Jeder einzelne Muskel in Skars Körper schmerzte, ihm war übel und er war mittlerweile so durchgefroren, dass seine immer noch unverhüllten Beine zwei Eiszapfen glichen, die gleichermaßen zerbrechlich und gefühllos über den aufgeweichten Boden staksten. Aber alles war besser, als auf dem feuchten Boden zu hocken und mitzuerleben, wie Kama Dinge aussprach, die er wohl für die Wahrheit hielt, die aber in erster Linie dazu gedacht waren, ihn und Esanna unter Druck zu setzen. Ganz nebenbei hatte er dabei begonnen, ihrer beider Leben zu sezieren und einen Bezug zwischen ihnen beiden herzustellen, eine Gemeinsamkeit anzudeuten, die Skar zwar selber unterschwellig die ganze Zeit über gespürt hatte, über die nachzudenken er aber nicht bereit war.
»Wenn ich nicht in mein Dorf zurückkehre, werde ich nie wissen, ob nicht doch noch jemand lebt«, sagte Esanna, die einen halben Schritt hinter ihm ging und ihm doch so nah war, dass er ihre Anwesenheit auch mit geschlossenen Augen gespürt hätte.
Skar spürte den Ernst ihrer Worte, aber auch die Verzweiflung dahinter. Aber er bemerkte gleichzeitig auch etwas anderes: eine zuerst kaum spürbare Veränderung, die sich über sie beide und das Tal legte, eine Veränderung in dem frostig kalten Luftzug, der nun plötzlich kleine Wirbel zu bilden schien, die sie wie Derwische umtanzten, und dann ein leises Säuseln, das von überall und nirgends zu kommen schien wie der Vorbote der Ankunft von irgendetwas, das sich ihnen auf eine vollkommen unbegreifliche Art zu nähern versuchte.
Das Auffälligste aber war das Zurückweichen des Nebels. Es war so, als flöhe das feuchte Grau vor ihnen, als wiche es zurück wie vor einem Feind, dem es sich nicht gewachsen wusste und den es erst wieder zu attackieren gedachte, wenn es sich seiner Sache sicher war. Der Nebel glitt geradezu zurück, rasch und mit fast bewusst wirkender Zielstrebigkeit machte er den Blick frei auf das Tal, durch das sie gestern Abend gekommen waren und das sie nun auch heute wieder zu durchschreiten gedachten.
»Der Nebel«, stotterte Esanna. »Wo ist er hin?«
»Das«, sagte Skar, »ist eine wirklich gute Frage. Vielleicht hat ihn ja Kama gestohlen.«
Esanna warf ihm einen Blick zu, als habe er den Verstand verloren. »Mir ist nicht nach dummen Scherzen zumute«, sagte sie dann, und es lag so viel Zerrissenheit in ihrer Stimme, dass sich Skar für seine unbedachte Antwort schämte.
Obwohl ihr Skar erst vorgestern zum ersten Mal begegnet war - war es tatsächlich erst vor zwei Tagen gewesen? Ihm kam es wie Jahre vor -, erkannte er die vielen kleinen Zeichen in ihrer Art zu reden und sich zu bewegen deutlich genug, um zu wissen, dass sie kurz vor dem Zusammenbruch stand. Äußerlich wirkte sie ruhig, aber hinter der Maske aus Gelassenheit und Ruhe brodelte es; dessen war er sich sicher.
Vielleicht auch deshalb, weil es ihm selber nicht viel besser ging.
»Ich finde es nicht gut, dass Kama alleine aufgebrochen ist, um den Frarr zu suchen«, sagte Esanna. »Es wäre mir lieber, er wäre mit uns gekommen.«
Obwohl ihre Worte etwas seltsam klangen angesichts der Tatsache, dass sie noch heute Morgen alleine hatte aufbrechen wollen und wiederum kurz davor ihr Messer gegen den Nahrak gezogen hatte, nickte Skar. »Das kann ich verstehen. Ich habe zwar immer noch nicht so richtig begriffen, warum er uns hilft. Aber wenn er nicht gewesen wäre...«
Er ließ den Rest seines Satzes unbeendet. Aber Esanna schien ihn auch so zu verstehen. »Es ist schon merkwürdig, dass die Nahrak gerade im richtigen Moment gekommen sind«, sagte sie leise. Der frische Wind riss ihre Worte auseinander, sodass sie nur bruchstückhaft an Skars Ohr drangen.
