Nachdem sie den Höhlenausgang hinter sich gelassen hatten, schraubte sich der Drache mit gewaltigen Bewegungen seiner Riesenschwingen immer höher und hielt auf die dünne Wolkendecke zu, als wolle er etwaige Verfolger abschütteln. Einen gewaltigen Flügelschlag später durchstieß er das feuchte Nass und dann breiteten sich die Wolken unter ihnen auch schon aus; ein flockiges Meer aus Zuckerwatte, durch dessen Lücken es grün und braun schimmerte. Nach Minuten, die Skar wie Stunden vorkamen, breitete der Frarr seine ledernen Flügel so breit wie möglich aus und vertraute sich den Aufwinden an, die ihn erst noch ein Stück höher gleiten ließen, bis sie ein entgegengerichteter Luftwirbel sanft und dann immer schneller hinab drückte. Sie durchstießen für einen kurzen Moment die Wolkendecke und schossen in eine beeindruckende frühmorgendliche Landschaft hinaus; doch bevor Skar Einzelheiten ausmachen konnte, tauchten sie erneut zwischen zwei Wolkenschichten ein - so als ob der Frarr ihren Schutz suchte, um sich möglichst unauffällig in eine friedvolle und unberührt wirkende Welt hineinzuschwingen Es war ein unglaublich erhabenes Gefühl, auf dem Rücken des jetzt friedlich gleitenden Drachens zu sitzen und das hinter sich zu wissen, was schlimmer als der schlimmste Alptraum war, der je einen Menschen aus dem Schlaf hochgeschreckt hatte. Sie durchstießen eine dichtere Wolkenschicht, die träge vor sich hin trieb und stießen hinauf in einen Bereich, in dem nichts war außer Sonne: Die flirrenden Strahlen spielten mit Esannas Haar, verliehen ihren dunklen, von Schweiß und Blut verklebten Haaren eine lichtdurchflutete Aura, die etwas Unwirkliches und Friedliches hatte wie der erste Frühlingstag nach einem harten Winter. Skar spürte den Wind auf seinen nackten Beinen und Esannas Wärme an seinen Armen und er fragte sich, warum sie nicht ewig so weitergleiten konnten durch die Unendlichkeit dieses frühen Morgens, um für immer alles hinter sich zu lassen, was mit Gewalt, Grausamkeit und Tod zu tun hatte.
Skar umklammerte Esanna instinktiv fester, als eine mächtige Wellenbewegung durch den Drachenkörper lief und sie noch ein Stück höher stiegen. Viele Meter über ihnen wob das Sonnenlicht ein verwirrendes Netz aus flirrenden Rechtecken in die Luft, das nach den endlosen Stunden in dem lebenden Tunnel- und Höhlensystem geradezu wie eine Verheißung auf ihn wirkte. Die vor ihm sitzende Esanna eng umklammernd, deren Zittern sich eher noch verstärkt hatte als nachzulassen, starrte er hinein in das ihm entgegenschlagende, gleißende Lichtspiel, das seine Augen mit einer wahren Woge von Helligkeit überflutete, sodass er sie für ein paar Sekunden fast vollständig schloss, bevor er sie vorsichtig wieder zu schmalen Schlitzen öffnen konnte. Dann hatten sie die Ausläufer der Wolkendecke erreicht und um sie herum war nichts als strahlend blauer Himmel. Trotz seiner Erschöpfung konnte Skar die Augen nicht vor dem phantastischen Anblick verschließen, der sich ihm bot. Es war ein gigantischer Canon, der sich unter ihnen auftat, eine tiefe Schlucht, eingeschnitten von einem brausenden Fluss, der weit unter ihnen in wildem Lauf das steinerne Land durchpflügte, irgendwo, weit weg, nahe am Horizont einen See durchquerte und fast direkt unter ihnen mit seiner tobenden Gischt ein unberührt wirkendes, weitläufiges Waldgebiet speiste. Zerklüftete, vom Regen und der Witterung abgewaschene und wie der Rücken einer alten Frau gebogene Steinmassive ragten ihnen entgegen und schimmerten im Licht der aufgehenden Sonne hell und weiß, als läge auf ihnen frischer Schnee.
