteres seine linke Hand erwischt - das Dritte aber, ein sich widerlich schlangelndes und zuckendes Etwas, klatschte erst gegen seine Schulter und wand sich dann um seinen Hals; es sah aus wie ein lebendig gewordener Alptraum eines Halstuchs, das seinen Besitzer erdrosseln wollte.

Skar war mit einem Satz bei ihm und sein Schwert sauste nahezu unsichtbar hinab, grub sich in die Kreaturen, zerstückelte sie, als wäre es ein eigenständiges Lebewesen, und obwohl dieses Tschekal weit schlechter ausbalanciert war als sein eigenes, vor dreihundert Jahren verschollenes, glitt es so schwerelos durch die Luft und die schleimig-feste Masse der Khtaám, als wäre es mit Skar verwachsen. Und doch hatte der Nahrak keine Chance. Die sich um seinen Hals windende Kreatur war nicht mehr als ein von Skars Schwert zerstückeltes Etwas, aber es war noch Leben in ihm, widerliches, unnatürliches Leben, das nichts anderes kannte als den Willen zur Vernichtung, zur Versklavung oder Schlimmerem. Das Blut, das aus dem Hals des Nahrak strömte, aus den hundert kleinen Wunden, die ihm der Nachtmahr zugefügt hatte, und den wenigen, nicht allzu tiefen Schnitten, die Skar bei seinem Befreiungsversuch in seine Haut geritzt hatte, vermischte sich mit etwas ekelhaft Schleimigem, einer fast schwarzen, öligen Flüssigkeit, in der die roten Farbtupfer wie Fremdkörper wirkten.

Der Nahrak schrie auf und trotz des Tobens um sie herum hallte sein gellender Schrei noch in Skars Ohren weiter, als sich der Mann schon zusammenkrümmte, mit einer verzweifelt vorgestreckten Hand ein, zwei, drei weitere Khtaám abzuwehren versuchte, die ebenfalls auf seinen Hals, seine Schultern und sein Gesicht zuhielten und schließlich mit blitzschnellen Bewegungen einhüllten, sodass sein ganzer Kopf von einer schmierigen, zappelnden Masse bedeckt war, noch bevor er zu Boden stürzte.

Skar blieb keine Zeit, sich über den Todgeweihten Gedanken zu machen. Nachdem die lebendige Mauer der Nahrak erst einmal an einer Stelle durchbrochen war, kippte das Gleichgewicht und es wurde offenbar, dass sie alle in kürzester Zeit den ersten Opfern folgen würden. Skars Klinge glich einem Wirbelwind, der sich durch nachtschwarze, tentakelzuckende Ungeheuer fraß. Mit der gleichen Eleganz und Zielstrebigkeit versuchte er Esanna zu schützen. Das Mädchen presste sich ganz instinktiv an seinen Rücken, ohne dort aber auch nur einen Moment lang sicher zu sein, denn der Tod stürmte jetzt von allen Seiten auf sie ein. Die Khtaám rasten mit pfeilschneller Geschwindigkeit heran, umschlangen einen Mann in tödlicher Umarmung und zermalmten ihn, noch während er in die Knie ging, sodass eine ekelhafte Gischt aus Blut, Knochensplittern und Gewebeteilen hochspritzte und alles benetzte. Währenddessen jagte ein ganz ineinander verklumpter, zuckender Ball mehrerer Ungeheuer auf einen weiteren Nahrak zu und schmetterte ihn mit der Kraft einer Riesenechse zu Boden, bevor sich die Nachtmahre züngelnd über ihn ergossen und ihr fürchterliches Mahl begannen.

Skar begriff, dass sie keine Chance mehr hatten ihren unglaublich schnellen und aggressiven Angreifern zu entkommen, aber der Instinkt des Kriegers zwang ihn seine Anstrengungen nochmals zu vervielfachen. Um sich auch nur einigermaßen seiner Haut erwehren zu können, hätte er in diesem Moment vier Arme und vier Schwerter gebraucht, und selbst dann hätte er sich nicht durch die schwarze, tentakelbewehrte Wand vorwärts kämpfen können, um den rettenden Höhlenausgang zu erreichen, geschweige denn, für seine und Esannas Sicherheit garantieren können.

Es war aus - AUS - und obwohl er das begriff und obwohl er keine Hoffnung mehr kannte, kämpfte er mit einer schier unmenschlichen Kraft und Geschicklichkeit weiter. Etwas in ihm schrie auf, wie ein verwundetes Tier, während er gleichzeitig sein Tschekal in eine tiefschwarze Wolke tintenfischähnlicher Monstren zucken ließ wie ein Gewitter seine Blitze in eine ihm schutzlos ausgelieferte Landschaft. Etwas schwarz Glänzendes mit viel zu vielen peitschenförmigen Tentakeln schrammte an seinem Gesicht vorbei und zwang ihn zu einer blitzschnellen Drehung, die Esanna aus der Deckung seines Körpers brachte.

Als hätten die Khtaám nur darauf gewartet, stürzten sich gleich mehrere auf das Mädchen. Esanna schrie auf und riss schützend die Hände vors Gesicht; sie versuchte nicht einmal ihr Messer zu ziehen und sich damit gegen die Nachtmahre zur Wehr zu setzen. Doch dafür geschah etwas ganz Anderes, schier Unglaubliches: Kurz bevor die schwarzen Ungeheuer heran waren, stieß Esanna die Hände nach vorne und mit Bewegungen, die so schnell waren, dass selbst Skar sie nicht mehr mit dem Auge verfolgen konnte, schlug sie die schleimigen Monster beiseite. Für einen winzigen Augenblick hatte er das Gefühl, dass Esanna tatsächlich mehr als zwei Arme hätte, als hätte sich sein verrückter Wunsch für sie erfüllt, um ihr die Möglichkeit zu geben sich freizukämpfen, als wäre sie selber mit vielen kleinen peitschenähnlichen Extremitäten ausgestattet, die es ihr gestatteten, so unter den Khtaám zu wüten wie zuvor die Monster unter den Nahrak.