»Ja«, sagte er nach einer Weile. »Aber das ist nicht das Einzige, was merkwürdig ist.« Und mehr zu sich selbst murmelte er: »Ich habe immer noch nicht im Geringsten begriffen, was das alles soll.«
»Du meinst, dass Kama dir die Verantwortung für ganz Enwor aufhalsen will?«, fragte Esanna.
Wieder nickte Skar. »Ja. So ähnlich.«
»Und du verstehst auch nicht, wie ich da ins Bild passe?«
»Ja. Auch das.« Skar deutete nach vorne. »Sieh dir das an. Ausgerechnet jetzt, zum Abend hin, klart es so schnell auf, als hätte der Frarr mit seinem Höllenfeuer die Feuchtigkeit aus der Luft gebrannt.«
Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis die plötzliche Veränderung so weit fortgeschritten war, dass sie mehr als nur ein paar verwaschene Schemen in der Entfernung zu entdecken vermochten. Was Skar gestern nur erahnt hatte, was er nach all den Strapazen und frischen Eindrücken des Kampfes lediglich mit dem Instinkt des Kriegers wahrgenommen hatte, der ihn auf der Suche nach einem sicheren Ruheplatz mit geradezu verblüffender Präzision zur Höhle geführt hatte - dem wahrscheinlich einzigen sicheren Schutz in dieser Nacht vor den Naturgewalten und allen den anderen Dingen, die dort draußen vorgegangen waren -, das wurde nun Gewissheit: Sie befanden sich in einer vollkommen unwirtlichen Einöde. Die Selbstverständlichkeit dieser lebensverneinenden und menschenfeindlichen Gegend erschreckte ihn gleichermaßen wie sie ihn auch faszinierte. Sein Blick tastete über die schroffen und steilen Abhänge, die wohl kaum je ein Mensch erklommen hatte, und über das Graubraun der wenigen spärlich bewachsenen Felsen, auf denen hier und da einzelne verwaschene weiße Flecke von dem Schnee kündeten, der heute Nacht gefallen war und an den meisten Stellen mittlerweile schon längst wieder vom Sturm weggetragen worden war.
Das Erschreckendste aber waren relativ frisch aussehende Einbrüche nicht weit unter ihnen, die Gerölllawinen und Schneeabgänge nach sich gezogen hatten; mehrere beängstigend große und überraschend tiefe Senken, in die das Digger-Dorf mehrfach hineingepasst hätte und die irgendwie ... künstlich aussahen. Skar erinnerte sich daran, dass er Ähnliches bereits gesehen hatte, als er neben Roun zum Dorf der Digger geritten war. Es sah fast so aus, als ob sich der Berg selbst auflöste, als bräche er ein, als würde er immer weiter unterhöhlt, bis er schließlich irgendwann nachgeben und vollständig in sich zusammenfallen würde. »Das ist... unheimlich«, sagte Esanna fröstelnd. Sie wirkte mit einem Mal wieder wie ein kleines, hilfloses Mädchen und nicht wie die junge, selbstbewusste Frau, die soeben beschlossen hatte allen Widerständen zum Trotz ihre Familie zu suchen, um mit ihr einen Neuanfang zu wagen. Ihre Hand berührte wie von selbst Skars Arm, Schutz suchend und vielleicht in einem der wenigen Reflexe, die allen Lebewesen zu eigen ist, um sich des gegenseitigen Beistands zu versichern, wenn sie etwas über alle Maßen erschütterte. Die kurze und kaum spürbare Berührung tat Skar seltsam gut und zerriss den Bann des unglaublichen Schauspiels, gab ihm die Kraft sich von dem Wispern und Raunen um sich herum abzuwenden und eine bewusste Entscheidung zu treffen. »Wir sollten sehen, dass wir so schnell wie möglich von hier verschwinden«, sagte er leise. Es lag ihm auf der Zunge mehr zu sagen, von dem Grauen zu erzählen, das ihn beim Anblick der gigantischen Senken überkommen hatte, von der Vorstellung, dass sich die Khtaám-Höhle wie ein bösartiges Unkraut wuchernd immer weiter unter den Berg grub, ihm seine uralte Stabilität raubte und ihn hinabstürzen ließ, in die wirbelnde unfassbare Tiefe des Strudels, der sich unter ihm auftat, in den vielfachen Tod, der auch ihn und Esanna verschlingen wollte.