Der Kontrast hätte kaum großer sein können: Hinter ihnen lag das Reich dunkler, unbegreiflicher Schatten, eine nicht nur düstere und gefährliche Welt für sich, sondern auch die Quelle der vielleicht unheimlichsten und grausamsten Bedrohung, der Enwor je ausgesetzt gewesen war. Vor ihnen eröffnete sich dagegen eine taufrische, unschuldig wirkende Landschaft, die in ihrer Großartigkeit nicht nur beeindruckend war, sondern auch tiefen Frieden versprach - und damit auch die Erholungspause, die sie alle so dringend brauchten.
Das erste Hochgefühl bei diesem idyllischen Anblick und die Erleichterung, ihrer lebenden Falle entkommen zu sein, währte jedoch nicht lange an. So harmonisch und erhaben die gewaltige Landschaft auch wirkte, berührte sie Skar fast zwiespältig. Es war der Fluss, der weit unter ihnen im Berg verschwand, der in ihm unangenehmes, fast hartnäckiges Kribbeln auslöste. Er konnte sich nur allzu gut vorstellen, wo die gischtende Flut verschwand und was sie nährte: Das unterirdische Meer am Boden des Schlunds, diesen Pfuhl sich windender, unvorstellbarer Kreaturen, die einen ganz eigenen Eroberungsfeldzug gestartet hatten, ohne dass die Bewohner Enwors auch nur im Entferntesten die Gefahr ahnten, die von ihnen ausging ...
Doch das war nicht das, was ihm im Augenblick Sorge bereitete. Der wenig Vertrauen erweckende Frarr verhielt sich durch Kamas spezielle Kontrollmöglichkeit zahm wie ein Schoßhündchen, aber er hatte trotz seiner gewaltigen Schwingen offensichtlich Probleme seine drei Reiter sicher durch die jetzt zunehmenden Luftturbulenzen zu transportieren. Hin und wieder ging ein Ruck durch seinen mächtigen Körper und sie sausten ein Stück in die Tiefe, bevor der Drache seinen Flug wieder stabilisieren konnte. Skar, der bereits früher nicht immer die Gelegenheit hatte ausschlagen können mit einer Daktyle zu fliegen, kannte das Verhalten der großen Flugdrachen und wusste, wie unberechenbar sie waren, wenn sie von mehr als einem gewohnten Reiter durch die Lüfte bewegt wurden. Er hatte sich nie ganz mit dieser Art der Fortbewegung anfreunden können, aber er empfand mittlerweile auch kaum mehr als ein leichtes Unbehagen, wenn die Flugechse für ein paar Sekunden von der idealen Flugbahn abwich.
Esanna erging es da wesentlich schlechter. Sie hatte die Hände in die harten Schuppen der Echse gekrallt, die so ineinander griffen, dass dadurch fast so etwas wie natürliche Haltegriffe entstanden, und sie saß so fest eingeklemmt zwischen zwei Höckern, dass sie selbst bei einem abrupten Abkippen zur Seite nicht hätte herunterfallen können.
Zudem hielt sie der hinter ihr sitzende Skar in solch festem Griff umklammert, dass er sie selbst dann nicht hätte loslassen müssen, wenn der Drache plötzlich einen Salto geschlagen hätte.
Doch solch gefährliche Flugmanöver waren nicht zu erwarten. Während der Drache mit schwerfälligen, durch seine ungewohnte Reitlast erschwerten Flugbewegungen sein Gleichgewicht zu halten versuchte, schlug die Anstrengung und Erschöpfung mit unbarmherziger Macht und von einem Moment auf den anderen über Skar zusammen, und es hätte nicht viel gefehlt und er wäre in einen unruhigen Dämmerschlaf gefallen. Der unsichtbare Folterknecht in seinem Geist gestattete es jedoch nicht, dass ihn wohlige Umnachtung umfing; stattdessen hielt eine Unruhe in ihm an, die er normalerweise als überdreht empfunden hätte - was sie letztlich wohl auch war -, die ihm andererseits aber als Nachhall nicht nur der Geschehnisse allgemein, sondern vor allem der monströsen Begegnung mit Kiina erschien. Selbst, nachdem er gesehen hatte, in was sich das mannigfaltige Abbild seiner Tochter verwandelt hatte, glaubte irgendein Teil in ihm immer noch, dass er der über den Abgrund der Zeit verschollenen Kiina gegenübergestanden hatte; so verrückt und sinnlos es auch war.