Skar kam nicht einmal für den Hauch eines Lidschlags dazu, das unglaubliche Schauspiel weiterzuverfolgen. Eine schwarze, ekelhafte Wolke raste auf ihn zu, so groß und so widerlich, dass er automatisch zur Seite sprang, sich abrollte und hinter den Ungeheuern wieder auf die Beine kam. Sein Tschekal stieß mit blitzschnellen Schnitten zwischen die ineinander verklumpte, zuckende und schwänzelnde Masse und riss sie auseinander.

Ein kurzer Blick zu Esanna zeigte ihm, dass sich das Mädchen - zumindest im Augenblick - auf unglaubliche Weise ihrer Haut zu wehren verstand, aber er lenkte ihn auch den entscheidenden Sekundenbruchteil ab, sodass er die nächste Angriffswelle der Nachtmahre nicht rechtzeitig kommen sah.

Ein Schlag traf seine Schulter. Für einen Moment spürte er einen furchtbaren, unerträglichen Schmerz, der sich wie eine weiß glühende Schlange tiefer und tiefer in seinen Leib grub, mit scharfen Zähnen an seinen Eingeweiden riss und unbarmherzig zerrte und wühlte. Dann begann auch schon etwas Dunkles, Schweres nach seinen Gedanken zu greifen; er krümmte sich, presste die Hände auf die Wunde und stürzte haltlos vornüber, während sein Schwert klappernd auf den Boden aufschlug und aus seinem Blickfeld verschwand.

Die Kampfgeräusche um ihn herum begannen sofort zu verschwimmen und in ihm war nichts mehr als Schmerz und gleichzeitig eine große Gleichgültigkeit, mit der er den Tod erwartete wie einen alten Freund. Aber er starb nicht und selbst die Erlösung der Ohnmacht wurde ihm nicht gewährt. Es war, als würden wabernde Schatten nach ihm greifen, sein Gehirn zusammenquetschen und seine Gedanken durcheinander purzeln lassen, als wäre schon immer nichts als Chaos in ihm gewesen.

Irgendwo nahm Skar dennoch die Kraft her, zur Seite zu greifen und sein Schwert aufzunehmen. Aber die Klinge schien plötzlich Tonnen zu wiegen. Er hatte kaum mehr die Energie, sie zu heben, und er konnte sich auch nicht auf irgendetwas konzentrieren, weder auf einen Angriff noch auf einen so kindischen Plan, wie sich einfach tot zu stellen. Noch immer spürte er einen brennenden Schmerz, der sich wie ein glühender Draht seinen Rücken und den Hals hinaufzog, aber er hatte gelernt aus Schmerz Energie zu machen und die Energie zu nutzen, um sich freizukämpfen, wann immer das nötig war.

Dass er dazu nicht seinen Verstand brauchte, war sein Glück. Wie von selbst stemmte er sich nach oben. Das Chaos in seinem Kopf kam wie brüllendes Höllenfeuer über ihn, riss alles weg, was ihn jemals am Leben erhalten hatte bis auf diesen ganz tief in ihm verwurzelten Kern, die elementarsten Instinkte des geborenen und hervorragend geschulten Kriegers, der zu kämpfen gelernt hatte, ohne von störenden Gedanken oder gar Zweifeln abgelenkt zu werden.

Ein Blitz aus schwarzem Nebel streifte eisig und gleichzeitig erbärmlich stinkend sein Gesicht. Sein Schwert zuckte nach oben, folgte der Bewegung des Khtaám und grub sich tief in das schwarze zappelnde Etwas, das ihm den Todesstoß hatte versetzen wollen.

Dann war er wieder auf den Beinen. Er bemerkte überhaupt nicht die Veränderung um sich herum, er nahm nichts mehr bewusst wahr, er war nur noch eins mit seinem Tschekal und eins mit dem brennenden Verlangen, um jeden Preis zu überleben. Sein Schwert wütete wie ein Dämon unter den Nachtmahren, vernichtete sie mit einer Schnelligkeit und Präzision, mit der diese Klinge sicherlich noch nie zuvor bewegt worden war. Doch schließlich erlahmten seine Bewegungen, verloren an Kraft und Geschmeidigkeit, verlangsamten sich auf ein normales Maß und damit auf eine Geschwindigkeit, mit der den Khtaám nicht mehr beizukommen war.

Mit einer letzten schwungvollen geschlagenen Acht erwischte er zwei der Ungeheuer. Torkelnd stolperte er einen Schritt vor, stieß die Klinge vollkommen blind und ohne zu treffen in die Luft und brach dann abermals zusammen, mitten hinein in widerlich zuckendes Gewirr abgeschlagener Tentakel und zerschlagener Schleimteile. Ein letztes Mal begehrte sein Geist auf, gewann sein Verstand die Kontrolle über die Gedanken und riss den Schleier des Fremden, ihn vernichten Wollenden entzwei und erwischte einen letzten Blick auf Esanna, die wie durch ein Wunder immer noch auf den Beinen war und sich so schnell zu bewegen schien, dass ihr seine Augen nicht mehr zu folgen vermochten.

Dann verschwamm die Szene, riss auseinander wie ein Gemälde, in das ein Schwert geschlagen wurde, und erlosch.

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