»Ja«, flüsterte Esanna, als habe sie Angst belauscht zu werden, »aber wohin?«
»Das dürfte nicht so schwer sein«, sagte Skar. Er deutete mit der Hand hinab in die schroffe Tiefe, die sich vor ihnen auftat. »Die Auswahl an Wegen ist eher zu mager als zu groß. Aber keine Sorge: So wie es uns Kama erklärt hat, müssen wir hier richtig sein.«
Das Brausen war noch immer zu hören und der frische Luftzug wieder zum Sturm angewachsen, der mit Esannas Haar spielte, als sie sich zu ihm umwandte, und sie blinzeln ließ, als sie ihn ansah. »Woher?«, fragte sie heiser. »Woher sind wir gestern gekommen?«
Skar zuckte mit den Schultern und deutete dann nach unten, in die Schlucht mit ihrem kärglichen Bewuchs aus verkrüppelten Bäumen und dürren Sträuchern, den unwirtlichen, durch Wind und Wasser abgeschliffenen Felsen und dem kaum sichtbaren Pfad, der sich seltsam unwirklich durch das unwegsame Gelände schlängelte, dicht vorbei an den Ausläufern einer Senke, die wie ein brutaler Fremdkörper in die ansonsten unberührte Landschaft schnitt.
»Von dort, soviel ich weiß.«
»Was heißt das: soviel du weißt?«, fragte Esanna verwirrt. »Das heißt, dass wir nicht auf dem Weg in dein Dorf sind und es deswegen auch nicht wichtig ist, den Weg dorthin zu kennen.«
»Für dich vielleicht nicht«, fauchte Esanna. »Aber für mich schon. Denn ich weiß immer noch nicht, ob es richtig ist, mit dir zu kommen.«
Skar blickte schweigend so weit in den Horizont hinein, wie er konnte. Das sonderbare, graugrüne Halblicht ließ nur die Dinge genau erkennen, die sich in unmittelbarer Nähe von ihnen befanden. Alles dahinter Liegende war verschwommen, große finstere Umrisse mit halb aufgelösten Konturen, unwirklich und drohend zugleich. Und auch der Regen, der jetzt fast unmerklich auf sie niederging, war sonderbar: fein wie sprühende Gischt und so warm, dass er seine Berührung kaum spürte, bis er bis auf die Haut durchnässt war. Zusammen mit dem unwirklichen graugrünen Licht gab es ihm fast das Gefühl sich unter Wasser zu befinden statt in den Bergen.
Schließlich zuckte Skar mit den Schultern. »Ich glaube, wir müssen dort lang«, sagte er und deutete irgendwo in das diffuse Nichts. »Und nun komm schon, bevor du Wurzeln schlägst.«
Esanna machte keine Anstalten ihm zu folgen, und als er sich zu ihr umdrehte, strich sie sich gerade eine Strähne ihres nass gewordenen Haars aus dem Gesicht und sah ihn nur schweigend an. Sie hatte sich nur wenige Armlängen von ihm entfernt gegen den Stamm eines alten, bereits abgestorbenen Baumes gelehnt, den nur noch die Gewohnheit an seinem Platz zu halten schien. Trotzdem konnte er ihr Gesicht nicht richtig erkennen. Es war nur ein heller Schemen in dem wogenden Etwas, in dem sich die Wirklichkeit aufzulösen begann.