Die Flugechse machte plötzlich eine scharfe Linkskurve und Skar verstärkte automatisch den Druck, mit dem er Esanna festhielt, während er hinabspähte und die Ursache der Richtungsänderung zu erkennen versuchte. Kama, der immer noch mit einer Selbstverständlichkeit direkt vorne hinter dem Kopf der fliegenden Bestie hockte, als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes getan, drehte sich zu ihm herum und schrie ihm etwas zu.
Skar verstand nur die Worte nicht und steuern und schüttelte den Kopf, um ihm zu signalisieren, dass er die vom auffrischenden Wind zerrissene Botschaft nicht komplett verstanden hatte.
»Ich ihn nicht mehr lange kann steuern«, rief Kama nochmals.
Eine Bö schlug ihm fast die Worte aus dem Mund. Sie mussten in heftige Aufwinde gekommen sein, denn obwohl der Drache jetzt den Kopf vornüber und ein Stück nach unten gebeugt hatte und offensichtlich tiefer gehen wollte, drückten ihn die Turbulenzen wieder ein Stück nach oben. Esanna stieß einen Schrei aus und krümmte sich in die Schuppen hinein, als fürchtete sie, dass sie jeden Moment abstürzen könnten.
Vollkommen abwegig war diese Vorstellung nicht.
Skar hatte schon oft beobachtet, dass große Flugechsen empfindlicher als Raubvögel auf Aufwinde reagierten und einmal hatte er sogar beobachtet, wie ein mächtiger Staubdrache von einer thermischen Turbulenz an einen Felsen geschmettert wurde; die gigantische Echse hatte dabei ihren Reiter verloren und selbst so schwere Verletzungen bei dem Aufprall davongetragen, dass ihr danach nur noch mit Mühe und Not eine Landung gelungen war. Skar hatte keine Lust auszuprobieren, wie sicher das Flugverhalten des Frarr unter ähnlichen Bedingungen war. Er konnte nur hoffen, dass Kama wusste, was er tat. Seine Befürchtung, die Echse nicht mehr lange steuern zu können, trug dabei allerdings nicht gerade zu seiner Beruhigung bei.
Es war ein großer Felsen, den die Echse jetzt umrundete, und hier schienen Winde aus verschiedenen Richtungen förmlich aufeinander zu prallen; sie wurden so heftig durchgeschüttelt, dass sich jetzt auch Skar mit aller Gewalt in den Halt der Schuppen duckte, um nicht von einer Bö heruntergerissen zu werden.
»Warum landen wir nicht?«, brüllte er Kama zu, aber wahrscheinlich hörte ihn der Nahrak gar nicht; er war vollständig damit beschäftigt, den Drachen durch die tobenden Winde zu steuern.
Es war Skar ein Rätsel, was Kama vorhatte. Eben noch hatte sie eine nicht allzu weit entfernte liebliche Waldlandschaft angelockt, nahe an einem Plateau gelegen, das wie für eine Landung gemacht schien. Von dort aus hätten sie ohne ihren speziellen und nicht ganz geheuren Rettungsengel zu Fuß weitergehen können - nach einer ausgiebigen Rast und nachdem sie ihre Wunden versorgt hatten. Doch nun ließ der Nahrak die Echse in die entgegengesetzte Richtung fliegen, mitten hinein in gefährliche Turbulenzen und damit in die sonnenabgewandte Seite des Berges, aus dessen Schoß sie gerade erst entflohen waren.
Vor ihnen tat sich jetzt eine karge und düstere Landschaft auf; Schnee bedeckte die Wipfel weniger, krank aussehender oder sogar abgestorbener Bäume, Nebelschwaden zogen über feuchtes, finsteres Buschwerk und schroffe Felsen bildeten eine natürliche Barriere, die zu überwinden dem Drachen sichtlich schwer fiel. Es war dies die Seite, über die sie zur Höhle hinaufgestiegen waren - und Skar wäre es lieber gewesen, sie nie wieder zu sehen.
»Warum fliegen wir weiter?«, schrie er gegen den Flugwind an. »Wir hätten doch auf der anderen Seite niedergehen können.«
Kama drehte sich kurz zu ihm um. Er wirkte irritiert.