»Ich weiß nicht, ob ich noch weitergehen kann«, sagte sie hilflos. »Meine Beine ... sie fühlen sich ... so taub an.« Skar nickte. Die Müdigkeit schlug wie eine lähmende Woge über ihm zusammen und er spürte, wie aus der Schwäche in seinem Magen so etwas wie Übelkeit wurde - offensichtlich war ihm die Mischung aus Beeren, Wurzeln und Pilzen, die sie vor ihrem Abmarsch gesammelt und verzehrt hatten, nicht besonders gut bekommen. »Das ist schon in Ordnung«, sagte er. »Wir werden hier rasten. Siehst du da drüben den Felsvorhang?«
Esanna folgte der Richtung, die seine ausgestreckte Hand vorgab, und nickte. »Du meinst...«
»Ich meine, wir sammeln jetzt an Blättern und Moos, was wir finden können, und richten uns unter dem Felsvorsprung eine Lagerstatt ein. In ein paar Stunden wird es sowieso dunkel und es ist fraglich, ob wir noch einmal einen so idealen Platz zum Rasten finden.«
»Sollten wir nicht... weitergehen?«, fragte Esanna zweifelnd. »Je weiter wir die Höhle hinter uns lassen, umso besser.«
»Das ist richtig«, gab Skar zu. »Aber wenn wir irgendwann vor Erschöpfung nicht mehr weiterkönnen ...«
»Du meinst, wenn ich irgendwann zusammenbreche«, unterbrach ihn Esanna bitter.
»Nein.« Skar schüttelte den Kopf und lächelte leicht. »Ich fürchte, du überschätzt meine Kräfte. Ich bin nicht weniger erschöpft als du - vielleicht sogar noch mehr. Außerdem liegen mir ein paar von Kamas Pilzen ganz schön schwer im Magen. Was ist, wenn ich plötzlich umkippe: Wirst du mich dann weiterschleppen können? Oder lässt du mich dann irgendwo liegen und gehst alleine weiter?«
In dem verwaschenen Etwas, als das er bei der Entfernung ihr Gesicht erkannte, glommen zwei Punkte auf, dort, wo die Augen saßen. »Das sagst du doch nur, um mich zu beruhigen.«
»Ich wünschte, es wäre so«, brummte Skar. »Und nun mach schon. Hilf mir dabei, ein Bett zu bauen. Oder willst du etwa auf dem nassen, kalten Boden schlafen?«
Statt einer Antwort stieß sich Esanna ab und kam zu ihm herüber. Unterwegs bückte sie sich bereits und sammelte so viel Laub auf, wie sie zu tragen vermochte. »Das können wir als Unterbau nehmen«, sagte sie. »Aber wir brauchen noch trockenes Laub, das wir als Oberschicht nehmen und auf das wir uns legen können.«
Während sie das sagte, glomm in ihren Augen ein Feuer, das er nicht zu deuten vermochte. »Ich sehe schon, du machst das nicht zum ersten Mal«, sagte er, während er zu dem Felsvorsprung herüberging und sorgsam nach Schlangen, Echsen oder anderem Getier Ausschau hielt.
»Wir Digger bleiben nicht allzu lange an einem Ort«, erklärte sie. »Wenn wir irgendwo wieder von vorne anfangen, müssen wir uns in den ersten Tagen mit dem Allernötigsten versorgen. Da bleibt nicht viel Zeit, um gleich genug Hütten für alle Dorfbewohner zu bauen.«
»Ein wanderndes Dorf also«, sagte Skar. Er raffte Moos und Blätter zusammen, die im Schutze des Felsvorsprungs so gut wie trocken geblieben waren, und häufte sie auf dem deutlich feuchteren Blätterwerk Esannas auf.
»Das immer weiter wandert - wenn es nicht mit Gewalt daran gehindert wird.« Esannas Stimme klang nun wieder so erstickt, dass Skar sie am liebsten in den Arm genommen hätte, um sie zu trösten. »Oh ... verdammt.«
»Was ist?«, fragte Skar alarmiert und sah zu ihr herüber. Es war ein seltsamer Anblick. Sie war sehr groß für eine junge Frau, fast so groß wie er selbst, aber von schlankem, fast zerbrechlich anmutendem Wuchs. Es war gleichzeitig eine Trauer und eine Erregung in ihr, ein Mischmasch verschiedener Gefühle, die er nicht zu deuten verstand.
»Es ist... nichts«, sagte sie. »Ich muss nur lernen, dass alles irgendwann ein Ende hat.« Sie lachte humorlos auf. »Mein Leben ist zu Ende, weißt du das? Es war in dem Moment zu Ende, als du gesagt hast, dass du Geräusche hörst - Geräusche, wie sie nur von heranschleichenden Quorrl stammen konnten. Und dann ...« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich verstehe nicht, warum dir mein Vater nicht glauben wollte. Vielleicht hätte es keinen Unterschied mehr gemacht. Vielleicht hätten uns die Quorrl dennoch überrannt. Aber ... wir hätten wenigstens eine Chance gehabt!«
Skar sagte nichts darauf. Auf vor Erschöpfung unsicheren Beinen ging er zu dem herüber, was ihr gemeinsames Lager sein sollte. Es gab keine Worte, die sie jetzt erreichen würden, nicht wirklich. Er hätte ihr etwas davon erzählen können, dass jedes Ende auch einen neuen Anfang in sich barg. Er hätte ihr von anderen Schicksalen berichten können, von Männern und Frauen, die nach verheerenden Schlägen wieder zu neuer Kraft gefunden hatten. Aber nichts von alldem war wirklich wahr, weil das alles nicht Esanna betraf und den Schmerz über einen Verlust, dessen ganze Bedeutung sie erst in ein paar Wochen, vielleicht sogar erst in ein paar Monaten erfassen würde - wenn sie selbst noch so lange lebte.
Er ließ sich auf dem Laub nieder, lehnte sich an den moosbewachsenen Felsen und starrte in den Regen hinaus. Nach all der Hetze, all dem Töten, all dem Verwirrenden, das ihn in einen alles vernichtenden Strudel hatte ziehen wollen, kam ihm dieser Augenblick fast wie eine Erlösung vor. Es war eine Gelöstheit in ihm, ein leichtes Schweben, so als würde er sich trennen und befreien von dem, was Kama eine Verantwortung genannt hatte und was für ihn nur eine Last war, die ihn zu erdrücken drohte.
Die Zeit hatte scheinbar aufgehört zu existieren. Er hätte später nicht mehr zu sagen vermocht, wie lange Esanna noch so vor ihm gestanden hatte, durchsichtig fast in ihrem Schmerz, so als wäre sie gar nicht mehr von dieser Welt. Er hätte nicht sagen können, wie lange sein Blick auf ihr geruht hatte, um dann wieder hinabzuwandern, die Anhöhe hinunter, die sie weiter und immer weiter führen würde, bis sie Mama, den Satai mit der Goldmaske, erreichten und dann das tun würden, was auch immer getan werden musste - vereint wieder mit Kama, der so sicher zu ihnen stoßen würde, wie er Esanna jetzt sah, als sie langsam auf ihn zukam, um sich neben ihm niederzulassen, Seite an Seite mit ihm und mit angewinkelten Knien.
»Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll«, sagte sie. Sie sah blass aus, gefangen in tiefer Trauer, aber auch auf eine erschreckende Weise erwachsen und selbstbewusst.