»Wir müssen weiter weg«, brüllte er. »Weg vom Fluss.« Zu seiner eigenen Verblüffung löste diese Antwort des Nahrak in ihm eine tiefe Resonanz aus, so als würde etwas in ihm verstehen, warum der Fluss eine Bedrohung für ihn war. Doch auch wenn ihr Schwenk in die kalten, unfreundlichen Regionen begründet sein mochte, war er doch höchst unerfreulich und raubte ihm die Illusion, dass sie nach der Landung in einer sonnendurchwärmten, friedlichen Landschaft Ruhe und Entspannung finden könnten. Dabei, hatten sie das bitter nötig. Sie alle hatten grauenvolle Stunden hinter sich, hatten Dinge erlebt, die selbst seinen nicht gerade geringen Erfahrungshorizont mühelos gesprengt hatten, und sie konnten das nicht so einfach wegstecken, ohne früher oder später dafür bezahlen zu müssen.
Die Kälte kroch schon jetzt seine nackten Beine empor und ließ ihn frösteln. Doch trotz der kalten, frischen Luft und dem durchaus nicht gerade Vertrauen erweckenden Gelände, auf das sie zusteuerten, fiel es ihm zunehmend schwerer, seiner Umgebung die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Immer wieder fiel er in einen Sekundenschlaf, tauchte nur kurz wieder an der Oberfläche seines Bewusstseins auf, um dann wieder in die Dämmerung kurzen Vergessens hinabzugleiten.
Der Flug dauerte nur noch wenige Minuten, aber Skar war so müde, dass er innerhalb dieser Zeitspanne beinahe eingeschlafen wäre. So entscheidend wichtig es ihm auch erschien, bekam er von der Landung der Riesenechse kaum etwas mit. Erst als der Frarr auf einem halb eingeschneiten, halb matschigen Plateau niedergehen wollte, ruckte sein Kopf wieder hoch.
Die Landung gestaltete sich kaum weniger abenteuerlich als der Start. Der Frarr donnerte mit der Wucht einer Gerölllawine auf eine kleine Lichtung zu, die kaum groß genug war, um ihm genug Platz zum Landeanflug zu lassen. Das schien ihn jedoch nicht weiter zu kümmern, im Gegenteil: Inmitten eines ungeheuren Luftsogs ließ er sich geradezu auf die Lichtung fallen, eher einem Stein ähnlich als einem Vogel, der federsanft aufsetzen wollte.
Esanna stieß einen spitzen Schrei aus und Skar verstärkte den Griff, mit dem er sie hielt, bis er begriff, dass es des Guten vielleicht ein wenig zu viel war, und ihn erschrocken wieder lockerte.
Erst im allerletzten Moment breitete der Drache die Schwingen fast senkrecht aus und nutzte so eine Luftturbulenz, die er wohl als Einziger schon von weitem zu spüren im Stande gewesen war. Die ganze, ungeheuerliche Flugechse erbebte, als das Monstrum mit einem harten Ruck auf dem Boden aufkam, die Schwingen halb angezogen, damit sie eine möglichst große Fläche bildeten, um Geschwindigkeit abzubauen, und den Hals grotesk nach vorne gestreckt, als wollte es ganz bewusst seine Reiter nach vorne und über seinen Kopf schießen lassen, damit sie sich möglichst allesamt das Genick brachen.
Skar hatte nicht vor, ihm diesen Gefallen zu tun. Seine blanken Beine krampften sich um den Rückenwulst zusammen und seine Arme schlangen sich so fest um Esanna, als wollte er ihr jetzt endgültig das Rückgrat brechen. Trotzdem prellte ihm der Aufprall fast das Mädchen aus den Händen und er selbst wurde ein Stück nach oben geschleudert und krachte mit solcher Gewalt wieder auf den Rückenwulst, dass er das Gefühl hatte, seine ungeschützte Männlichkeit würde zu Brei zerstampft.
Er stieß ein kraftloses Röcheln aus und hätte Esanna um ein Haar losgelassen - und damit zu früh, denn die gewaltige Echse schob ihre Klauen so tief und fest in den relativ weichen Boden, dass sie sich - bedingt durch die plötzliche Bremswirkung - beinahe überschlug; sie tippte mit ihrem mächtigen Schädel kurz auf dem Boden auf und riss den Schwanz und damit ihr ganzes Hinterteil in die Höhe, als wollte sie ihre Reiter nun endgültig abschütteln.