»Ich auch nicht«, sagte Skar leise. »Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, was mich erwartet.«
Esanna schwieg lange und tausende von Tropfen gingen währenddessen nieder, benetzten die Erde, ganz leise und fast vorsichtig prasselnd, mehr ein Nieseln als ein ausgewachsener Regen. »Ich bin so entsetzlich müde«, sagte sie. »Ich weiß«, sagte Skar, »es ist eine Müdigkeit, die viel tiefer geht als alles, was nur durch zu wenig Schlaf entstehen kann...«
Nach einer Zeit, die nur eine Ewigkeit sein konnte, wandte Esanna den Kopf zu ihm um und er hatte das Gefühl, als betrachte sie ihn so intensiv, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Wie alt bist du?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, murmelte Skar und dachte an den Wächter. Es war nicht so, dass er es jemals wirklich verstanden hatte. Er war der Wächter gewesen - oder der Erbe des Wächters; derjenige, der über Enwor wachen sollte und es doch nur sehr unvollkommen tat. Er war Ewigkeit und doch so sterblich, wie man nur sein konnte. Er hatte die Unsterblichkeit angeboten bekommen und sie ausgeschlagen - vielleicht hatte er sie gerade dadurch gewonnen.
»Das ist keine Antwort«, sagte Esanna sachte.
»Nein, das ist es nicht«, antwortete er. »Aber es ist die Wahrheit. Ich habe es vergessen ...«
»Wie meinst du das?«, fragte Esanna nach der nächsten Ewigkeit mit diesem ewigen Prasseln des leichten Regens, der keinen Anfang und kein Ende kannte.
»Ich weiß es nicht.« Er schloss die Augen und blendete die Welt damit aus; aber immer noch war da das Prasseln, Prasseln, Prasseln und der Körpergeruch Esannas, eine verwirrende Mischung aus Tod und Jugend, aus Blut, Schweiß und Jungfräulichkeit.
Er streckte die Hand nach ihr aus und fand die ihre.
»Wenn ich es nur wüsste«, murmelte er. »Ich habe mich verloren im Strudel der Zeit...«
Er hatte das Gefühl, dass die Welt ihm immer mehr entglitt. Es war nicht mehr als das Prasseln des Regens und dieses sanfte, ziehende Gefühl von Esannas Hand, das ihn vor dem völligen Abgleiten in eine dunkle Wirklichkeit bewahrte.
»Werden wir weiter zusammenbleiben?«, fragte Esanna und zu seiner Verblüffung klang keine Erwartung und keine Angst in ihrer Frage mit; es war einfach nur eine Frage. »Wie meinst du das?«, fragte er.
Es dauerte diesmal sehr lange, bis sie antwortete. »Ich habe niemanden mehr«, sagte sie. »Und ich weiß auch nicht mehr, was ich glauben soll. Ich weiß nicht, was Kama mir sagen wollte...«
»Vergiss Kama.«
»Ja. Nein. Er ist ein bemerkenswerter Mann. Und ich glaube, dass er davon überzeugt ist, was er sagt.«
»Das steht zu befürchten«, seufzte Skar. »Aber wenn es dir recht ist: Lass uns jetzt nicht von Kama sprechen.«
»Und doch müssen wir das«, sagte Esanna. »Es sind Dinge passiert...«
»Ja?«
»Es ist... als ob sich ein Abgrund vor uns eröffnet hätte, der die ganze Welt verschlingen wollte.«
Skars Nackenhaare stellten sich auf. »Der Schlund«, flüsterte er. »Er hat versucht uns zu verschlingen. Aber vielleicht hat er es ja auch irgendwie geschafft. Und vielleicht will er sich nun andere holen, mit unserer Hilfe ...«
»Ist dir nicht kalt?«, fragte sie unvermittelt. »Ohne Beinkleider ... du holst dir noch den Tod.«
»Ich habe mir schon den Tod geholt«, murmelte er.
Es änderte nichts an dem, was sie vorhatte. Seine Müdigkeit machte vagem Schrecken und einer kabbelnden Anspannung Platz, als sie ihre Hände weiter zu ihm schob und ihn langsam aber beharrlich zu sich herüberzog. Er wehrte sich nicht, er ließ es einfach geschehen, ohne die Augen zu öffnen, ohne etwas anderes zu hören als das stete Prasseln und das leise Rascheln von Stoff auf nackter Haut. Dann erst begriff er, was sie vorhatte: Sie schlang ihre langen Beine um die seinen. »Ich muss dich doch wärmen«, sagte sie. »Wir werden gleich einschlafen und bis morgen früh durchschlafen... ich kann nicht zulassen, dass du erfrierst.«
»Wir brauchen mehr Laub«, murmelte er. »Damit wir uns zudecken können.«
»Sicher«, sagte sie. »Aber vielleicht geht es auch anders.«
»Ich weiß nicht...« Seine Stimme glitt ab, als wollte sie ihm nicht mehr gehorchen und er begriff, dass er kurz davor stand einzudösen.