Skar hätte später nicht mehr zu sagen vermocht, wie er es in diesem Moment geschafft hatte, dem explosionsartigen Ruck zu widerstehen. Der Schmerz in seinem Unterleib brachte ihn fast um den Verstand und ließ bunte Flecken vor seinen Augen tanzen. Er klammerte sich gleichzeitig an den Körper der gigantischen Echse und an Esanna und spürte eine schreckliche Übelkeit in sich hämmern, die ihn zwang sich erneut vornüberzukrümmen und sich verzweifelt mit beiden Händen an ihr festzuklammern, da alles in ihm und um ihn herum sich wirbelnd drehte und der Schmerz in seinem Kopf und in seinem Körper eins waren.
Aber er schaffte es; als die Echse endlich zum Stillstand kam, saß er noch immer hinter Esanna auf dem unbequemen Rücken des Drachen, fast besinnungslos zwar, aber dennoch erleichtert, dass die Landung für ihn und das Mädchen noch einmal glimpflich abgelaufen war. Eine andere Frage war, was aus dem Nahrak geworden war ...
»Kama!«, stieß Esanna hervor.
Skar riss die Augen so weit er konnte auf und versuchte den Schmerz zurückzudrängen, was ihm allerdings nur sehr unvollkommen gelang. Dann begriff er, was das Mädchen gemeint hatte: Der Nahrak hatte nicht so viel Glück wie sie beide gehabt und war durch den Aufprall der Landung von der Echse geschleudert worden. Ein paar verzweifelte Sekunden vermochte Skar keine Spur von ihm auszumachen, doch dann entdeckte er ihn.
»Da ist er«, stöhnte er.
»Wo?«
»Na, da!« Skar streckte eine zitternde Hand nach vorne und deutete auf einen Baum, an dem eine kleine, grünbraun gekleidete Gestalt in sehr unglücklicher Haltung klebte. »Hoffentlich ist ihm nichts passiert.«
Eine Bewegung des Nahrak ließ ihn Hoffnung schöpfen. Kamas merkwürdig verdrehter Arm wischte ein paar Blätter beiseite und winkte ihnen dann. »Weg«, rief er mit heiserer Stimme. »Macht dass ihr runterkommt! Ich hab die Steuerung verloren!«
Skar und der Drache schienen gleichzeitig zu begreifen, was das hieß. Während der Satai das Mädchen am Kragen packte, aufsprang und sie mit zur Strickleiter schleifte, durchlief das grün geschuppte Untier ein Zittern und dann schwang sein mächtiger Kopf nach hinten. Mit tückischen Augen beobachtete er, wie Esanna mit zitternden Händen die oberste Sprosse der Leiter ergriff, dann schüttelte er sich, einmal kurz und heftig, aber so gewaltsam, dass sich unter normalen Umständen kein Mensch mehr auf seinem Rücken hätte halten können.
Esanna flog samt Strickleiter ein, zwei Manneslängen von dem gigantischen Leib weg und krachte dann wieder mit voller Wucht gegen den geschuppten Körper. Skar war weitaus weniger glücklich dran: Er verlor das Gleichgewicht, ruderte noch einmal hilflos mit den Armen und stürzte dann zu Boden. Wäre er nicht so angeschlagen gewesen, hätte er sich gekonnt abgerollt, um dann sofort wieder auf den Beinen zu sein. Doch so misslang die Rolle und er prallte hart auf dem Rücken auf. Mühsam rappelte er sich wieder auf - und hüpfte gleich mit ein paar raschen Sprüngen zur Seite. Dabei hatte der Drache offenbar keineswegs vor, ihn oder Esanna mit einer beiläufigen Bewegung zu töten. Er schien vielmehr seine wiedererlangte Freiheit zur Flucht nutzen zu wollen; möglicherweise hatte er so viel Respekt vor dem Teil, mit dem ihn der Nahrak beherrschen konnte, dass sein ganzer Trieb einzig und allein darauf ausgerichtet war, so schnell wie möglich seinem Einfluss zu entkommen.