»Was weißt du nicht?«
»Wir ... wir sind verwundet worden. Sie ... sie haben uns überall erwischt.«
»Musst du jetzt gerade davon anfangen?«
»Ja. Vielleicht auch nicht. Aber ...«, Skar versuchte den Gedanken zu fassen, der ihm immer wieder beharrlich ausweichen wollte, »es stimmt etwas nicht.«
»Was stimmt nicht?«
»Wir hätten uns gar nicht mehr auf den Beinen halten dürfen. Ist es dir denn gar nicht aufgefallen?«
»Was denn?«
»Unsere Wunden heilen viel zu schnell. Hast du es nicht bei dir selbst bemerkt? Deine Stirnwunde hat sich schon fast zusammengezogen. Und sie sah bedrohlich aus. Normalerweise würde es Tage, wenn nicht Wochen dauern, bis sie sich auch nur wieder einigermaßen schlösse.«
»Das ist doch gut«, sagte Esanna und es klang wie das Schnurren einer Katze.
»Vielleicht ist es gut«, sagte Skar. »Vielleicht auch nicht. Weil es nicht... nicht menschlich ist.«
»Psst«, machte Esanna. »Red nicht solch einen Unsinn. Ich spüre doch, wie männlich du bist.«
»Ich sagte: menschlich.«
»Egal«, sagte Esanna und schmiegte sich noch enger an ihn. »Wir sollten jetzt nur eins: uns wärmen und schlafen. Um Kraft für das zu sammeln, was vor uns liegt.«
»Ja. Das ist... vernünftig.« Skar spürte, wie ihm trotz der Kälte der Schweiß ausbrach. Esannas Knie wanderte weiter seinen nackten Oberschenkel hoch. Etwas in ihm reagierte auf diese Berührung. Seine Hand wanderte zu ihr herüber, fanden zufällig eine Lücke in dem besudelten, eingerissenen Stoff - doch schon eine Sekunde später wünschte er sich es nicht getan zu haben. Esanna war nicht Coar oder eine der vielen anderen Frauen, die gefragt oder ungefragt in sein Leben gekommen waren.
»Wir sollten vorsichtig sein«, murmelte er, während seine Hand wie ein eigenständiges Wesen zurückglitt.
»Wieso?«, fragte Esanna. »Fürchtest du, dass wir verfolgt werden?«
»Alles ist möglich«, sagte er. Er fühlte sich mit einem Mal fast schuldig, so als würde er etwas Verbotenes tun.
»Was ist nur los mit dir, Skar?«, fragte Esanna. Sie klang gleichzeitig schläfrig, aber auch erregt, auf eine Art und Weise, wie Skar sie in einer anderen Situation vielleicht genossen hätte, jetzt aber als fast körperlich unangenehm empfand.
»Wir sollten jetzt schlafen«, brummte er. »Und Schlussfolgerungen erst dann ziehen, wenn wir wieder frisch und ausgeruht erwachen.«
Dann umfing er sie mit seinem Arm, nicht wie ein Liebhaber, sondern eher wie ein Bruder, der seine Schwester - oder seine Kampfgefährtin - wärmen will. »Lass uns morgen weiter reden.«
Esanna duldete seinen Arm nur wenige Sekunden lang. Dann drehte sie sich abrupt um; ohne von ihm wegzurücken, aber auf eine eindeutig enttäuschte Art und Weise, über die nachzudenken Skar sich verbot. Eng aneinander geklammert aber doch meilenweit entfernt schliefen sie ein.