Mit einem ganz und gar nicht schwerfälligen Tapsen schwang sich der Drache herum und jagte damit auch Skar zwangsläufig vor sich her, der sich mit einem schnellen Ausweichmanöver in Sicherheit zu bringen suchte. Das Mädchen hing währenddessen noch immer an der Strickleiter und schrie voller Entsetzen.
»Spring«, rief ihr Skar zu. »Nun mach schon!«
Esanna dachte offensichtlich gar nicht daran. Ihre gellenden Schreie zeugten davon, dass sie vollkommen in Panik geraten war. Statt einfach loszulassen, klammerte sie sich nur noch fester an das Untier.
Das war ein fataler Fehler, denn der Frarr donnerte bereits los, mit wuchtigen und schnellen Schritten, die den Boden erzittern ließen. Skar blieb nichts anderes übrig, als hinter ihm herzuhetzen. Der gnadenlose Schmerz zwischen seinen Beinen ließ jede Bewegung zur Qual werden und kostete ihm damit nicht nur Mühe, sondern auch Zeit; dabei kam es gerade jetzt auf jeden Sekundenbruchteil an, denn er wollte weder mit den gefährlichen Klauen der Echse Bekanntschaft machen noch Esanna ihrem Schicksal überlassen, die eine unfreiwillige Flugreise sicherlich nicht unbeschadet überstehen würde.
Mit Riesensätzen und schmerzverzerrtem Gesicht hetzte er dem Frarr hinterher. Es war erstaunlich, wie schnell der Gigant an Geschwindigkeit gewann; seine Sprungbeine verfügten über eine schier unglaubliche Elastizität und Kraft, die ihn vorwärts katapultierten, mit nichts vergleichbar, was Skar bislang auf Enwor kennen gelernt hatte. Skar holte das letzte aus seinem Körper heraus, um den Anschluss nicht zu verlieren. Dennoch glaubte er zuerst, dass er es nicht mehr schaffen würde - der Frarr hätte mittlerweile mühelos eine flüchtende Pferdeherde niederrennen können -, doch dann wich der Drache von der Ideallinie ab, wahrscheinlich um eine für ihn geeignete Luftströmung auszunutzen, und büßte dabei einen Teil seines Vorsprung ein.
Skar ließ sich diese Chance nicht entgehen. Er sprang mit einem zugleich verzweifelten und gewaltigen Satz hoch und erwischte Esannas Füße. Durch den Körper des Mädchens ging ein Ruck und ihr Schrei wurde noch um eine Spur schriller. Dennoch war sie immer noch nicht bereit loszulassen. Dem Drachen schien das egal zu sein: Er war offenbar willens mitsamt seiner menschlichen Last aufzusteigen. Wahrscheinlich glaubte er sie dann in der Luft mit Leichtigkeit abschütteln zu können.
Dazu wollte es Skar nicht kommen lassen. Während er sich noch immer an Esanna klammerte, versuchte er sein Tschekal zu ziehen. Es schien ihm die einzige noch verbleibende Chance zu sein, das Mädchen zu retten: Ein schneller Schnitt vermochte die Halterung der Strickleiter zu durchtrennen und sie damit herabpurzeln zu lassen, bevor der Frarr in die Lüfte entschwand.
Die heftigen Bewegungen der Strickleiter machten es ihm allerdings unmöglich, den Schwertgriff rechtzeitig zu erreichen; stattdessen musste er sich mit beiden Händen an Esanna festhalten, um nicht abgeschüttelt zu werden. Der Drache erzitterte und stieß sich mit einem monströsen Beben ab, hinein in den Himmel und damit weg von der Möglichkeit, ihn noch irgendwie unter Kontrolle zu bringen. In diesem Moment gaben die Stricke der Leiter unter der doppelten Belastung nach. Während der Drache mit phantastischer Geschwindigkeit in den grauen Himmel hineinjagte, stürzten Esanna und Skar zu Boden wie zwei Puppen, die von einem unartigen Kind in die Ecke geschleudert wurden. Der Aufprall schlug Skar die Luft aus den Lungen, als dann auch noch Esanna an ihm vorbeischrammte und dabei mit ihrem Fuß genau zwischen seine Beine traf, brach die Welt um ihn herum in einem bunten Farbwirbel zusammen.